Christian Stockhausen tunkt den Waschlappen in die Wanne ein, das Wasser ist babywarm. Er wringt den Lappen aus, beugt sich über das Bett und streicht dem Mann hinter dem rechten Ohr entlang, über das Gesicht zum linken. Heinz Piontek (Name geändert) kneift die Augen zusammen, so, als ob er in eine saure Zitrone gebissen hätte. Er mag das nicht. Das weiß auch Christian Stockhausen. Die beiden sind ein eingespieltes Team. "Saubacke”, sagt Stockhausen liebevoll zu ihm, und Piontek grinst. Er lag im Wachkoma, seit drei Jahren betreut ihn Stockhausen. Sprechen kann Piontek nicht. Aber Musik hören. Also schaltet Stockhausen das Radio in Zimmer E.29 ein, ein Schlager schallt ihnen entgegen. Den mag der 49-Jährige am liebsten. Manchmal auch Techno. Seinen Nachbarn im Zimmer nebenan stört das Geträller nicht, er schläft weiter. Stockhausen hebt die Arme des Bewohners, schrubbt die Achseln, den Bauch. Wechselt das Inkontinenzmaterial.
Er mag die Akkordarbeit nicht
Das ist die intensivste Zeit, die Altenpfleger Christian Stockhausen mit seinen Bewohnern hat, die reine Pflege, ohne Tablet, ohne Computer zwischen ihnen, ohne Akte. Nur er und Heinz Piontek. Eigentlich will er das nicht mehr machen, die Arbeit am Bett, am Bewohner. Er will in der Pflege weiterkommen. Seit zwölf Jahren arbeitet Christian Stockhausen in der Pflege, seit er mit 17 das erste Mal als Praktikant hier im St.-Joseph-Altenheim in Solingen an die Tür klopfte. Er mag die Akkordarbeit nicht. Die Arbeit, die schlecht für den Rücken sei. Wenn es nach ihm ginge, würde er fast alles digitalisieren.
Dokumentation läuft digital, doch manches sei fragwürdig
Alles, was über den Computer läuft, sei gut. "Wer schreibt, der bleibt”, sagt Christian Stockhausen, 29, Dreitagebart, Hobby-Handballer und Raucher. Schreiben muss er viel, in seinem Büro, das gleich neben Pionteks Zimmer liegt: die Dokumentation in der Bewohnerakte, für Ärztinnen und Ärzte bei einer Visite, Dienstpläne. Genau da will Stockhausen hin, an den Computer. Er will aufsteigen. Seit kurzem ist er Wohnbereichsleiter. Eine Zwischenstation, wie er sagt. Sein Ziel: die Pflegedienstleitung übernehmen.
Seit sechs Jahren pflegt Stockhausen die Daten in eine elektronische Patientenakte ein. Früher musste er mit einem Scanner einen Barcode für jeden Pflegeschritt abtasten, wenn er seine Patienten gewaschen, ihnen Nahrung angereicht, ihre Bettlaken gewechselt hat. Wenn er morgens um sieben die Plastikbecher mit den Tabletten ausgab, die aussehen wie bunte Schnapsgläser. Heute baumelt an Stockhausens Schlüsselband ein Stift, den er wie einen USB-Stick an den stationären Computer steckt und damit automatisch seine digitale Signatur setzt. Klick. Klick. Klick. All die Pflegeschritte hakt er ab. Setzt einen Mausklick, dafür dass er sagt: Guten Morgen, Herr Piontek. Gesicht waschen, klick. Frühstück. Klick. "All das sollte eigentlich selbstverständlich sein”, sagt Stockhausen. "Dafür bräuchte es keine extra Dokumentation.” Manches findet er fragwürdig. Er versteht nicht, warum er bei einer 95-Jährigen, die im Sterben liege, aufzeichnen soll, ob sie 1500 oder 1300 Kalorien zu sich nehme.
Ob Digitalisierung hilft, Mitarbeitende in der Altenpflege zu entlasten?
Christian Stockhausens Beruf hat sich gewandelt. Das Image auch. Früher sagten seine Mitschüler: Pfleger willst du werden? Anderen Leuten den Arsch abwischen? Heute sagen sie zwar immer noch: Ich könnte das nicht. Aber sie sagen auch: Respekt! Für das, was er leistet. Obwohl er den Wohnbereich leitet, muss er immer wieder einspringen. Aushelfen, wenn Kollegen sich kurzfristig krankmelden.
In Deutschland arbeiteten laut Statistischem Bundesamt 2015 gut eine Millionen Pfleger in stationären oder ambulanten Diensten — und versorgten 2,9 Millionen Menschen. Tendenz steigend. Ob Digitalisierung in der Pflege hilft, den Pflegerinnen und Pflegern belastende Arbeit abzunehmen, ist umstritten. Die DAA-Stiftung Bildung und Beruf hat 2017 in ihrer Studie "Digitalisierung und Technisierung der Pflege in Deutschland” die Frage gestellt: Führt der Einsatz von Technik zu einer Arbeitsverdichtung oder zu mehr Freiräumen für Soziales? Und: Verändert sich dadurch die Arbeit?
Das Fazit: Digitalisierung habe grundsätzlich das Potenzial, Pfleger zu entlasten. Vor allem körperlich, wenn es darum gehe, durch intelligente Robotik Heben und Tragen von Patienten zu vereinfachen, keine Wasserkästen mehr zu schleppen oder weniger Wege zu laufen, etwa mit Hilfe von Transportrobotern. Aber die Zeit, die Pfleger einsparten, würde mit neuen Aufgaben kompensiert.
Neue Kompetenzen müssen vermittelt, Ängste abgebaut werden
Weder in der Ausbildung noch im Studium würden jedoch "pflegeorientierte Technikkompetenzen” vermittelt. Das kritisiert auch Sabine Depew, Diözesan-Caritasdirektorin in Essen. Es gehe nicht nur um technische oder ethische Fragen. "Digitalisierung heißt auch: Unsere Arbeit ändert sich. Hierarchien werden flacher, Arbeit beschleunigt sich, muss anders organisiert werden. Dazu gehört auch, Mitarbeitende zu schulen.”
"Ich bin pfiffig”, sagt Christian Stockhausen in seinem Büro in Solingen. Er hat sich schnell eingefuchst in die elektronische Patientenakte, sich mit der Technik auseinanderzusetzen gehöre für ihn zum Job dazu. Auch wenn sein Arbeitgeber Schulungen gibt. Sein Chef David Geraedts sagt, dass andere Mitarbeiter Ängste hätten, Ängste vor der Digitalisierung oder etwas falsch zu machen. Aber eigentlich könne man da nichts falsch machen. Geraedts findet, dass Tablets schon schick wären. Auch, um während der Visite oder Pflege Fotos in die Dokumentation einzuarbeiten.
Wo können die digitalen Hilfsmittel bereits heute von Nutzen sein?
Doch Christian Stockhausen zweifelt: "Mit dem Tablet am Bewohner zu arbeiten, funktioniert nicht, weil das die intensivste Zeit der Betreuung ist, hier möchte und muss ich meine Aufmerksamkeit auf den Bewohner richten und kann nicht nebenbei auf dem Tablet tippen.” Helfen würde das Tablet Stockhausen wohl auch nicht, wenn er Überstunden schieben oder als Aushilfe einspringen muss, das Mittagessen auszuteilen, wenn er die Socken von Heinz Piontek in den einen Wäschekorb, die Bettwäsche in den anderen sortieren muss.
Bald soll ihm die Digitalisierung bei der Kommunikation mit Ärztinnen, Physiotherapeuten oder Krankenhäusern helfen. Sein Altenheim ist Teil des Projektes "ePflegebericht" des Solinger Ärztenetzwerks "Solimed”: Mediziner und Pfleger in Solingen sammeln Krankendaten zentral, damit sie Krankheitszusammenhänge besser erkennen und therapieren können – wenn die Patienten das wollen. Wenn es gut läuft, könnte Stockhausen noch dieses Jahr mit den Ärzten per Mail kommunizieren. Die könnten ihm dann Verordnungen direkt auf den Bildschirm schicken. Im Moment trudeln die noch als Fax ein.
Eine nachhaltige Digitalstrategie für die Soziale Arbeit 4.0. fehlt noch
Helmut Kreidenweis ist Professor an der Universität Eichstätt-Ingolstadt und Experte für Digitalisierung sozialer Dienstleistungen. Er kritisiert in einem Interview, dass noch so viel Papier unterwegs sei, dass die Politik die Finanzierung digitaler Technik im sozialen Bereich verschlafen habe. Im Sommer 2018 hat Bundesgesundheitsminister Jens Spahn zwar in einem Sofortprogramm zugesagt, dass er einmalig die Anschaffung digitaler Ausrüstung mit 40 Prozent unterstützt. "Das ist aber ein Tropfen auf dem heißen Stein”, sagt Sabine Depew, die Diözesan-Caritasdirektorin in Essen. "Ein nachhaltiges Konzept steht nicht dahinter. Wir brauchen eine Digitalstrategie. Nicht für jede Einrichtung, aber für die Arbeitsfelder: Alten-, Krankenpflege, Erziehung.”
Nordrhein-Westfalen fördert Innovationslabore für technologie- und wissensbasierte Start-ups. Depew wünscht sich eine Förderung solcher Labore auch in der Sozialwirtschaft. Und eine Anschubfinanzierung: ähnlich dem Digitalpaket Schule, mit dem Bund und Länder die digitale Ausstattung der Schulen verbessern wollen.
"Altenpflege wird eine menschliche Dienstleistung bleiben. Aber die Prozesse darum werden voll digitalisiert.”
Auch wenn in Altenheimen mal intelligente Roboter arbeiten werden, wenn Christian Stockhausen die Wäsche von Heinz Piontek nicht mehr selbst sortieren muss, eines wird bleiben, glaubt Helmut Kreidenweis. In einem Interview sagt er: "Altenpflege wird eine menschliche Dienstleistung bleiben. Aber die Prozesse darum werden voll digitalisiert.” Also wird Christian Stockhausen weiterhin in Zimmer E.29 eintreten, wird Heinz Pionteks geblümte Bettdecke zurückschlagen, auf das linke Bein klopfen. Und Piontek weiß, was kommt, er winkelt das Bein an. Stockhausen drückt auf die Tube, fettet seine Hände mit Babyöl und reibt Pionteks Wade ein, knetet seinen Fuß durch, so lange, bis Piontek grinst und Christian Stockhausen ihn Grinsebacke nennt.