Es ist kurz vor 17 Uhr und Susi muss mal. Eigentlich würde sich Christine Wermeling jetzt Susi schnappen, sie anleinen und mit dem Fahrstuhl die zwei Stockwerke nach unten fahren. Wermeling, 55, mit grauem Pixieschnitt, ist keine ängstliche Frau, aber wenn es dunkel wird, geht sie nicht hinaus. Nicht mehr, nicht allein. Sie ist fast blind und mag ihren Gehstock nicht besonders. Obwohl das Leder weich in ihre Hand drückt, fühlt sie sich unwohl damit. Überall sind Stufen, Treppen, Stolperfallen, die sie nicht sieht. Seit Jahren plagen sie der graue und der grüne Star, zwei Augenerkrankungen. Das rechte Auge ist komplett blind, milchig ruht es unter ihrer Rahmenbrille. Das linke Auge zeigt ihr noch zwanzig Prozent ihrer Welt: eine Dreizimmerwohnung mitten in Emsdetten, darin ein Zweisitzer-Sofa, auf dem sich Wollknäuel sammeln, nebenan ihr Computerzimmer, in dem ein neuer 27-Zoll-Bildschirm steht, ihr Flur, grün gestreift, von der Wand blicken sie und ihr Ehemann Marco aus Fotorahmen hinab. Der muss jetzt mit Susi raus, findet Wermeling. Sie zeigt auf ihn, klopft dann mit der flachen Hand zweimal auf ihren Oberschenkel. Das Zeichen für Hund.
Lernen, mit Computer, Tablet und Handy umzugehen
Wermeling ist von Geburt an taub, ihr Mann auch. Wollen sie sich etwas sagen, benutzen sie Gebärden. Christine Wermeling sagt aber nicht: Ich freue mich, dass du da bist. Sie sagt: Ich froh du da. Sie kann von den Lippen lesen, einfache Wörter wie "warum" oder "wo", Wörter mit mehr als drei Silben fallen ihr schwer. Aber sie spricht, obwohl sie die Wörter nie gehört hat. Ein wenig klingt sie wie nach einer Zahn-OP, wenn der Wattebausch noch in der Backe steckt. Irgendwann wird sie komplett erblinden.
Wermeling will sich deswegen aber nicht zu Hause verschließen, sie will selbstständig leben. Dafür muss sie lernen, mit ihrem Computer, ihrem Tablet, ihrem Handy umzugehen.
Blitzlicht statt Vibrationsalarm oder Klingelton
Ein weiß umhülltes Samsung, auf der Rückseite klebt ein Katzengesicht, an dessen Nase ein Metallring befestigt ist. Sie hat eine Fußball-App geladen, einen Ticker, der ihr Spielergebnisse anzeigt. Sie mag Fußball, im Stadion war sie trotzdem noch nie. An den Holztüren ihrer Wohnung kleben die Parole "Mia san mia" und das Wappen des FC Bayern München. Wenn die Bayern ein Tor schießen, blitzt ihr Handy auf. Es blitzt auch, wenn Videoanrufe eingehen, wenn ihr Freunde auf Whatsapp Nachrichten schicken, dass sie vorbeikommen wollen. Wenn ihre Chorgruppe Proben ausmacht. Intuitiv kreist ihr Zeigefinger über dem Display, tippt auf die App. Wenn sie den Messenger öffnet, taucht eine überdimensionale Schrift auf dem Bildschirm auf, groß wie eine Fingerkuppe. Der Druck auf ihren Augen wird größer, irgendwann werden auch die 20 Prozent Sehkraft, die ihr noch bleiben, erlöschen.
Aufgewachsen im Heim
Christine Wermeling mag es, Menschen zu treffen, dahin zu gehen, wo sie sich willkommen fühlt. Vielleicht, weil sie eine richtige Familie nie hatte. Ihre Mutter hat Wermeling nie kennengelernt. Sie sagt: Ich Baby im Pflegeheim. Dabei wiegt sie hin und her, als ob sie selbst ein Baby im Arm hätte. Wermeling wuchs in Heimen auf, in Münster, Düren, Dülmen. Manchmal kommt ihr Vater sie dort besuchen. Irgendwann hört er damit auf. Christine weiß nicht, warum. Wo bleibt mein Papi, fragt sie. All die anderen Kinder fahren am Wochenende nach Hause oder zu ihren Pflegefamilien. Christine möchte auch eine Familie. Irgendwann kommt nur ein Brief vom Gericht. Ihr Vater: gestorben. Sie bekomme jetzt Waisenrente. Ein Unfall, ein Unglück? Sie weiß es nicht. Was sie weiß: Er hat im Bergbau gearbeitet.
Auch heute als Erwachsene versteht sie die Briefe nicht, die Behörden ihr schicken. Sie hat eine rechtliche Betreuerin, die sich um alles, was mit Geld zu tun hat, kümmert. Miete, Rente, Blindengeld, Gehörlosengeld. Wenn die Waschmaschine kaputt wäre und sie eine neue bräuchte. Alles dauert lange. Und die Betreuerin sei so langsam, sagt Wermeling. Sie sehe die Betreuerin vielleicht einmal im Monat, manchmal schreibe sie ihr aber eine SMS.
Digitalisierung ersetzt nicht den persönlichen Kontakt
Jeden Tag dagegen klingelt Hjördis Engel von der Caritas bei Christine Wermeling. Wenn sie kommt, schlägt hinter der Holztür Susi an. Sie kläfft, es poltert, Schritte. Dann hört Engel die Frauenstimme: "Aus!" Der Malteser-Mischling verstummt, und wenn die Tür aufschwingt, kümmert sich Hjördis Engel um Christine Wermeling, hilft ihr beim Einkauf, begleitet sie zum Arzt oder zeigt ihr, wie sie den Computer bedient, wie sie ihren Chat öffnet oder das Spiel startet. Engel sagt, die Digitalisierung ersetze für Christine keine persönlichen Kontakte, aber sie helfe ihr, in Kontakt mit Freunden zu bleiben. Wermeling nimmt auf dem Sofa Platz, vor ihr ein Haufen Wollknäuel. Sie strickt gern, früher hat sie als Näherin gearbeitet, erst in Steinfurt, dann in Emsdetten. "Ich habe gelernt zu fühlen", sagt Wermeling. Sie streicht über den wolligen Pullover, Masche für Masche gleiten die Stricknadeln durch ihre Hände. Rot-blau gestreift. Bayernfarben. Stumm läuft der Fernseher vor ihr, aber Wermeling geht lieber ins Kino in Emsdetten, ein inklusives, das Filme für blinde und taube Menschen zeigt. "Ich mag Spannung und Liebe, manchmal auch Horrorfilme. Aber nichts mit Blut! Sonst kann ich nicht schlafen", sagt Wermeling.
Dann blitzt wieder ihr Handy. Eine Kollegin wünscht Glück für den Chorauftritt heute, zu dem sie Hjördis Engel begleitet. Kalte Luft kitzelt die Nase, draußen ist es feucht, Kirchenglocken läuten. Christine Wermeling steigt aus Engels Auto und tritt aus dem Wind hinein in die Kirche. Sie schiebt den Gehstock einen Gang entlang, der von Lichtern gesäumt ist. Die Hartplastikkugel rollt über die Fliesen. Dann tritt sie vor den Altar, fügt sich in die Reihen schwarz gekleideter Menschen ein - der Gebärdenchor. Hier ist Wermeling eine von vielen. In der ersten Reihe fokussiert sie die Dirigentin, die den Takt vorgibt.
Was, wenn die Augen ihren Dienst einstellen?
Sie bewegt sich zeitverzögert. Drehen die anderen Sängerinnen nach links, dreht sie ihren Körper manchmal nach rechts. Kein Ton dringt aus den Mündern der Sänger, manchmal ein Räuspern oder Stöhnen, nur ihre Kleider rascheln. Der Chor singt nicht, er gebärdet die Lieder. Von draußen dringt Kinderlachen herein.
Seit mehr als vier Jahren gebärdet Wermeling in diesem Chor. Dann greifen sie zwei Arme von rechts und links und bugsieren sie erst auf die gepolsterte Kirchenbank, dann nach draußen. Die Kirche hat auf dem Vorplatz aus Kerzen einen Stern gelegt, um die Lichter herum warten Zuschauer, in dicke Jacken gepackt, dicht gedrängt. Einige spannen Regenschirme auf. Nieselregen setzt ein. Die Kerzen flackern im Wind. Aber die Dirigentin drückt den Stecker des Verstärkers in die Kabeltrommel, drückt auf Play. Und dann schallt Gitarrenmusik über den Kirchenvorplatz, die Band Sportfreunde Stiller fängt an zu singen:
Ist meine Hand eine Faust, machst Du sie wieder auf
und legst die Deine in meine.
Christine Wermelings Bewegungen werden flüssiger; wie wenn ein Maler, der mit dem Pinsel über eine Leinwand streicht, hier und dort ein paar Farbtupfer setzt. Wenn sie ein Radio oder diese Boxen richtig laut aufdrehen, spürt sie die Vibration der Musik, wie beim Refrain des Liedes:
Applaus, Applaus
Für Deine Worte.
Mein Herz geht auf,
Wenn Du lachst!
Christine Wermeling streckt die Arme hoch, 15 Händepaare tun es ihr nach. Applaus. Applaus. Das ist das Zeichen in der Gebärdensprache. Das ist ihre Art, am Leben teilzuhaben, zu kommunizieren. Analog. Aber sie braucht ihr Handy und ihren Computer, sie braucht digitale und soziale Medien, um sich für Auftritte wie diesen zu verabreden. Um ihrer Betreuerin und ihren Freunden mal eine SMS zu schreiben. Wenn sie komplett erblindet, wird sie das so wohl nicht mehr können. Wie sie dann nach außen kommuniziert, weiß Christine Wermeling nicht. Ob ihr Handy und Tablet dabei helfen, auch nicht.
Forscher haben Tablets für Taubblinde entwickelt, aber die Produktion in Serie ist im Moment noch zu teuer. Und Wermeling müsste dafür Blindenschrift lernen. Bis dahin freut sich darauf, zu proben, zu singen - und auf ihre Schwägerin. Die ist schwanger. Sie freut sich darauf, noch das Baby zu sehen und es zu knuddeln und im Wagen als Tante hin- und herzuschieben. Als eine Familie, die sie sich immer gewünscht hat.
Autor: Katahrina Eslner