Interview
Frau Vogeley, seit 2019 nutzen Sie in der Familienberatung in Münster den Messenger "Wire". Wie kam es dazu?
Wir hatten den Eindruck, dass es sehr viele Klient:innen gibt, die wir nicht erreichen: Leute mit Schwellenängsten, die nicht mal eben in eine Beratungsstelle gehen und sich Hilfe holen. Wir fragten uns: Wie können wir da sein, wo die Leute sind? Wir müssen auch im Internet auffindbar sein. Nicht gut ist es, wenn Homepages so aufgebaut sind, dass sie die Struktur unserer Dienste zeigen, aber diese nicht in den Suchergebnissen auftauchen, wenn jemand schreibt: "Mein Kind schreit immer" oder "Was mache ich, wenn mein Kind mich schlägt?". Es gab die Idee, dass jede:r ein Handy in der Hosentasche hat und mit Whatsapp umgehen kann. Wire ist ähnlich, aber datenschutzkonform.
Ist es nicht auch eine Folge der Digitalisierung, wenn Menschen es nicht mehr schaffen, in eine Beratungsstelle zu gehen?
Nein, das würde ich nicht so sagen, denn wir haben nicht weniger Fallzahlen, auch nicht durch Corona. Jede:r soll den Kanal wählen, den er oder sie bevorzugt, quasi als Eingangstor. Als Corona kam, hatten wir alles da, konnten Video- und Telefonberatung anbieten. Im ersten Lockdown sagten noch viele Klient:innen: "Wir brauchen keinen Video- oder Telefontermin, das ist ja in sechs Wochen wieder vorbei." Das war es aber nicht, und dann waren alle froh über das Angebot. Schon früher haben wir getrennt lebenden Eltern gesagt: "Sie haben auch durch Videotelefonie die Möglichkeit, mehr am Leben Ihrer kleinen Kinder teilzuhaben."
Manche sehen die digitalen Kanäle nur als Weg zur Face-to-Face-Beratung. Sie haben dem etwa beim Caritas-Kongress entgegnet, dass andere sagen: "Wenn ich schreibe, bin ich mir näher."
Gerade Jugendliche fühlen sich beim Schreiben wohler. Sie sagen, so können sie ehrlicher sein und sind näher bei ihren Gefühlen. Es gibt aber auch Themen, bei denen ich sage: "Es ist besser, wenn Sie kommen." Da mache ich von meiner Expertise Gebrauch.
Zum Beispiel? Wann ist es besser, wenn die Leute kommen?
Eine Jugendliche sagte mir, dass sie mehrere Stunden am Tag tagträumt, sich in Fantasiewelten begibt, in denen sie mehr Erfolgserlebnisse hat und mehr Freude empfindet als in ihrem Alltag. Da sie das Thema hatte: "Ich kann gar keine Freude in der Welt haben und ich finde keine Freunde, keinen richtigen Kontakt", habe ich gesagt: Ich will dich sehen! Und wir können zusätzlich schreiben.
Sind es viele Klient:innen, die die digitalen Wege bevorzugen?
Wir haben in der Online-Beratung nicht so viele Fälle wie in der Face-to-Face-Beratung, das Verhältnis liegt bei 30 zu 70. Die Kombination der Kanäle, also hybrides Arbeiten, ist ungeheuer nützlich. Man kann sich den Kanal für die Situation aussuchen. Gerade Jugendliche und manchmal auch Eltern sagen: "Ich will nicht, dass man mich kennt." Blickkontakt ist für manche schwierig. Sie wollen schreiben, wenn sie Zeit haben, weil unsere Öffnungszeiten nicht immer passen. Jugendliche sagen, dass sie sich bewusst fürs anonyme Schreiben entschieden haben und dass sie dann schreiben können, wenn es gut für sie ist. Sie wissen, dass sie innerhalb von 48 Stunden eine Antwort von mir kriegen und dass sie auch kommen können. Einer hat mal gesagt: "Es ist ein cooles Gefühl, dass ich weiß, dass es Sie wirklich gibt hier in der Stadt."
Könnte es bedeuten, dass man auf diese Weise vor sich selbst nicht zugeben muss, dass man Beratung in Anspruch nimmt?
Nicht unbedingt. Ich habe mit einer jungen Frau über zwei Jahre geschrieben in einer krassen Krise, sie ist irgendwann ins Krankenhaus gekommen. Sie bat ihre Mutter, mir Bescheid zu sagen - über die Online-Beratung, damit ich mir keine Sorgen mache.
Stehen Sie auch mit Kindern per Messenger in Kontakt?
Ja, wenn jemand schreiben und sich einen Account anlegen kann. Wir helfen auch dabei. Durch das Gesetz (§ 8 SGB VIII) können wir erste Beratungen auch ohne Wissen der Eltern machen. Das ist auch wichtig, denn es kann sein, dass Gefahr von ihnen ausgeht. Aber der häufigere Fall ist, dass die Eltern beim Erstgespräch dabei sind. Dann hole ich mir die Erlaubnis und biete an: "Du kannst mir auch zusätzlich über Messenger schreiben."
1. S. auch neue caritas Heft 15/2019, S. 21 ff. sowie Heft 9/2021, S. 21 ff.
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