Diesseits und jenseits der Rationierung
Wir sind mittendrin in der Zeitenwende - wobei sich der hier verwendete Begriff weniger auf die veränderte sicherheitspolitische Lage bezieht. Vor unseren Augen kippen ganze Arbeitsmärkte und Handlungsfelder des Sozial- und Gesundheitswesens. Und das nicht nur, aber vor allem aufgrund des seit langem beschworenen, zuweilen auch einseitig instrumentalisierten demografischen Wandels. Dessen Wucht und die mit ihm verbundenen fundamentalen Erschütterungen können gar nicht unterschätzt werden. Und sie werden uns in den kommenden Jahren in Atem halten beziehungsweise uns diesen nehmen. Aber die Unterschätzung findet tagtäglich immer noch statt, vor allem bei denen, die heute an den Schaltstellen der Entscheidungen in Politik, Verbänden und Unternehmen sitzen und wirken. Von ihnen gehören viele zu der große Gruppe der Babyboomer, also den vielen, die zwischen Mitte der 1950er- bis Ende der 1960er-Jahre das Licht der Welt erblickt haben. Von den Menschen dieser Kohorten gab es immer "zu viele" - und jeder Jahrgang war mit deutlich über einer Million Geburten stark besetzt. Sie sind gemeinsam auf der Zeitachse groß geworden - mit viel zu wenigen Kindergärten, überfüllten Grund- und weiterführenden Schulen, einem unter der "Last" des zahlreich vorhandenen "Humankapitals" schwer in den Seilen hängenden Ausbildungs- und Hochschulsystems. Nicht umsonst entstanden Anfang der 1980er-Jahre gerade in kirchlicher beziehungsweise konfessionell gebundener Trägerschaft zahlreiche Initiativen und Träger von Aktivitäten gegen die hohe Jugendarbeitslosigkeit. In den 80er- und 90er-Jahren haben viele später erfolgreiche Akademiker ihren berufsbiografischen Einstieg über eine der unzähligen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) der alten Bundesanstalt für Arbeit geschafft.
Heute schwer vorstellbar: eine "Ärzteschwemme"
Zuweilen ist es hilfreich, zurückzublicken: Noch Anfang der 1990er-Jahre gab es das heute schwer vorstellbare Problem einer "Ärzteschwemme" - auf jede freie Stelle für eine Facharztweiterbildung gab es waschkörbeweise Bewerbungen und es wurden sogar Umschulungsmaßnahmen für Mediziner finanziert. An die oft zitierten pädagogisch oder wirtschaftswissenschaftlich hoch qualifizierten Taxifahrer oder Existenzgründer in der Gastronomie werden sich auch noch viele erinnern. Es waren lange Jahre des Überflusses, und zahlreiche Einrichtungen des Sozial- und Gesundheitswesens differenzierten sich aus bei den damaligen Bewältigungsversuchen der Schattenseite von "zu vielen", also der Arbeitslosigkeit und den damit verbundenen individuellen und gesellschaftlichen Folgen. Und in den Unternehmen ging es lange darum, die "Älteren" so schnell und so früh wie möglich und unter Inanspruchnahme staatlicher Hilfen in den Vorruhestand zu schicken. Es gab ja genug Ersatz an jüngeren Arbeitskräften.
Diese Zeiten sind definitiv vorbei - was auch kein Wunder ist, wenn man bedenkt, dass die neuen Jahrgänge teilweise nur noch zur Hälfte oder weniger stark besetzt waren als zu den Babyboomer-Zeiten. Im Jahr 2011 wurde mit 663.000 Neugeborenen die niedrigste Geburtenzahl seit 1946 registriert. Im vergangenen Jahr waren es knapp 739.000. Wenn der fundamentale Satz, dass wir alle "Gefangene unserer Kohorten" sind, stimmt, dann erleben wir jetzt das Scharfstellen dessen, was sich seit langem unabweisbar abgezeichnet hat: Die Systeme rutschen von einem "zu viel" in ein "zu wenig" - und mit Blick auf das Sozial- und Gesundheitswesen wird diese Problematik gleichsam "gedoppelt" durch ein (besonders) "zu wenig" Personal in Verbindung mit einem (kontinuierlich steigenden) "immer mehr" an Kunden, wie man das neudeutsch zu nennen pflegt.
Sieben Millionen weniger Arbeitskräfte
Die Bundesstatistiker bringen das, was auf uns zukommen wird, in ihrer berufsbedingt trockenen Art so zum Ausdruck: "Die Generation der Babyboomer spielt im Zusammenhang mit der Entwicklung des Arbeitskräfteangebots in Deutschland eine große Rolle. In den nächsten 15 Jahren werden die zahlenmäßig stärksten Jahrgänge, geboren zwischen 1957 und 1969, in den Ruhestand gehen. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes (Destatis) aus dem Mikrozensus 2021 werden 12,9 Millionen Erwerbspersonen bis 2036 das Renteneintrittsalter überschritten haben. Dies entspricht knapp 30 Prozent der dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehenden Erwerbspersonen, bezogen auf das Berichtsjahr 2021."1
Wenn sich ansonsten nichts verändern würde, verlören wir unter Berücksichtigung der kleineren nachwachsenden Generationen in den kommenden 15 Jahren mehr als sieben Millionen Arbeitskräfte in Deutschland. Selbst steigende Erwerbsquoten der Älteren - das wäre übrigens die wichtigste Stellschraube -wie auch der Frauen sowie eine kontinuierlich hohe Zuwanderung würden diese Lücke nur teilweise schließen können. Zugleich erhöhen manche dieser Maßnahmen zur Mangelreduzierung die Bedarfe an Leistungen des Sozial- und Gesundheitswesens. Man denke hier an die gewaltigen integrationspolitischen und vor allem kommunal zu bewältigenden Aufgaben, die sich ergeben, wenn jedes Jahr mehrere Hunderttausend Menschen aus immer ferneren Ländern nach Deutschland zuwandern müssen. Wohnraumversorgung, Kitas und Schulen, Sprach- und Integrationskurse.
Schlechte Karten im Kampf um junge Arbeitskräfte
Zugleich sind die Einrichtungen und Dienste des Sozial- und Gesundheitswesens in den vor uns liegenden Jahren mit einer multiplen demografischen Herausforderung konfrontiert: Zum einen sind sie selbst Gefangene der (noch) stärksten Kohorten in ihren Belegschaften. So werden viele Fachkräfte als Babyboomer genau zu denen gehören, die demnächst altersbedingt ausscheiden - und nicht selten sogar aufgrund der Tätigkeitsprofile früher als in anderen Branchen. Gleichzeitig werden sie im sich verschärfenden Kampf um das knapper werdende Gut der Auszubildenden und der jüngeren Arbeitskräfte das Nachsehen haben. Der Grund ist, dass die Spielräume der "normalen" Unternehmen, auf den Mangel mit entsprechenden Preissignalen reagieren zu können, erheblich größer sind als in der Welt der Sozialunternehmen mit ihren überwiegend administrierten Preisen und den Sachzwängen haushälterisch vorgegebener Budgets. Hinzu kommt ein qualitativ hochproblematischer Demografie-Effekt: Es sind vor allem gut ausgebildete und mit langjährigem Erfahrungswissen ausgestattete Fachkräfte, die nun in die Rente wechseln werden. Es müssen nicht nur Köpfe ersetzt und in manchen Bereichen sogar zusätzliche Arbeitskräfte aufgrund ausgeweiteter Leistungen gewonnen werden, sondern die Fachlichkeit und die ihr zugeschriebene Wirksamkeit können nur mit entsprechend qualifizierten Kräften gesichert werden.
Ältere Arbeitskräfte durch individualisierte Bedingungen halten
Unabhängig von der Tatsache, dass an vielen Stellschrauben gleichzeitig gedreht werden muss, soll hier auf eine Herausforderung hingewiesen werden, die sich in allen Branchen stellt: Man muss die „Silver Workers“, also die lebensälteren Beschäftigten, so lange wie nur möglich in den Diensten und Einrichtungen halten. Wenn die aktuell wieder ausgebrochene Diskussion über eine „Viertagewoche“ Sinn macht, dann mit Blick auf die rentennahen Jahrgänge. Wenn überhaupt, wird man einen Halteeffekt nur durch intelligente – und das meint hochgradig individualisierte – Arbeitszeit- und Gratifikationsmodelle erreichen können. Hier liegt das kurzfristig größte Potenzial, das aber rechtzeitig erschlossen werden muss.
Damit wird man aber den Übergang in die Welt des sich immer stärker konturierenden Mangels nur partiell abfedern können. Das wird nur gelingen, wenn man gleichzeitig die Bedingungen des Arbeitens erleichtert, statt durch immer mehr Bürokratie und Rechtsvorschriften die eigentliche Arbeit zu erschweren.
Man wird um eine offene und idealerweise transparente, systemübergreifende Diskussion über das Hauptinstrument in einer Mangelökonomie nicht herumkommen: Rationierung in den Diensten und Einrichtungen selbst, aber vor allem mit Blick auf die Organisation der Versorgungaufgaben, die sich in der Sozial- und Gesundheitswirtschaft stellen. Der Blick auf die aktuell schon heiß laufenden Fronten des an Ausmaß und Tiefe gewinnenden Mangels – also die Langzeitpflege, die Krankenhäuser, die frühkindliche Bildung und Betreuung, die anstehende Ausweitung des Ganztags auf den (Grund-)Schulbereich, die personalintensiven Segmente der Jugendhilfe – zeigt schmerzhaft, dass wir auf der einen Seite die gegebenen (geschweige denn die sich gerade aufbauende) Bedarfe nicht decken können.
Kommunalisierung in der Pflege als Lösung
Zugleich muss man zur Kenntnis nehmen, dass eine tagtägliche Rationierung stattfindet, die sich „marktwirtschaftlich“ vollzieht und damit die gegebenen Einkommens- und Vermögensverhältnisse perpetuiert. Das wird sich – ceteris paribus, also ohne Systemänderungen – in den kommenden Mangeljahren noch verschärfen, weil wir auch mit Blick auf die älteren Menschen eine Polarisierung haben zwischen unten und oben, zwischen arm und wohlhabend. Diejenigen, die nicht nur über hohe Einkommen und Vermögen, sondern oft auch über entsprechend hilfreiche Netzwerke verfügen, werden sich um ihre persönliche Bedarfsdeckung intensiv kümmern. Da sie eine zahlungskräftige Nachfrage verkörpern, wird es entsprechende Angebote geben. Der mit Blick auf die größte Baustelle der kommenden Jahre – eine (menschenwürdige) Betreuung und Pflege alter Menschen zu ermöglichen – dringend erforderliche systematische Rahmen für die hier aus Platzgründen nicht auszudifferenzierende Rationierungsdiskussion wäre eine konsequente Kommunalisierung. Man wird angesichts des in vielen Bereichen sich ausprägenden Mangels (an Personal (und über Umverteilung aufzubringenden Geldes)) eine solche Versorgung, die auch noch ein besonderes Augenmerk auf die schwächsten Glieder in der Versorgungskette legt, nur sozialräumlich organisieren können. Das heißt also in gemischten Modellen, wo Professionelle mit An- und Ungelernten und ehrenamtlich Tätigen möglichst systematisch und Schlagseiten vermeidend kombiniert werden. Das kann nur vor Ort nachhaltig organisiert werden. Übrigens findet das heute schon umfangreich statt – Beispiel Langzeitpflege, wo mehr als 80 Prozent der Pflegebedürftigen von ihren Angehörigen versorgt werden. Nur eben wildwüchsig, dem Zufall ausgeliefert, und viele besonders vulnerable Betroffene werden alleine gelassen. Gleichzeitig verlässt man sich angesichts des schon bestehenden Mangels auf diese verletzbare Ressource, in der Hoffnung, dass man dieses „System“ in die Zukunft prolongieren kann.
Versäulung im Sozialwesen überwinden
Zugleich müssen andere Herausforderungen eines modernen Sozial- und Gesundheitswesens vor Ort organisiert werden – und das idealerweise, indem die bestehende und hypertrophierte Versäulung der einzelnen Bereiche überwunden wird. Das spricht für eine fundamentale Kommunalisierung, auch mit Blick auf die Möglichkeit, vor Ort Einfluss nehmen zu können. Das erfordert eine umfassende Befähigung der Kommunen. Der Ist-Blick auf die personelle, geschweige denn finanzielle Lage vieler Kommunen muss einen hier mehr als skeptisch stimmen, ob es gelingen wird, diese Plattform ausreichend zu befähigen. Wenn nicht, dann wird die unvermeidlich ablaufende Rationierung in immer mehr Handlungsfeldern des Sozial- und Gesundheitswesens (weiter) ohne Transparenz, häufig durch Zufälligkeiten geformt und vor allem entlang der generellen Spaltungslinien zwischen starken und schwachen Personengruppen verlaufen. Sollte es gelingen, einen kommunalisierten Rahmen zu schaffen, dann werden sich die Fachkräfte und die Verbände der Wohlfahrtspflege einbringen müssen – bei der notwendigen Entsäulung der Dienste und Einrichtungen, aber auch der Priorisierung der Versorgungsaufgaben. Eine wahrhaft herkulische Aufgabe.
Anmerkung
1. Vgl. dazu ausführlicher SELL, S.: Das große Ausscheiden ist sicher. Fast jede dritte Erwerbsperson erreicht in den nächsten 15 Jahren das Rentenalter. In: Aktuelle Sozialpolitik, 8.8.2022. Dort wird auch dargestellt, welche den Verlust von fast 13 Millionen Arbeitskräften teilkompensierenden Effekte steigende Erwerbsquoten von Frauen und Älteren sowie unterschiedliche Zuwanderungsszenarien haben (könnten). Unterm Strich bleibt aber eine Lücke von mehreren Millionen nicht zur Verfügung stehenden Arbeitskräften.
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