Zwischen Freizeit mit der Familie und extremer Arbeitsbelastung
Die Corona-Pandemie hat Familien vor große Herausforderungen gestellt, insbesondere durch die Einschränkungen des Soziallebens. Eine Studie zeigt jedoch, dass deren Auswirkungen sehr unterschiedlich wahrgenommen wurden.1 Faktoren wie die Familiensituation und die verfügbaren Ressourcen spielten hierbei eine wichtige Rolle. Besonders belastend waren für viele Menschen die langen Phasen von Homeschooling, Lockdowns und die Kontaktbeschränkungen. Kinder haben in dieser Zeit vermehrt Zeit mit ihren Eltern oder Geschwistern verbracht, während der Kontakt zu Freund:innen und Großeltern eingeschränkt war.2 Die Folgen der Pandemie haben zudem bestehende soziale Ungleichheiten verstärkt. Insbesondere Einkommen, Bildung, Gesundheit und Geschlecht spielten hier eine Rolle.3 Bei Kindern und Jugendlichen sind die Auswirkungen noch nicht vollständig erforscht, jedoch wird davon ausgegangen, dass sich auch hier soziale Ungleichheiten verstärken. Mit Hilfe des Bundesprogramms "Aufholen nach Corona für Kinder und Jugendliche" des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend4 sowie sächsischer Landesmittel konnte der Caritasverband für das Bistum Dresden-Meißen (Diözesan-Caritasverband) vier Teilprojekte initiieren, um den Auswirkungen der Pandemie entgegenzuwirken. Die Teilprojekte, welche das Referat Jugendhilfe des Diözesan-Caritasverband entwickelt hatte, sollten direkte Unterstützung für Kinder und Jugendliche in der Caritas-Jugendhilfe leisten - unter anderem durch Schulsozialarbeit, den Aufbau einer Unterstützungsstruktur in der Kita, Alltags-Präsenz im Jugendhilfezentrum oder den Einsatz von Zirkuspädagogik.
Ihre Realisierung wurde vom Institut für Kinder- und Jugendhilfe (IKJ), Mainz, wissenschaftlich begleitet. Im Rahmen der dabei durchgeführten Evaluation wurden junge Menschen im Alter von zehn bis 21 Jahren, ihre Eltern sowie Fach- und Führungskräfte aus dem Diözesan-Caritasverband zu den Folgen der Pandemie und zu in diesem Zeitraum angebotenen Unterstützungsleistungen befragt. Dabei kombinierte man im Sinne eines Mixed-Methods-Ansatzes qualitative und quantitative Erhebungsformate, um zu einer möglichst umfassenden Analyse zu kommen. Insgesamt beteiligten sich 55 Kinder und Jugendliche, sechs Elternteile sowie 55 Fach- und Führungskräfte an leitfadengestützten Fokusgruppen und standardisierten Online-Befragungen.
Themenschwerpunkte waren dabei zum einen die Unterstützungsleistungen im Kontext der Hilfen sowie die Interessenlagen der Adressat:innen. Hier wurden ihnen bedeutsam erscheinende Themenbereiche erfragt, die im Zusammenhang mit der Pandemie in verschiedenen Kontexten wie etwa Freizeitverhalten, Lernen und Schule oder Wohlbefinden/psychische Gesundheit standen. Zum anderen wurden individuelle prospektive und retrospektive Einschätzungen bezogen auf 16 Grundbefähigungsdimensionen erhoben, um die Situation der befragten Personen vor sowie nach der Corona-Pandemie abzubilden und miteinander zu vergleichen. Bei diesen Dimensionen handelt es sich um eine Operationalisierung des "Capability Approach" (Befähigungsansatz) nach Nussbaum und Sen, der an den Grundbefähigungen des Menschen und seinen Verwirklichungschancen anknüpft und eine anerkannte Grundlage für die Erfassung und Bewertung der Lebenssituation von Individuen darstellt.5
Jugendliche kompensierten Defizite
Entgegen der ursprünglichen Erwartung zeigte sich bei den jungen Menschen, dass sich ihre aktuelle Situation bezogen auf die eigenen Grundbefähigungen und Verwirklichungsmöglichkeiten ("Capabilities") nach eigener Wahrnehmung im Vergleich zur Zeit vor der Pandemie nicht signifikant verschlechtert hatte. Offenbar hatten sich hier in vielen Bereichen für die jungen Menschen Kompensationsmöglichkeiten eröffnet, mit denen die durch Lockdowns und andere Beschränkungen entstandenen Defizite aufgefangen werden konnten. So zeigen sich im Lebensbereich Zugehörigkeit/Interaktion, für den man aufgrund der Schließung von Schulen und Freizeiteinrichtungen und dadurch einer erheblichen Reduktion physischer Kontaktmöglichkeiten erhebliche Verschlechterungen angenommen hätte, keine entsprechenden negativen Tendenzen.
"Quality Time" in der Kernfamilie
Die zu erwartenden deutlichen Verluste im Zugehörigkeitsgefühl durch die Abnahme von gemeinschaftsstärkenden Erlebnissen beziehungsweise gemeinschaftlichen Aktivitäten scheinen hier also nicht eingetreten oder aber in irgendeiner Form kompensiert worden zu sein. Erklärt werden könnte dies möglicherweise dadurch, dass der Kontakt innerhalb der Kernfamilie den Aussagen der jungen Menschen zufolge gestiegen ist und mehr Zeit mit den Geschwistern und Eltern verbracht wurde, wodurch wiederum positive Gemeinschafts- und Zugehörigkeitserfahrungen gemacht werden konnten. Außerdem führte die spezifische Isolationssituation während der Lockdown-Phasen zum Teil zum Ausprobieren zuvor als weniger attraktiv empfundener Freizeitbeschäftigungen und Hobbys, wie Kochen oder das Lernen eines Instruments, was in der Folge wiederum neue Möglichkeiten für Gemeinschaftserlebnisse hervorbrachte, so dass die subjektiv wahrgenommene Situation der jungen Menschen im Hinblick auf Zugehörigkeit und Interaktion zwar nach Corona anders, aber nicht unbedingt schlechter ist. Dennoch wird die Möglichkeit, die Schule wieder zu besuchen und dort Freund:innen zu treffen, von den jungen Menschen sehr positiv bewertet. Die Freude über den "echten" regelmäßigen Schulbesuch war zum Zeitpunkt der Befragung wesentlich höher als vor der Pandemie, was hinsichtlich eines angenehmen, freudvollen und damit fruchtbaren Lernklimas an den Schulen möglicherweise langfristig betrachtet sogar durchaus Entwicklungschancen bedeuten könnte.
Bei den Fachkräften stellt sich die Situation insgesamt allerdings deutlich anders dar. Hier ist es über den Zeitraum der Pandemie hinweg in vielen Bereichen zu Verschlechterungen in den "Capabilities" der befragten Personen gekommen.
Insbesondere in den Bereichen psychische Integrität/Resilienz, körperliche Integrität/Gesundheit sowie Lebensmotivation/Zufriedenheit sind erhebliche, statistisch signifikante Verschlechterungen erkennbar. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Fachkräfte im Verlauf der Pandemie insgesamt betrachtet an allgemeinem Wohlbefinden eingebüßt haben. Ein Grund dafür scheint die hohe Belastung zu sein, die sich aus einem Zusammenspiel von beruflichen Herausforderungen und vielfältigen familiären Belastungsfaktoren ergibt. So wird beschrieben, dass die vielen Kontakte im Arbeitskontext und das dadurch entstehende hohe Ansteckungsrisiko das Privatleben merklich einschränkten. Aber auch für den persönlichen Arbeitsalltag schilderten die Fachkräfte eine erhöhte Arbeitsbelastung und mehr Stress, da zum einen jeden Tag Prioritäten neu gesetzt werden mussten und zum anderen auch noch im Nachgang viele zusätzliche Anforderungen gestellt wurden. Zudem verschärften fehlende personelle Ressourcen aufgrund gestiegener Hilfebedarfe bei gleichzeitig hohen Ausfallquoten die Belastungssituation der Fachkräfte enorm. Die fortwährend angespannte Personalsituation verstärkte zum Beispiel den subjektiven Eindruck, nicht krank werden zu dürfen, um die Arbeit bewältigen zu können.
Kooperation hat teils gelitten
Darüber hinaus hat sich die Qualität der Zusammenarbeit mit anderen Akteuren des Arbeitsfeldes grundsätzlich über die Zeit der Pandemie hinweg eher verschlechtert. Insbesondere die Zusammenarbeit mit Jugendamt/Allgemeinem Sozialem Dienst - zuständig für Kinderschutz - und der ambulanten psychotherapeutischen Versorgung hat sich dabei signifikant verschlechtert, was im Hinblick auf die zumindest mit dem Allgemeinen Sozialem Dienst regelhaft gemeinsam auszurichtende Hilfeplanung und Fallsteuerung eine eher ungünstige Perspektive für die betroffenen jungen Menschen und ihre Familien aufzeigt. Dieser Bereich sollte daher zwingend fokussiert werden, um für die Zukunft eine gute Basis zur gemeinsamen Bewältigung der anstehenden Herausforderungen zu schaffen.
Trotz dieser eher kritischen Rahmenbedingungen innerhalb des Arbeitsfeldes bewerten die Caritas-Fachkräfte die Zufriedenheit mit der eigenen Arbeitssituation insgesamt sehr positiv. Rund 84 Prozent der Befragten geben an, grundsätzlich mit ihrer Tätigkeit weitgehend oder sogar sehr zufrieden zu sein.
Vorschläge und Wünsche zur Verbesserung der Arbeitssituation richten sich dementsprechend weniger an den eigenen Träger beziehungsweise die unmittelbare Arbeitsumgebung, sondern eher an die politische Entscheidungsebene. Die Forderungen nach mehr personellen und finanziellen Ressourcen (sowie besserer technischer Ausstattung) sowie einer Einführung von Coronazuschüssen oder Entlastungstagen zielen im Endeffekt darauf ab, den im Arbeitsfeld Tätigen bessere Rahmenbedingungen und damit umfangreichere Handlungs- und Gestaltungsspielräume zu ermöglichen, um dem Anspruch "Kein Kind geht verloren" hinreichend Rechnung tragen zu können.
Anmerkungen
1. Langmeyer, A.; Guglhör-Rudan, A.; Naab, T.; Urlen, M.; Winklhofer, U.: Kindsein in Zeiten von Corona. Erste Ergebnisse zur Situation von Kindern während des Lockdowns im Frühjahr 2020. Deutsches Jugendinstitut (DJI), Dezember 2020.
2. Ebd.
3. Böhme, R.: Soziale Auswirkungen der Corona-Pandemie. In: Bonora, C.; Kruse, M.; Meyerhuber, S.; Quaas, A.; Ritter, S.; Tils, F. (Hrsg.): Sozialwissenschaftliche Perspektiven auf die Corona-Pandemie. IPW Working Paper Bd. 5, 2022, S. 86-100.
4. Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend: Aktionsprogramm "Aufholen nach Corona für Kinder und Jugendliche". 2022.
5. Albus, S.: Welche Wirkung zählt? In: Forum Jugendhilfe, 3/2015, S. 19-25; Otto, H.-U.; Ziegler, H. (Hrsg.): Capabilities - Handlungsbefähigung und Verwirklichungschancen in der Erziehungswissenschaft. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2. Aufl., 2010.
Künstliche Intelligenz? Einfach mal tun!
Diesseits und jenseits der Rationierung
Im Wettbewerb um Fachkräfte zählt die Identität des Arbeitgebers
Eine Anpassung von Standards darf kein Tabu sein
Zwischen Ruhestandswelle und Ausbildungsoffensive
Hinterlassen Sie einen Kommentar zum Thema
Danke für Ihren Kommentar!
Ups...
Ein Fehler ist aufgetreten. Bitte laden Sie die Seite erneut und wiederholen Sie den Vorgang.
{{Reply.Name}} antwortet
{{Reply.Text}}