Soziale Dienste suchen ihren Platz in der Arbeitswelt 4.0
Industrielle Konzepte für betriebliche Digitalisierungsprozesse sind nur begrenzt auf die Welt sozialer Dienstleistungen übertragbar. Partizipative Technikentwicklung oder akzeptanzorientierte Vermittlungsstrategien greifen zu kurz. Es braucht neue betriebliche Lernräume und Strategiepartnerschaften, in denen digitale Lösungen aus der berufsfachlichen Perspektive der Mitarbeitenden gesucht, gestaltet und evaluiert werden.
"Sozial braucht digital" - so lautete die Kampagne der Caritas zur Digitalisierung im Jahr 2019. Dahinter steht die Überzeugung, dass digitale Technologien eine Chance auf mehr soziale Teilhabe, auf bessere und effizientere soziale Dienstleistungen eröffnen können. Digitale Technologien sind in der Welt sozialer Dienstleistungen längst angekommen. Viele Gesetzesinitiativen der Gesundheits- und Pflegepolitik zielen mittlerweile explizit auf die Nutzung digitaler Technik. Sie fördern vernetzte Versorgungs- und Arbeitswelten für soziale Dienstleistungen 4.0. Dies erfordert neue Strategien in der Welt der Wohlfahrtsverbände und der Träger und Einrichtungen. Die Potenziale "digitaler Innovationen" sollen genutzt und durch neue Wege verbandlicher Personal- und Organisationsentwicklung fundiert werden.1 Auf betrieblicher Ebene werden Konzepte für mehr "Agilität", neue Wege der Kompetenzbildung sowie eine Arbeits- und Führungskultur gesucht, die den digitalen Anforderungen gerecht wird.2 Der Begriff der "digitalen Innovation" ist konzeptionell unscharf: Ist damit eine echte technische Neuerung gemeint? Ist der Einsatz bekannter Technik in einem neuen Umfeld bereits eine digitale Innovation oder erst dann, wenn er den Ausgangspunkt für betriebliche Veränderungsprozesse markiert? Digitale Lösungen werden dann zu "digitalen Innovationen", wenn sie zu sozialem Fortschritt führen. Sie drücken sich nicht in technischen Reifegraden oder singulären Rationalisierungs- oder Effizienzgewinnen aus. Entscheidend sind die Gewinne für soziale Teilhabe, Erreichbarkeit sowie konkrete Fortschritte für Versorgungs- und Arbeitsqualität. "Digitale Innovationen" zielen in der Welt sozialer Dienstleistungen im Kern darauf ab, sozialen Fortschritt mit digitalen Mitteln möglich und gestaltbar zu machen.
Zwischen Digitalstrategie und "Sich-Durchwursteln"
Zwischen den Möglichkeiten der Technologie und den Visionen einer "Sozialen Dienstleistungswelt 4.0" liegt die betriebliche Realität. Von hier aus betrachtet sind betriebliche Digitalisierungsprozesse nicht selten von Irrungen, Wirrungen und Unsicherheiten geprägt. Entscheider fragen sich mit Blick auf die Zukunft, in welche Anwendung sich Investitionen wirklich lohnen. Während einige Einrichtungen bereits mit Künstlicher Intelligenz (KI) experimentieren, scheitern andere Einrichtungen bereits an einer funktionsfähigen WLAN-Verbindung. Das neue Dokumentationssystem weist im Echtzeitbetrieb Schnittstellen- und Praktikabilitätsprobleme auf, Systemanpassungen sind zeitaufwendig, verursachen Kosten und führen zu stressenden Arbeitsunterbrechungen. Während die Mitarbeitenden in der einen Einrichtung engagiert am Umsetzungsprozess mitwirken, orientiert man sich woanders so lange wie möglich an bewährten Praktiken. Häufig ist zudem unklar, wie die für Veränderungsprozesse erforderlichen Personalressourcen vorgehalten und finanziert werden können. Prägend für soziale Einrichtungen im digitalen Wandel sind weniger die Herausforderungen als vielmehr die spezifischen Rahmenbedingungen, in die diese eingebettet sind: Refinanzierungs-, Legitimations- und professionsspezifische Handlungslogiken; verbandliche Werteorientierungen und darin eingebettete Führungs- und Entscheidungskulturen; die besondere Relevanz zuwendungsorientierter Arbeit sowie der Anspruch partizipativer Umsetzungswege trotz Engpässen an Fachkräften und Zeit. In der Praxis zeigt sich, dass zwischen den Visionen von 4.0, verbandlichen Digitalagenden und den konkreten betrieblichen Rahmenbedingungen die Frage nach dem "Wie" der betrieblichen Gestaltung steht.
Wie können betriebliche Gestaltungskapazitäten gestärkt werden?
Ob aus der Summe betrieblicher digitaler Einzelprojekte tatsächlich sozialer Fortschritt erwächst, ist abhängig davon, wie es gelingt, fragmentierte Fortschrittsinseln wirkungsorientiert zu gestalten. Die Vernetzung einzelner Lösungen zu "intelligenten Systemen" erfordert Strategien, die über die Entscheidung für einzelne digitale Anwendungen hinausgehen. Die Arbeits- und Organisationsforschung hat gezeigt, dass Entscheidungen für eine bestimmte Technologie, für arbeitsprozessbezogene Gestaltungspfade wie auch Folgen der Nutzung in der digitalen Transformation früher, enger und folgenreicher aufeinander bezogen sind. Einrichtungen müssen potenzielle Folgen digitaler Technik nicht nur bearbeiten, sondern überhaupt erst die Voraussetzungen und Gestaltungskapazitäten dafür schaffen, dass betriebliche Digitalisierungsprozesse erfolgreich verlaufen können.
Wirkungsmessung hilft
Ausgehend hiervon setzen betriebliche Digitalstrategien also nicht bei der Auswahl der Technik, sondern bei den organisatorisch-kulturellen Voraussetzungen und den strategischen Entwicklungszielen der Einrichtung an. Beispiele hierfür sind etwa die Erhöhung von Anzahl und Qualität der Bewerbungen (Recruitment), die Erhöhung der Betreuungsqualität durch zeitliche Entlastung von Dokumentationsaufgaben und Zeitgewinn beim Klientenkontakt (Arbeitsorganisation) oder die Verkürzung der Behandlungszeiten bei der allgemein- und fachärztlichen Betreuung pflegebedürftiger Menschen (Telecare, Telemedizin). Zu jeder betrieblichen Digitalstrategie gehören die Festlegung messbarer Ziele und ein Instrumentarium zur Wirkungsmessung. Damit wird frühzeitig die Grundlage für innerbetriebliche Lernprozesse und passgenaue Technikentscheidungen gelegt.
Die erfolgreiche Umsetzung betrieblicher Digitalisierungsstrategien braucht die Erfahrung und Expertise der Mitarbeitenden. Dies wird operativ zumeist durch Wege partizipativer Technikentwicklung oder der Schaffung neuer Funktionen realisiert, zum Beispiel durch Digital-Coaches. Gemeinsam ist diesen Ansätzen, dass sie darauf abzielen, bei den Beschäftigten Akzeptanz zu bekommen. Die Frage der Akzeptanz ist wichtig, gleichwohl greift sie zu kurz. Denn im Kern geht es um die Erhöhung der Innovationsfähigkeit und -bereitschaft der Einrichtungen und ihrer Mitarbeitenden. Diese wird maßgeblich befördert durch eine klare Kommunikation des erwartbaren Nutzens neuer technischer Lösungen, durch die Vermeidung von Überforderung und Innovationstress sowie durch partizipative Sicherheit aufgrund verlässlicher innerbetrieblicher Verhandlungsstrukturen und Evaluierungskonzepte.
Die Expertise der Mitarbeitenden muss einbezogen werden
Besondere Relevanz haben "niedrigschwellige Lernräume". Diese zielen darauf ab, dass neue Lösungen in funktions- und bereichsübergreifenden Teams vor der Erprobung erfahrbar und Gestaltungsspielräume frühzeitig ausgelotet werden. Insbesondere in der Debatte um agilere Arbeits- und Führungskulturen wird häufig suggeriert, dass mit der Nutzung digitaler Technik neue Arbeitsformen und Arbeitsweisen entstehen, die das eigenverantwortliche und eigenständige Handeln der Mitarbeitenden stärken. Doch ebenso ist es möglich, dass die Hierarchien zwar flacher werden, gleichwohl aber professionelle Entscheidungsspielräume durch technische Standardisierung eher eingegrenzt als ausgeweitet werden. Dies schwächt nachträglich die Akzeptanz und erfordert Aneignungsstrategien, die darauf abzielen, schon die Suche nach sinnvollen digitalen Lösungen aus der professionellen Expertise und Erfahrung der Mitarbeitenden heraus anzugehen.
Lernreisen: Erfahrungen aus Dialogsplus
Erfahrungen im Projekt "Dialogsplus", an dem das Institut Arbeit und Technik (IAT) beteiligt war,3 zeigen, dass die "Lernreise" ein tragfähiges Instrument zur Erhöhung der Innovationsbereitschaft- und -fähigkeit sein kann. Funktions- und bereichsübergreifende Teams (Mitarbeitende, Führungskräfte und Interessenvertretungen) definieren, ausgehend von den strategischen Zielen der Einrichtungen, ihre gemeinsamen Interessen, suchen passgenaue digitale Lösungen und lernen diese über ein strukturiertes und moderiertes Lernangebot mit ihren Vor- und Nachteilen vor der betrieblichen Einführung kennen. Auf dieser Basis können anschließend Ziele, Umsetzungsstrategien und die Evaluation geplant werden. So wurde beispielsweise nach einer Lernreise eines projektbeteiligten Trägers mit seinem Team in die Niederlande eine gemeinsame Vereinbarung zur Erprobung und Evaluierung eines neuen technikgestützten Arbeitsorganisationsmodells in der stationären Langzeitpflege getroffen. Das Projekt hat gezeigt: Es braucht neue Lernräume und den Aufbau betrieblicher Strategiepartnerschaften.
Anmerkungen
1. BAGFW/BMFSFJ: Digitale Transformation und gesellschaft - licher Zusammenhalt - Organisationsentwicklung der Freien Wohlfahrtspfl ege unter den Vorzeichen der Digitalisierung. Gemeinsame Absichtserklärung des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) und der Verbände der Freien Wohlfahrtspfl ege (BAGFW). Berlin, 2017.
2. Deutscher Caritasverband (Hrsg.): Sozialpolitische Positionen zur Jahreskampagne 2019: sozial braucht digital. Freiburg, 2019, S. 9 f.
3. Vgl. per Kurzlink: https://bit.ly/2TjCn7p
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