Soziale Anliegen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft
Gemeinsam. Europa wieder stark machen." Das ist das Motto der deutschen EU-Ratspräsidentschaft1 , die in schwierige Zeiten fällt. Seit dem 1. Juli und bis zum 31. Dezember 2020 hat Deutschland den Vorsitz im Rat der Europäischen Union inne und wird die Sitzungen der Minister(innen) der EU-Mitgliedstaaten vorbereiten und leiten sowie den Rat gegenüber anderen EU-Organen vertreten. Für die Caritas zentral: Wie steht es zur Halbzeit um die soziale Zwischenbilanz der deutschen EU-Ratspräsidentschaft?
Corona-Präsidentschaft" - der Rahmen ist abgesteckt
Von "Corona-Präsidentschaft"2 oder "Krisen-Präsidentschaft" ist die Rede. Wenn man sich die Zwischenbilanz der deutschen EU-Ratspräsidentschaft anschaut, gehört der aktuelle Kontext dazu. Angesichts der notwendigen Gestaltung der Digitalisierung und des Klimaschutzes stand die EU auch schon vor der Covid-19-Pandemie vor gewaltigen Herausforderungen. Mit der Bewältigung der Folgen der Coronavirus-Krise, den Verhandlungen um einen neuen EU-Haushalt 2021- 2027 und dem Brexit, um nur einige Themen zu nennen, gibt es für die deutsche Präsidentschaft viel zu tun.
Eckhard Lübkemeier und Nicolai von Ondarza sprechen in einem Beitrag für die Stiftung Wissenschaft und Politik3 von einer Doppelaufgabe des deutschen Ratsvorsitzes: Kriseneindämmung und Schub für ein solidarisches und autonomes Europa". Diese Mammutaufgabe kann wahrlich niemand allein, sondern kann die EU tatsächlich nur "gemeinsam" schaffen.
Die EU-Vertretung des Deutschen Caritasverbandes (DCV) begleitet vor allem die folgenden drei Themen:
Abstriche bei sozialen Fonds im EU-Haushalt 2021-2027
Die Verhandlungen des EU-Haushalts für den Zeitraum 2021-2027 binden einen Großteil der Energien der deutschen EU-Ratspräsidentschaft. Sie sollen nach dem Wunsch der Bundesregierung möglichst zügig abgeschlossen werden. Mit der Einigung der Staatsund Regierungschefs der EU auf den Mehrjährigen Finanzrahmen 2021-2027 sowie auf das Wiederaufbauinstrument "Next Generation EU" Mitte Juli wurde hierfür der Grundstein gelegt. Da der Gesamthaushaltsplan der EU dem Zustimmungsverfahren unterliegt, muss das EU-Parlament die Einigung der Mitgliedstaaten noch bestätigen.
Die schnelle Einigung des Europäischen Rats zu Beginn der deutschen EU-Ratspräsidentschaft ist aus Sicht des DCV sehr zu begrüßen, da bei weiterer Verzögerung eine Förderlücke für die Projektträger gedroht hätte. Andererseits ist es bedauerlich, dass durch die Mitgliedstaaten im Europäischen Rat wichtige Programme wie der Asyl- und Migrationsfonds und Erasmus+ gekürzt worden sind. Auch der neue Europäische Sozialfonds (ESF+) wurde gekürzt. Dabei kann gerade der ESF die wegen der Pandemie befürchtete Verschärfung sozialer Probleme abfangen, Beschäftigungsfähigkeit sichern und Armut bekämpfen (s. dazu auch den Beitrag auf S.13 in diesem Heft).
Grundsätze für die Absicherung der Bedürftigen
Mit Beginn ihrer Amtszeit hat Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen einen EU-Rahmen für Mindestlöhne angekündigt, zu dessen möglicher Ausgestaltung bis Anfang September 2020 Gespräche mit den Sozialpartnern auf EU-Ebene liefen. Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft begrüßt diese Initiative. Gleichzeitig strebt die Bundesregierung an, die Diskussion um einen EU-Rahmen für nationale Grundsicherungssysteme - wie im Koalitionsvertrag von März 20184 angekündigt - ebenfalls weiter voranzubringen. Auch aus Sicht der Caritas geht die Frage nach armutsfesten Grundsicherungssystemen in den EU-Mitgliedstaaten mit der Frage nach gerechten Mindestlöhnen einher. Der DCV setzt sich daher ebenso wie das europäische Netzwerk Caritas Europa dafür ein, einen rechtsverbindlichen EU-Rahmen für nationale Grundsicherungssysteme zu schaffen, zum Beispiel in Form einer EU-Richtlinie.5 Auch wenn die Sozialsysteme in Europa bewusst national ausgestaltet sind, braucht es ein gemeinsames Verständnis davon, was sie leisten sollen.
Die von der deutschen Ratspräsidentschaft für Oktober 2020 geplanten Ratsschlussfolgerungen zu "Mindesteinkommen"6 sind aus Caritas-Perspektive ein erster Schritt in die richtige Richtung. Zwar sind Ratsschlussfolgerungen unverbindlich, da sie jedoch von den EU-Mitgliedstaaten einstimmig verabschiedet werden müssen, sind sie dennoch ein wichtiges politisches Signal. Es bleibt zu hoffen, dass dieser Impuls von den nächsten EU-Ratspräsidentschaften - der portugiesischen und der slowenischen - aufgegriffen und weiterverfolgt wird.
Ebenfalls zu begrüßen sind die für Oktober 2020 geplanten Ratsschlussfolgerungen zum Thema "Rechte, Teilhabe und Lebensqualität älterer Menschen im Zeitalter der Digitalisierung" und zum Thema "Durchsetzung der Rechte von Saisonarbeitnehmer(inne)n". Bei Letzterem soll der persönliche Anwendungsbereich sehr weit sein und somit nicht nur Saisonarbeitnehmer(innen) in der Landwirtschaft einbeziehen, sondern zum Beispiel auch Pflegekräfte, die nach ähnlichem System in einem anderen als ihrem Herkunfts-Mitgliedstaat tätig sind. Daher hat der DCV Anforderungen an diese geplanten EU-Ratsschlussfolgerungen formuliert, in denen er aufzeigt, wie geltender Arbeitsschutz durchgesetzt und die Rechte von mobilen, erwerbstätigen EU-Bürger(inne)n insgesamt besser geschützt werden können.7
Solidarität in der Migrations- und Asylpolitik der EU
Ein weiteres wichtiges Thema, für das sich die Caritas von der Bundesregierung positive Impulse erhofft, ist die Migrations- und Asylpolitik
Am 23. September 2020 hat die EU-Kommission nach mehrmaligem Verschieben den Entwurf für das neue EU-Migrations- und Asylpaket vorgelegt8 und mit ihren Vorschlägen eine Verhandlungsbasis für eine Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) geschaffen. Der DCV bedauert, dass der Vorschlag der EU-Kommission seinen Fokus sehr stark auf Abwehr und Abschottung legt (S. dazu auch den Kommentar auf S. 5 und den Beitrag auf S.17). Er enthält vereinzelt auch ausbaufähige Punkte, wie die Trennung zwischen einem "normalen Modus" und einem "Krisenmodus" oder die Tatsache, dass besonders Schutzbedürftige wie Kinder aus den Grenzverfahren ausgenommen werden sollen.9 Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft hat nun die Aufgabe, auf dieser Grundlage für eine gerechte Aufgabenverteilung zwischen den EU-Mitgliedstaaten einzutreten, damit endlich ein fairer und humaner Umgang mit allen Geflüchteten und Migrant(inn)en erreicht wird.
Aus Sicht des DCV sollte das neue EU-Asylsystem auf Anreizen für solidarisches Handeln basieren und nicht auf Abschreckung und Ausgrenzung von Schutzsuchenden. Ein europäisches Asylsystem kann nur funktionieren, wenn die Interessen der Asylsuchenden, wie beispielsweise familiäre Bindungen oder Integrationsmöglichkeiten, berücksichtigt werden Aufwendige und langwierige "Asylvorprüfungen" an den EU-Außengrenzen müssen vermieden werden, damit sich die dort bereits jetzt herrschenden unmenschlichen Bedingungen nicht weiter verschlimmern und es zwischen den EU-Mitgliedstaaten untereinander eine gerechte Aufteilung der Verantwortung gibt. Weiterhin müssen sichere und legale Zugangswege in die EU bestehen und die Rechte von Kindern und von besonders schutzbedürftigen Personen vorrangig beachtet werden.
Die Caritas wird sich hier in die Verhandlungen einbringen. Sie erwartet, dass die Bundesregierung in diesem Sinne nach europäischen Kompromissen sucht.
Gemeinsam das soziale Europa stark machen
Wie sieht nun die aktuelle Zwischenbilanz der deutschen EU-Ratspräsidentschaft im sozialen Bereich aus? Der konkrete Erfolg einer schnellen Einigung des Europäischen Rats auf einen EU-Haushalt 2021-2027 ist begrüßenswert, auch wenn hier in der inhaltlichen Bewertung stellenweise durchaus Kritik angebracht ist und das EU-Parlament noch zustimmen muss.
Erfreulich ist außerdem, dass für die Bereiche europäische Arbeitsmarkt-, Sozial- und Gleichstellungspolitik sowie ältere Menschen und Kinder bereits einige Schwerpunktsetzungen vorhanden sind. Da für die angekündigten Ratsschlussfolgerungen die Einstimmigkeit erforderlich ist, bleibt jedoch abzuwarten, welche tatsächlich verabschiedet werden können und wie weit sie inhaltlich gehen werden.
Was die Migrations- und Asylpolitik der EU angeht, so hat die deutsche EU-Ratspräsidentschaft noch einen langen Weg vor sich. Die Covid-19-Pandemie stellt die gesamte Welt vor große Herausforderungen; ein Kontext, den manche dazu nutzen, Angst und Vorurteile gegenüber Fremden und Menschen in Not zu schüren. Dies sollte die politischen Entscheidungen rund um Migration und Integration allerdings nicht beherrschen, wie Caritas-Präsident Neher unlängst in einer DCV-Pressemitteilung unterstrich.10
Deutschland kann und wird im Rahmen seiner EU-Ratspräsidentschaft einige Impulse setzen, am Ende sind jedoch alle 27 EU-Mitgliedstaaten aufgefordert, "Gemeinsam. Europa wieder stark [zu] machen".
Anmerkungen
1. www.eu2020.de ist die Webseite der deutschen EU-Ratspräsidentschaft 2020.
2. Vgl. zum Beispiel Außenminister Heiko Maas in einem Gastbeitrag für die "Welt" am 12. April 2020; per Kurzlink: https://bit.ly/2RUFiD8
3. SWP-Aktuell 2020/A 52, Juni 2020; https://bit.ly/3hWvvXB
4. Download per Kurzlink: https://bit.ly/3czc7z2
5. www.caritas.de/fuerprofis/presse/stellungnahmen (Suchbegriff: "EU-Haushalt 2018") sowie www.caritas.eu/minimum-income-schemes-toensure-dignity-for-all
6. Unter "Mindesteinkommen" (engl. "minimum income") sind auch Grundsicherungsleistungen zu verstehen, die über Grundsicherungssysteme gewährt werden. Hierbei ist nicht das Prinzip eines (bedingungslosen) Grundeinkommens gemeint.
7. Vgl. die Stellungnahme vom 29. September 2020 unter www.caritas.de/stellungnahmen (Suchwort: Freizügigkeit).
8. https://ec.europa.eu/germany/news/20200923-neuanfang-migrationspolitik_de
9. Vgl. die Pressemeldung vom 23. September 2020 unter https://www.caritas.de/fuerprofis/presse/pressemeldungen (Suchwort: "EU-Asylabkommen").
10. www.caritas.de/fuerprofis/presse/pressemeldungen (per Suchbegriff "5 Jahre Sommer" zur Meldung vom 26.8.2020).
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