Weniger, älter, ärmer
Die Ergebnisse der langfristigen Projektion der Kirchenmitglieder und des Kirchensteuer-Aufkommens wurden von der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) und der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) Anfang Mai dieses Jahres der Öffentlichkeit vorgestellt.1 Zum ersten Mal wurde eine solche zwischen allen 27 Diözesen und 20 Landeskirchen koordinierte ökumenische Vorausberechnung erstellt. Das Presseecho auf die vom Forschungszentrum Generationenverträge der Universität Freiburg berechneten Ergebnisse war erwartungsgemäß hoch. Die Freiburger Studie gibt Erklärungen für den Mitgliederschwund, identifiziert konkrete Handlungsansätze und thematisiert die Folgen für die Gesellschaft.
Die Ergebnisse der Projektion lassen sich kurz zusammenfassen. Unter den getroffenen Annahmen, insbesondere zum Tauf-, Austritts- und Aufnahmeverhalten, wird sich die Zahl der Mitglieder der beiden großen Kirchen in Deutschland bis zum Jahr 2060 halbieren. Dabei entfallen etwa 40 Prozent des Rückgangs auf demografische Faktoren, also den Überschuss von Sterbefällen gegenüber Geburten und Wanderungen. Der größere Anteil von etwa 60 Prozent des Rückgangs ist auf kirchenspezifische Faktoren zurückzuführen, vor allem Austritte und unterbliebene Taufen. Im gleichen Zeitraum werden die Kirchensteuereinnahmen zwar leicht um zwei Prozent ansteigen, allerdings müssen für eine reale Betrachtung die jährlichen Preissteigerungsraten berücksichtigt werden. Wird entsprechend der Struktur kirchlicher Haushalts- und Wirtschaftspläne ein „kirchlicher Warenkorb" zugrunde gelegt, der überwiegend Personalkosten berücksichtigt, dann verfügen die beiden großen Kirchen in Deutschland 2060 nur noch über die Hälfte ihrer Kirchensteuerkraft aus dem Jahr 2017.
Versetzt man sich in die Lage der Entscheidungsträger, die heute die Verantwortung haben, ist der gewählte Projektionszeitraum von über 40 Jahren sehr lang. Aber bereits im Jahr 2035 werden die beiden großen Kirchen Deutschlands 22 Prozent weniger Mitglieder haben als im Jahr 2017. Die demografischen Faktoren sind bis dahin für knapp ein Drittel des Rückgangs verantwortlich, die kirchenspezifischen Faktoren dementsprechend zu zwei Dritteln. Die Kirchensteuerkraft wird bis 2035 um ein Viertel gegenüber 2017 sinken.
Anteil der Christen in Deutschland
Die gesellschaftlichen Auswirkungen des projizierten Mitgliederrückgangs werden im Bevölkerungsanteil von Katholiken und Protestanten in Deutschland deutlich. Während 1995, also kurz nach der Wiedervereinigung Deutschlands, der Anteil der Christen an der Gesamtbevölkerung noch bei knapp 70 Prozent lag, waren es im Jahr 2017 nur noch 54 Prozent. Werden die heutigen Verhältnisse – trotz wachsender Unsicherheiten – in die fernere Zukunft fortgeschrieben, würde der Anteil der Bevölkerung, der einer der beiden großen christlichen Kirchen angehört, im Jahr 2060 nur bei etwa 31 Prozent liegen. Zum Vergleich: 1960 – hundert Jahre zuvor – waren noch knapp 94 Prozent der gesamten westdeutschen Bevölkerung Mitglied der evangelischen oder katholischen Kirche in Deutschland2 (siehe die Abbildung).
Quelle: Eigene Berechnung, basierend auf Kirchenamt der EKD (2018), Verband der Diözesen Deutschlands (2018), Statistisches Bundesamt. Prozentanteile beschreiben den korrespondierenden Anteil an der Gesamtbevölkerung.
Bereits von 1995 bis 2017 verloren die beiden großen christlichen Kirchen – trotz des leichten Anstiegs der Gesamtbevölkerung – knapp elf Millionen Kirchenmitglieder. Im Jahr 2024 wird der Anteil der Christen in Deutschland weniger als 50 Prozent an der Gesamtbevölkerung ausmachen, so dass voraussichtlich ab diesem Zeitpunkt eine Mehrheit der in Deutschland lebenden Menschen keiner der beiden großen Kirchen mehr angehören wird.
Regionale Ergebnisse
Die Ergebnisse, die für jede der 27 Diözesen und 20 Landeskirchen vorliegen, unterscheiden sich regional teilweise stark. Die Kirchensteuerkraft 2060 der einzelnen Diözesen und Landeskirchen erstreckt sich von 28 bis 66 Prozent der Kirchensteuerkraft 2017. Dabei verzeichnen vor allem die im Osten gelegenen Diözesen und Landeskirchen, die ohnehin bereits 2017 über die geringsten Kirchensteuereinnahmen verfügen, die relativ größten Verluste. Letztendlich ist die Entwicklung der Kirchensteuerkraft in den Diözesen und Landeskirchen im Wesentlichen von der regionalen Mitgliederentwicklung geprägt. Diese wiederum hängt entschieden von der gegenwärtigen Altersstruktur der Kirchenmitglieder ab - für die staatliche Bevölkerung besser bekannt als Bevölkerungspyramide. Darüber hinaus beeinflussen für das jeweilige Gebiet regionale Altersprofile und Quoten für Taufen, Austritte und Aufnahmen sowie kirchenspezifische Wanderungsbewegungen die Entwicklung regional unterschiedlich. Weil in dem verwendeten Projektionsmodell die einzelnen Diözesen beziehungsweise Landeskirchen als Subpopulationen in Interaktion zueinander stehen, führen Veränderungen in einer Diözese oder Landeskirche in der Folge zu Veränderungen bei anderen Diözesen oder Landeskirchen: hier mehr Austritte, dort weniger Wanderungen und so weiter.
Neben den Ergebnissen, die in Szenarien auch mit geänderten Annahmen für jede Diözese und Landeskirche vorliegen, war aber auch die Analyse der Daten von großer Bedeutung.3 Für die Projektion der Kirchensteuern wurden dafür auch erstmals die Daten der staatlichen Einkommensteuerstatistik ausgewertet und auf die Gebiete der Diözesen und Landeskirchen übertragen. So konnten für die Projektion auch bezüglich der regionalen Kirchensteuerkraft der Diözesen und Landeskirchen sehr exakte Daten herangezogen werden.
Ansatzpunkte für die Kirchen
Neben den Projektionsergebnissen wurde auch die Analyse der diözesan- und landeskirchenspezifischen Meldewesen- und Einkommensteuerdaten in den vergangenen Monaten in zahlreichen überregionalen Gremien der evangelischen und katholischen Kirche und in den meisten Diözesen und Landeskirchen vor Ort vorgestellt. Ziel dieser proaktiven Form der Wissenschaftskommunikation ist es, den Verantwortlichen auf allen Ebenen Anknüpfungspunkte für Veränderungen aufzuzeigen. Denn auch wenn ein Teil des Mitgliederrückgangs und damit einhergehend auch ein Teil des Rückgangs an Kirchensteuerkraft nicht aufzuhalten sein werden, bieten sich den Kirchen doch Möglichkeiten, auf die projizierte Entwicklung zu reagieren. Würde sich die Tauf- und Aufnahmebereitschaft erhöhen und gleichzeitig die individuelle Austrittswahrscheinlichkeit absinken, hätte dies nicht nur mehr Mitglieder der evangelischen oder katholischen Kirche in Deutschland zur Folge. Auch der Rückgang der Kirchensteuerkraft würde geringer ausfallen.
Die Option „Weiter wie bisher" erscheint jedenfalls vor dem Hintergrund der Entwicklung des Christenanteils an der Gesamtbevölkerung die schlechteste zu sein. Der bereits heute eingetretene gesellschaftliche Relevanzverlust wird – vor allem für die katholische Kirche – aus dem jüngsten „GemeinwohlAtlas" offenkundig.⁴ Aus diesem Ranking von deutschen und internationalen Unternehmen und Organisationen wird aber auch die Diskrepanz in der gesellschaftlichen Wahrnehmung zwischen Diakonie, Caritas und den konfessionellen Hilfsdiensten auf der einen und den verfassten Kirchen auf der anderen Seite deutlich. Dass dies zwei Seiten derselben Medaille sind, geht in der gesellschaftlichen Wahrnehmung anscheinend unter. Gerade in einer älter werdenden Bevölkerung können sich die Kirchen mit ihrem über die Kernkirchengemeinden hinausgehenden Netzwerk aus Pflegedienstleistern, Wohlfahrtsverbänden, Kindertagesstätten und Bildungseinrichtungen, Beratungsangeboten, aber auch als Arbeitgeber und Grundeigentümer (Stichwort sozialer Wohnungsbau) als relevante Partner in die künftige Entwicklung der Gesellschaft einbringen.5 Das kann aber nur gelingen, wenn dieses Netzwerk gemeinsam koordiniert und im besten Fall ökumenisch auftritt.
Dies ist aber nur ein Baustein unter unzähligen und nicht immer einfach umzusetzenden Ansatzpunkten für Veränderungen. Unter dem Titel „Kirche – ja bitte! Innovative Modelle und strategische Perspektiven gelungener Mitgliederorientierung" wurden aktuell wissenschaftliche Analysen, innovative Projekte und interdisziplinäre Fachexpertisen gesammelt.6 Im Zusammenspiel von Wissenschaft und Praxis wagt das ökumenische Netzwerk Mitgliederorientierung darin einen optimistischen Blick in die Zukunft. Mitglieder sowie Kirchenleitende sollen motiviert werden, nicht nur problemgerichtet auf die Erhaltung von gefährdeten Strukturen, sondern vielmehr mutig nach vorn zu blicken.
Dass die beiden Kirchen 2060 voraussichtlich „weniger, älter, ärmer" sind, ist in diesem Sinne nicht als Untergangs-Prophetie zu verstehen, sondern als Chance zur Besinnung auf die frohe Botschaft des Evangeliums.
Anmerkungen
1. Gemeinsame Pressemeldung von DBK und EKD vom 2. Mai 2019. Weiterführende Links: www.dbk.de/themen/kirche-und-geld/projektion-2060 sowie www.ekd.de/projek­tion2060
2. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz: Kirchliches Handbuch. Statistisches Jahrbuch der Bistümer im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz. Bonn, 2019, Tabelle 7.24, eigene Berechnung.
3. Vgl. für eine ausführliche Darstellung der Methodik sowie der Ergebnisse und Szenarien Gutmann, D.; Peters, F.: German Churches in Times of Demographic Change and Declining Affiliation: A Projection to 2060. In: Comparative Population Studies, 2019.
4. Der „GemeinwohlAtlas" wird erstellt vom Lehrstuhl für Wirtschaftspsychologie und Führung der HHL Leipzig ­Graduate School of Management in Kooperation mit dem Center for Leadership and Values in Society der
Universität St. Gallen. In den vier Gemeinwohldimensionen Aufgabenerfüllung, Zusammenhalt, Lebensqualität und Moral wird der gesellschaftliche Nutzen von deutschen sowie internationalen Organisationen und Institutionen untersucht und abgebildet. Vgl. www.gemeinwohlatlas.de
5.Vgl. hierzu die Handlungsfelder des kommunalen Entwicklungskonzepts der FamilienForschung Baden-Württemberg: Rat und Unterstützung für Familien/Kinderbetreuung, Bildung, Freizeit/Vereinbarkeit von Beruf und Familie/Älterwerden, Jung und Alt/Gesundheitsförderung/Integration und Interkulturelle Öffnung/Wohnen und Wohnumfeld, Verkehr. Mehr dazu hier.
6. Gutmann, D. et al.: Kirche – ja bitte! Innovative Modelle und strategische Perspektiven gelungener Mitgliederorientierung, Neukirchen-Vluyn, 2019.
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