Geflüchtete Jugendliche haben ein hohes Suchtrisiko – Prävention hilft
Die Zuwanderung von Geflüchteten stellt eine Herausforderung für die verschiedenen Bereiche der gesundheitlichen Versorgung dar. Dies gilt auch für die Suchthilfe. Bis dato gibt es nur wenige gesicherte Kenntnisse über die mit der Flüchtlingssituation verbundenen suchtspezifischen Risikofaktoren.1 Auch gibt es wenige Erkenntnisse hinsichtlich durchgeführter Suchthilfemaßnahmen mit dieser Klientel. Dabei ist die Ermittlung des tatsächlichen Gesundheitszustandes und des Suchtmittelkonsumverhaltens der seit 2015 nach Deutschland Geflüchteten die Grundlage für bedarfsgerechte, adäquate Hilfsangebote. Diese müssen auf- und ausgebaut werden. Im Fachdiskurs wird darauf hingewiesen, dass das Zusammenwirken von traumatisierenden Erfahrungen, einer neuen Lebenssituation sowie ungewissen Zukunftsaussichten das Risiko für (selbstmedikamentösen) Suchtmittelkonsum begünstigt.
Präventionsarbeit mit Geflüchteten
Im Vorfeld der Arbeit im Bereich der Suchtprävention
mit unbegleiteten minderjährigen Ausländer(inne)n
(umA) musste der Verein Jugendberatung und Jugendhilfe (JJ) zunächst klären, ob die Präventionsansätze so
umsetzbar sind, wie sie in Hessen im Rahmen der Vorgaben
durch die Rahmenkonzeption für Suchtprävention
vereinbart sind.
Aufgabe der Fachkräfte − basierend auf den Erfahrungen
in der suchtpräventiven Arbeit − ist es, geeignete
Methoden und Inhalte aus dem Portfolio Suchtprävention
zusammenzustellen und ein passendes
Paket für diese Zielgruppe zu schnüren. Herausgekommen
ist das Projekt „Stay clean“, eine Informationsveranstaltung
für jugendliche Geflüchtete in Jugendhilfeeinrichtungen:
„Stay clean“ ist eine Infoveranstaltung zum Thema Sucht für jugendliche Geflüchtete. Sie wird vom Verein Jugendberatung und Jugendhilfe (JJ) Frankfurt in Kooperation mit den Jugendhilfeeinrichtungen angeboten.
Es handelt sich um ein Gruppensetting, das in Sprachgruppen stattfindet und von Dolmetschern
begleitet wird. An der zweistündigen Veranstaltung können maximal zehn Jugendliche teilnehmen. Die
Jugendlichen werden vorab durch ihre Betreuer(innen) auf die Inhalte und Zielsetzung vorbereitet. Die
Teilnehmenden
füllen am Ende der Veranstaltung einen Feedbackbogen aus.
Ziel von „Stay clean“ ist es,
Jugendlichen Informationen zu Suchtmitteln und deren Gefahren zu vermitteln und über den Prozess der
Suchtentstehung zu informieren. Gruppendynamik, Reflexion der eigenen Rolle und Fragen nach dem
persönlichen Lebensentwurf sind weitere Themen.
Die Evaluation von „Stay clean“ in zwei Schritten
Zur Evaluation von „Stay clean“ wurden sowohl die Jugendlichen als auch die Gruppenleiter(innen) interviewt.2 Letztere sind der Meinung: Der Begrüßung und Informationsvermittlung zu Beginn der Sitzung komme eine wichtige Rolle zu, denn die Jugendlichen seien misstrauisch gegenüber dem Angebot. Dies zeige sich auch beim Ausfüllen der Evaluationsbögen. Die Jugendlichen wollten so wenig wie möglich von sich preisgeben. Ferner gebe es Verständigungsprobleme. Dolmetscher müssten einbezogen werden. Außerdem sei es sinnvoll, Sprachgruppen zu bilden.
Methodisch wurde genauso gearbeitet wie in Präventionsgruppen mit Nichtgeflüchteten. Einhellig sind die Expert(inn)en der Meinung, dass das Angebot von den Jugendlichen positiv aufgenommen wird. Hinsichtlich der persönlichen Unsicherheiten, Fragestellungen und Interessen gebe es keinen Unterschied zu den Präventionsgruppen mit Jugendlichen, die in Deutschland aufgewachsen sind.
Wie zufrieden sind die Jugendlichen mit dem Angebot?
Die Rückmeldungen der Jugendlichen zum Gruppenangebot „Suchtprävention“ waren überwiegend positiv:
- 87,5 Prozent der Jugendlichen geben an, dass sie das Thema Sucht „sehr“ beziehungsweise „eher“ interessiert hat.
- 52,7 Prozent stellen einen persönlichen Bezug her, wobei 29,1 Prozent auch sagen, dass das Thema sie persönlich überhaupt nicht betreffe.
- 86,5 Prozent geben an, dass ihnen im Rahmen der Veranstaltung nähergebracht werden konnte, was Jugendberatung und Suchthilfe sind.
- Die Bereitschaft, eine Beratungsstelle unter bestimmten Umständen aufzusuchen, ist mit knapp 80 Prozent Zustimmung sehr hoch. Erstaunlich angesichts der Aussage der Mitarbeiter(innen), dass die Jugendlichen Skepsis gegenüber Institutionen hätten und auch bei der Thematisierung des Suchtmittelkonsums eher zurückhaltend seien.
- 24,1 Prozent antworten auf die Frage, ob weitere solche Veranstaltungen gewünscht werden, mit „trifft sehr zu“. 27,8 Prozent antworten darauf mit „trifft gar nicht zu“.
- Die Jugendlichen bewerteten die Veranstaltung abschließend mit der Schulnote 1,7 (gut).
Wie sieht die Beratung aus?
In der Suchthilfe wird im Fall von Jugendlichen, die Erfahrungen mit Suchtmitteln haben, oftmals mit Methoden und Skills aus dem Bereich der Frühintervention gearbeitet (Gruppenangebote, Gesundheits- und Verhaltenstraining, Reflexion des eigenen Konsumverhaltens, Training zur Rückfallprävention, Strategien zur Stressbewältigung, Vermittlung in weiterführende Hilfen). Dieser Ansatz wurde auch mit Jugendlichen aus den umA-Einrichtungen erprobt. Parallel zu dem klassischen Beratungsangebot wurde ein spezielles Angebot entworfen, das auf die Zielgruppe zugeschnitten ist und hier kurz skizziert wird.3
Wie sieht die Beratung für Jugendliche aus umA-Einrichtungen aus?
Rahmenbedingungen:
- Anonym (ohne Anwesenheit von Betreuern);
- Begleitung durch vertraute Person, auf Wunsch können auch Bezugspersonen teilnehmen;
- Beratung in der Muttersprache (mit Dolmetscher);
- die Gespräche sollen zieloffen und kultursensibel sein, extern und anonym stattfinden;
- verpflichtende Einzelberatung mit insgesamt sechs Terminen.
Inhalte:
- Suchtmodell (in der westlichen Kultur);
- Vermittlung von Wissen über die Risiken des Konsums sowie, falls noch nicht vorhanden, von Wissen über Suchtmittel und deren Wirkungen;
- soziale und gesundheitliche Folgen einer Suchterkrankung;
- Gefahren in Bezug auf das Bleiberecht;
- Ursachen, Begleiterkrankungen, Erkennen der Funktionalität des eigenen Konsums;
- Förderung der individuellen Kompetenzen im Umgang mit Suchtmitteln;
- Verbesserung der Selbstfürsorge;
- Förderung und Unterstützung der Veränderungsbereitschaft bei riskantem oder abhängigem Konsum;
- Information über externe Beratungsangebote und Behandlungsmöglichkeiten;
- Therapiemöglichkeiten (im Hinblick auf Sucht oder Traumatisierung).
Wie sind die Erfahrungen?
Sprachbarrieren beeinträchtigen den Beratungsprozess. Verständnisprobleme bestehen nicht nur in sprachlicher, sondern auch in kultureller Hinsicht. Bei vielen Klient(inn)en überwiegt eindeutig ein somatisches Krankheitsverständnis: Psychische Faktoren entziehen sich ihrem Verständnis. Sucht gilt häufig als kulturell erlerntes Tabu. In den vorwiegend islamisch geprägten Herkunftsländern spielt Suchtprävention oder Aufklärung über Suchtgefahren eine marginale oder gar keine Rolle. Das Bild von staatlichen Institutionen ist oft von Vorerfahrungen mit Repression und Korruption in den Herkunftsländern geprägt. Auch Beratungsstellen wird mit Skepsis, Misstrauen oder Angst begegnet.
In der traditionellen Deutung des Korans gilt Suchtmittelkonsum als schwere Sünde. Die religiöse Stigmatisierung von Suchtmittelkonsum und Suchterkrankung auf der „Bühne“ eines weit verzweigten Familiensystems erschwert (beziehungsweise verunmöglicht) es, die Krankheit zu akzeptieren, Kontakt zum Hilfesystem aufzubauen sowie im Rahmen der Beratung / Betreuung / Behandlung das unmittelbare soziale Umfeld einzubeziehen.
Der Versuch von Geflüchteten, in der neuen Umgebung und Lebenssituation zumindest einen Teil ihres sozialen Status im Herkunftsland zu erhalten, wird in den Hilfeinstitutionen leicht als „Anspruchshaltung“ missverstanden. Kulturelle Codes verkomplizieren die Verständigung und können zu Missverständnissen und Fehlinterpretationen bei der Festlegung von Zielvereinbarungen führen. Die Herkunft aus „Männergesellschaften“ und die von den Jugendlichen verinnerlichte Orientierung an Männerrollen können die Beratung und Betreuung durch weibliche Fachkräfte erschweren. Solche Missverständnisse führten, nach Aussage der Expert(inn)en, jedoch nicht zur Blockade oder zum Verunmöglichen des Beratungsprozesses.
Wo steht die Suchthilfe mit Geflüchteten?
Suchtmittelkonsum spielt im Betreuungsalltag der stationären
Jugendhilfe eine Rolle, ist für die Mehrheit der
geflüchteten Jugendlichen jedoch kein vordringliches
Thema. Andere Probleme stehen im Vordergrund, solange der Aufenthaltsstatus nicht geklärt ist. Die Thematisierung des Konsums stößt in
der Prävention und Beratung auf sprachliche
Grenzen und kulturspezifische Besonderheiten.
Interkultureller Kompetenz kommt
daher eine wichtige Rolle zu, insbesondere
bei rechtlichen Fragen und scham- beziehungsweise
tabubesetzten Themen. Eine
zielgruppenabhängige
Dysfunktionalität
bestimmter Methoden konnte nicht festgestellt
werden.
Informationsorientierte Suchtpräventionsveranstaltungen sind sinnvoll. Sie werden angenommen. Im Fall derjenigen Jugendlichen, die regelmäßig konsumieren, kommt es darauf an, ein Problembewusstsein zu schaffen und ihnen das Suchthilfesystem näherzubringen.
Die Erfahrungen zeigen, dass die Suchthilfe bereits gut aufgestellt ist und auf bewährte Methoden und Konzepte zurückgreifen kann, wenn es darum geht, die Zielgruppe umA zu versorgen. Gleichwohl gilt es, die Angebote für Geflüchtete zu spezialisieren und den Zugang für die Zielgruppe zu erleichtern.
Anmerkungen
1. Erste empirische Untersuchungen liegen inzwischen
vor: Kuhn, S.; Zurhold, H.; Lehmann, K.;
Verthein, U.: Drogenkonsum und Hilfebedarfe
von Geflüchteten in Deutschland. Suchttherapie,
19/2018, Seiten 140–147.
2. Die Originalfassung finden Sie unter: https://jj-ev.de/newsletter
3. Über die verpflichtende Teilnahme hinaus ist in
den Suchtberatungsstellen der Jugendberatung und
Jugendhilfe Frankfurt festzustellen, dass auch
Geflüchtete, die noch nicht lange in Deutschland
sind, vermehrt die Beratungsstellen aufsuchen.
Caritas im Bistum Dresden-Meißen – ein wichtiger Player in der Sozialwirtschaft
Von der Caritas im Osten zum starken Verband im Norden
Fortschritt: mal im Schneckentempo und mal unter Hochdruck
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