„Offen und dialogbereit in die Zukunft“
Kirche ist nicht an bestimmte Verhältnisse gebunden. Sie kann überall - auch unter schwierigsten Umständen - Wurzeln schlagen, sich entfalten und ihrer Sendung gerecht werden. Das zeigt auch die Geschichte der katholischen Kirche in Mitteldeutschland: von der Reformation bis zum Zweiten Weltkrieg, unter sozialistischen Bedingungen zu DDR-Zeiten und seit 1989/90 in einer freiheitlich demokratischen Gesellschaft.
Heutzutage findet sich das Bistum Magdeburg in folgenden Rahmenbedingungen vor: Mit einem Territorium von 23.000 Quadratkilometern ist es in Deutschland flächenmäßig das viertgrößte der 27 Bistümer; das entspricht dem Staat Israel oder der Hälfte der Niederlande. Mit etwa 83.000 Katholikinnen und Katholiken ist es der Gläubigenzahl nach jedoch das zweitkleinste. Zum Vergleich: Zum Erzbistum Köln gehören mehr als zwei Millionen Katholik(inn)en, und das auf einer Fläche, die nur etwa einem Drittel des Bistums Magdeburg entspricht. Eine der Herausforderungen besteht also darin, dass nur wenige Katholik(inn)en über ein weites Gebiet verteilt sind und in der Gesamtbevölkerung nur etwa 3,4 Prozent ausmachen; 14,6 Prozent sind evangelisch, und mehr als 80 Prozent gelten als religionslos oder entkirchlicht. In Eisleben - dem Geburts- und Sterbeort Luthers - sollen sogar nur fünf Prozent evangelisch und drei Prozent katholisch sein. Statistisch ermittelt sind unter den Katholik(inn)en inzwischen dreizehn Prozent Ausländer(innen) aus über 100 Nationen und ähnlich viele Bürger(innen) aus den sogenannten alten Bundesländern. Demnächst werden die katholischen Christ(inn)en hier - vor allem aufgrund der demografischen Entwicklung (bis 2035 soll Sachsen-Anhalt noch etwa 10,6 Prozent der Bevölkerung verlieren) - sicher noch weniger werden.
Nach der Wende gewinnt Kirche an Bedeutung
Nach dem Jahr 1989 taten sich auch für die Katholik(inn)en in Mitteldeutschland neue Möglichkeiten und Probleme auf. Kirche war wieder zu einer öffentlich bedeutsamen Größe geworden. Noch vor der Bistumsgründung errichtete mein Vorgänger Bischof Leo Nowak bereits drei katholische Gymnasien. Später kamen noch vier Grundschulen und eine Sekundarschule hinzu. Damit ist das Bistum heute der größte freie Schulträger im Land Sachsen-Anhalt mit über 3000 Schüler(inne)n und über 220 Lehrer(inne)n. Von den Schüler(inne)n ist jedoch weniger als ein Drittel katholisch; an manchen dieser Schulen sind die konfessionslosen in der Mehrheit.
Im Bistum gibt es auch eine große Zahl karitativ-sozialer Einrichtungen wie Kindertagesstätten, Sozialstationen, Behinderten- und Altenpflegeheime, Krankenhäuser und Jugendclubs. Dazu gehören etwa 5000 Mitarbeitende. Außerdem wird vielfältige Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit betrieben.
Aufgrund der personellen und finanziellen Möglichkeiten spielt das Bistum Magdeburg im Vergleich mit den west- und süddeutschen Bistümern und den dort weithin anzutreffenden Standards jedoch in einer anderen Liga. Vieles - vor allem im Gemeindebereich (zum Beispiel bei Organist(inn)en und Küstern) - läuft überhaupt nur ehren- oder nebenamtlich. Zudem ist die gesellschaftliche Position auch viel schwächer als im Westen üblich. In den Medien der Region findet das Bistum darum verhältnismäßig wenig Beachtung, weil sich die große Mehrheit der Mitbürger(innen) angeblich nicht für Religion und Kirche interessiert; und manchen Journalist(inn)en aus dem Westen Deutschlands scheinen die Katholikinnen und Katholiken in Mitteldeutschland zu unwichtig zu sein, um sich überhaupt mit ihnen zu beschäftigen.
Deutlich unterscheidet sich Mitteldeutschland auch hinsichtlich der Lebensverhältnisse. So verändern sich zum Beispiel die Familienformen rasanter und radikaler als anderswo. Im Jahr 2013 - um nur ein Extrem zu nennen - lag der Anteil der Ehepaare an allen Familien mit minderjährigen Kindern in Baden-Württemberg bei 78 Prozent, in Sachsen-Anhalt jedoch bei nur 51 Prozent. Bei Lebensgemeinschaften und Alleinerziehenden verhält es sich im Ost-West-Vergleich entsprechend umgekehrt.
Dazu gehört auch, dass in den Pfarreien des Bistums unter den wenigen, die überhaupt noch kirchlich heiraten, die meisten Paare weder rein katholisch noch gemischtkonfessionell sind, sondern dass immer mehr Ehen mit religionslosen Partner(inne)n geschlossen werden.
Im Zusammenhang mit den gesellschaftspolitischen Veränderungen vor 28 Jahren hatten manche auch gehofft, dass eine deutliche Rückbesinnung auf das Christentum einsetze und die Kirchen wieder voller würden. Stattdessen ist seitdem die Entkirchlichung noch vorangeschritten, ist - so das Ergebnis einer internationalen Studie - der "Gottesglaube in Ostdeutschland der geringste weltweit". Manche sprechen von einer "forcierten Säkularität" oder von "ererbter Gottlosigkeit", andere halten die meisten ehemaligen DDR-Bürger für "religiös unmusikalisch", "religiös naturbelassen", "religionsresistent" oder "gottlos glücklich". Schillernder wird es noch, wenn der Erfurter Philosoph Eberhard Tiefensee formuliert: Ostdeutschland sei "so areligiös wie Bayern katholisch". Auf jeden Fall ist es in dieser Region "normal", keiner Kirche oder anderen Religion anzugehören. Während zu hören ist, dass Gott im Westen vielfach aus dem Herzen geschwunden sei, sei er im Osten auch aus dem Kopf entwichen. Die meisten hätten Gott nicht nur vergessen, sondern auch vergessen, dass sie ihn vergessen haben.
Viele finden es müßig, sich dem Thema Gott zu stellen
Da ist etwas dran. Viele wissen schon mit dem Begriff Gott nichts mehr anzufangen. Eine interessante These besagt sogar, dass man im Osten stolz darauf sei, damit rationaler und fortschrittlicher als die Westdeutschen zu sein, und dass man sich dieses Charakteristikum der eigenen Identität nicht auch noch rauben lasse. Viele - so meint Tiefensee - halten es für "müßig und irrelevant", sich solchen Themen wie Gott oder einem Leben nach dem Tod überhaupt zu stellen. Sie gestalten ihr Leben pragmatisch und sehen sich darin durch ein vorwiegend wissenschaftsgläubiges Weltbild bestätigt. Ethik scheine auch ohne Religion möglich zu sein; ein genereller Werteverfall sei nicht auszumachen. Andererseits gibt es unter den Ostdeutschen durchaus auch Nachdenkliche und Suchende. Und Einzelne finden sogar zum Christentum und lassen sich - was vor 1989 fast nicht vorkam - taufen.
Sich kirchlicherseits auf eine solche Befindlichkeit einzustellen, erfordert eine große Offenheit und einen langen Atem. Zweifellos wirken sich diese Umstände auch auf das Selbstverständnis der Kirche vor Ort, ihre gesellschaftliche Rolle und ihre ganz praktischen Vollzüge aus. Das aber heißt für die Katholiken des Bistums Magdeburg, sich nicht als ein "heiliger Rest Getreuer" in bergende Ghettos, sektiererische Zirkel oder kuschelige Wohlfühlgruppen zurückzuziehen und als geschlossene Gesellschaft zu bewahren, sondern sich kritisch und konstruktiv dem Pluralismus zu stellen und Gesellschaft mitzugestalten. Programmatisch wurde im Rahmen des Pastoralen Zukunftsgespräches im Bistum Magdeburg 2004 formuliert: "Wir wollen eine Kirche sein, die sich nicht selbst genügt, sondern die allen Menschen Anteil an der Hoffnung gibt, die uns in Jesus Christus geschenkt ist. Seine Botschaft verheißt den Menschen ‚das Leben in Fülle‘, auch dann, wenn die eigenen Möglichkeiten ausgeschöpft sind. Deshalb nehmen wir die Herausforderung an, in unserer Diasporasituation eine missionarische Kirche zu sein. Einladend, offen und dialogbereit gehen wir in die Zukunft."2 Dabei ist es auch wichtig, Kirche als öffentliche Größe im Bewusstsein zu halten und Religion durch ihre Gegner nicht ins private Abseits drängen zu lassen.
Ökumene wird wichtiger
Zudem sehen sich die Katholiken im "Lande Luthers" in besonderer Weise auch ökumenisch herausgefordert. Dazu heißt es in einer Positionsbeschreibung - ebenfalls 2004 - folgendermaßen: "In einer Situation, in der christlicher Glaube längst nicht mehr selbstverständlich ist, kommt dem Umgang der Kirchen miteinander sowie ihrem gemeinsamen Auftreten eine besondere Bedeutung für ihre Glaubwürdigkeit zu … Angesichts weit verbreiteter Gleichgültigkeit, von Vorurteilen und Gewohnheiten sind die Christen aufgerufen, in Wort und Tat gemeinsam vom Evangelium Zeugnis zu geben."3 Das wurde in der Vergangenheit auf vielfältige Weise versucht. Davon sind wir auch weiterhin überzeugt.
So verstehen wir uns heute - auch wenn die äußere Gestalt von Kirche sich noch dramatischer verändern wird als bisher - als eine schöpferische Minderheit, die in ökumenischem Geist und in Kooperation mit anderen gesellschaftlichen Partnern durchaus Möglichkeiten hat, auch in Zukunft vielfältig und lebendig Kirche zu sein.
Anmerkungen
1. Der Artikel geht zurück auf einen Vortrag von Bischof Gerhard Feige im Rahmen der Delegiertenversammlung des Deutschen Caritasverbandes im Oktober 2017 in Magdeburg.
2. Schleinzer, A., Sternal, R. (Hrsg.): Um Gottes und der Menschen willen - den Aufbruch wagen. Dokumentation des Pastoralen Zukunftsgespräches im Bistum Magdeburg, Leipzig, 2004, S. 38.
3. Ebd., S. 98 und 101.
„Nun sag, wie hast du’s mit der Religion?“
Die Qualität der Pflege ist eine Frage von persönlichen Werten
Zufriedenheit der Mitarbeitenden hängt sehr von den Führungskräften ab
Keine Vorfahrt für Rechts
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