Leistungen aus einer Hand bleiben das gemeinsame Ziel
Hatte das Bundesfamilienministerium unter Ministerin Schröder an einer inhaltlichen Debatte über eine "Große Lösung" kein erkennbares Interesse, ist das unter Ministerin Schwesig anders geworden. Das Ressort ist nicht nur zu einem Befürworter einer Zusammenführung aller Kinder und Jugendlichen mit und ohne Behinderungen im Kinder- und Jugendhilferecht geworden, es hat die Diskussion beflügelt, so dass die Fachwelt wieder die Perspektive einer - zuvor genannten - "großen" Lösung diskutiert, die jetzt programmatischer und richtiger Inklusive Lösung heißt.
Bereits bei der Verabschiedung des SGB VIII wurde die Inklusive Lösung diskutiert und anschließend immer wieder, wenn auch mit unterschiedlicher Intensität und von verschiedenen Protagonisten.
Eingliederungshilfe im KJHG war ein erster Schritt
Mit dem 1990 eingebrachten und zum 1. April 1993 in Kraft getretenen Ersten SGB-VIII-Änderungsgesetz gab es einen Schritt in die richtige Richtung, indem die Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche dem KJHG zugeordnet wurde. Neuen Schwung bekam die Diskussion durch den 13. und 14. Kinder- und Jugendhilfebericht sowie vor allem durch konkrete Umsetzungsvorschläge einer von der Arbeits- und Sozialminister- sowie der Jugend- und Familienministerkonferenz 2008 eingesetzten Arbeitsgruppe, an der Bund (BMAS, BMFSFJ), Länder, Kommunale Spitzenverbände (Deutscher Landkreis- und Städtetag) und die Bundesarbeitsgemeinschaften der Landesjugendämter und der überörtlichen Sozialhilfeträger mitwirkten. Fazit dieser AG war: "Die Arbeitsgruppe spricht sich … mehrheitlich für eine Große Lösung im SGB VIII und die Schaffung eines neuen Leistungstatbestandes ,Hilfen zur Entwicklung und Teilhabe‘ für Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderungen im SGB VIII aus."1
Auf Basis der 2013er-Daten wäre bei einer realisierten Inklusiven Lösung die Kinder- und Jugendhilfe für insgesamt circa 1,3 Millionen Kinder und Jugendliche zuständig - mehr als eine Million aus der bisherigen Kinder- und Jugendhilfe herkommend und etwa 260.000 aus der Eingliederungshilfe. Der Leistungsumfang betrüge etwa 11,1 Milliarden Euro - 8,7 Milliarden auf Grundlage des jetzigen SGB VIII und 2,4 Milliarden durch Ansprüche des heutigen SGB XII.2
Die Forderung nach einer inklusiven Lösung leitet sich nicht nur aus der Verpflichtung ab, die UN-Kinderrechts- und die Behindertenrechtskonvention konkret umzusetzen und Inklusion zu einem Leitprozess gesellschaftlicher Entwicklung zu machen, sondern auch aus offensichtlichen Mängeln der derzeitigen zersplitterten Zuständigkeiten.
Artikel 7 Absatz 1 der UN-Behindertenrechtskonvention besagt: "Die Vertragsstaaten treffen alle erforderlichen Maßnahmen, um zu gewährleisten, dass Kinder mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen Kindern alle Menschenrechte und Grundfreiheiten genießen können."3 Was mit Gleichberechtigung gemeint ist, wird noch deutlicher, wenn man die englische ("on an equal basis") oder die französische Übersetzung ("sur la base de l’égalité") liest. Eine Differenzierung von Kindern und Jugendlichen dahingehend, ob sie behindert sind oder nicht beziehungsweise welcher Art ihre Behinderung ist, wird dem nicht gerecht. Übrigens ebenso wenig der UN-Kinderrechtskonvention, die in Artikel 23 Absatz 3 einfordert, dass "Erziehung, Ausbildung, Gesundheitsdienste, Rehabilitationsdienste, Vorbereitung auf das Berufsleben und Erholungsmöglichkeiten dem behinderten Kind tatsächlich in einer Weise zugänglich sind, die der möglichst vollständigen sozialen Integration und individuellen Entfaltung des Kindes einschließlich seiner kulturellen und geistigen Entwicklung förderlich ist."4
Viele Kinder und Jugendliche sowie ihre Eltern erleben im Alltag, wozu die unterschiedliche Zuständigkeit von SGB VIII und XII führt. In "Fallvignetten" stellt das Deutsche Institut für Jugendhilfe und Familienrecht e.V. an neun Beispielen dar, wie Verschiebebahnhöfe von der Kinder- und Jugendhilfe zur Sozialhilfe und umgekehrt zulasten von Kindern, Jugendlichen und Eltern entstehen, welche Angebotslücken sich auftun, wie teure und schlechtere Leistungen anstelle von günstigeren und bedarfsgerechteren gewährt werden und wie die Verwaltungs- und Sozialgerichte wegen Zuständigkeitsstreitereien belastet werden.
Fallvignette zeigt Probleme
Um ein Beispiel zu nennen: Die Eltern eines an Trisomie 21 erkrankten Mädchens stellen beim örtlich zuständigen Sozialhilfeträger einen Antrag auf Eingliederungshilfe in Form einer Familienpflege. Das Sozialamt bewilligt das und bittet das Jugendamt, eine geeignete Pflegefamilie zu suchen. Alle Bemühungen scheitern daran, dass die Sozialhilfe im Gegensatz zur Kinder- und Jugendhilfe weder eine Beratung noch Unterstützung noch Hilfeplanung bieten kann und zudem Pflegeeltern in geringerem Maß finanziell unterstützt. Eine alternativ angedachte Unterbringung in einer vollstationären Einrichtung der Behindertenhilfe kommt nicht zustande, weil sich der zuständige überörtliche Sozialhilfeträger nicht länger als zuständig ansieht, da er sich auf eine Fristüberschreitung beruft.5 Folgen dieses unwürdigen Streits sind ein gegebenenfalls falsch oder unterversorgtes Mädchen und überlastete Eltern.
Klärungsbedarfe
In dem bereits angesprochenen Bericht der ASMK/JFMK-Arbeitsgruppe wird die Empfehlung für eine Inklusive Lösung allerdings unter den Vorbehalt einer Klärung von offenen Fragen gestellt. Dem haben sich die beiden Ministerkonferenzen 2013 angeschlossen. So war zu klären,
- wie der Leistungstatbestand lautet und wo er verankert sein soll,
- wer die Leistungsberechtigten sind,
- wie der Leistungskatalog ausgestaltet werden soll,
- welche Instrumente zur Leistungsfeststellung sinnvoll sind,
- wie und wann der Übergang aus dem SGB VIII in das SGB XII erfolgen soll, wenn die Behinderung absehbar über das Jugendalter andauert
- und natürlich, welche Kostenfolgen für die Länder und Kommunen eine Inklusive Lösung hat.
Heute können wir Antworten auf alle Fragen6 geben - vor allem, weil das BMFSFJ Initiativen ergriffen hat, um offene Fragestellungen zu klären und die Zielperspektiven rechtlich umsetzen zu können. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Beitrages von Karin Böllert in diesem Heft auf S. 9ff und dieses Artikels liegt gegebenenfalls ein Referentenentwurf vor, den wir heute jedoch noch nicht kennen.
Auf Basis bereits veröffentlichter Textteile und von Präsentationen bewerte ich folgende Aspekte positiv:
- Einheitlicher Tatbestand
In § 27 SGB VIII soll durch einen einheitlichen Tatbestand ein Zugang für alle Kinder mit und ohne Behinderungen zu Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe geschaffen werden. Das ist der Durchbruch für die Inklusive Lösung. Allerdings wäre es wichtig, neben der Entwicklung und Teilhabe auch den Erziehungsaspekt hervorzuheben. Er ist konstitutiver Bestandteil im Verhältnis von Eltern zu ihren Kindern. Dass Entwicklung und Erziehung nicht gleichzusetzen sind, kommt bereits im ersten programmatischen Satz des SGB VIII zum Ausdruck: "Jeder junge Mensch hat ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit." - Das Kind als Leistungsberechtigter
Kinder oder Jugendliche werden zu Leistungsberechtigten. Damit wird einer der "wesentlichen ,Webfehler‘ des SGB VIII"7 beseitigt und zudem die Intention der Kinderrechtskonvention umgesetzt, Kinder als Subjekte anzusehen und zu behandeln. Falsch wäre aber, die Ansprüche von Kindern und Jugendlichen und von Eltern gegeneinander auszuspielen. Entwicklung, Erziehung und Teilhabe bedingen vielmehr, dass auch Eltern leistungsberechtigt sein müssen - und zwar unabhängig vom Anspruch ihrer Kinder. - Teiloffener Leistungskatalog
Ein teiloffener Leistungskatalog setzt die Leistungsausgestaltung des SGB VIII fort und ist damit offen für neue oder ungewöhnliche "geeignete und notwendige Leistungen". Im Detail wird jedoch zu prüfen sein, ob die benannten Leistungen nicht zu einer Ausweitung von Leistungsberechtigten und damit zu Mehrkosten führen beziehungsweise ob vorrangige Systeme, wie zum Beispiel die Schule, nicht auf Kosten der Kinder- und Jugendhilfe entlastet werden und sich so einem umfassenden Inklusionsanspruch entziehen können, der auch für sie gelten muss. - "Leistungs-" statt "Hilfeplanung"
Gegenüber der Eingliederungshilfe ist die Kinder- und Jugendhilfe in vielen Aspekten auf Aushandlung ausgelegt zwischen Leistungsträgern, -erbringern und -berechtigten. Deutlich wird das unter anderem in der Hilfeplanung nach § 36. Diese zu stärken, sie differenzierter zu beschreiben, verbindlichere Vorgaben zu machen und sie als "Leistungsplanung" zu bezeichnen ist richtig. Auch wenn der Begriff sperrig ist, ist zu bedenken, dass der Terminus Hilfe "ein Über- beziehungsweise Unterordnungsverhältnis"8 impliziert. Umso mehr gilt es zu bedenken, wie der sozialpädagogische Beratungs-, Aushandlungs- und Planungsprozess, bei dem eine Verständigung darüber gesucht werden muss, welche Hilfe geeignet und notwendig ist, konkret ausgestaltet werden soll. Normen, die zu einer Bürokratisierung und zu paternalistischen Entscheidungsstrukturen führen könnten, würden dem entgegenstehen. - Übergang zur Behindertenhilfe
Den Übergang in das Leistungssystem der Behindertenhilfe zu gestalten und alle Leistungsträger daran zu beteiligen ist notwendig. Fraglich ist jedoch das Alter, zu dem das geschehen soll. Dass grundsätzlich das 18. Lebensjahr die Altersgrenze zwischen Kinder- und Jugendhilfe und Eingliederungshilfe sein soll, führt zum einen dazu, dass zu diesem Zeitpunkt genau das vollzogen werden muss, was die Inklusive Lösung im Grundsatz vermeiden will: die Diagnose, ob es sich um eine erzieherische oder teilhabebezogene Leistung handelt. Zudem würde diese Altersgrenze diejenigen stärken, die die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe generell mit Vollendung des 18. Lebensjahr beenden wollen. Die aktuelle Care-Leaver-Debatte wird so ad absurdum geführt, auch wenn im neuen § 28 ausdrücklich Leistungen zur Verselbstständigung junger Volljähriger verankert sind. Insofern wäre es fachlich besser, den Zuständigkeitswechsel zum vollendeten 21. Lebensjahr zu vollziehen, es sei denn, die Voraussetzungen für Hilfen für junge Volljährige sind erfüllt. Allerdings sollte spätestens ab dem 17. Lebensjahr beziehungsweise mit Erreichen der Berufsfindungsphase eine verpflichtende Kooperation zwischen Jugend- und Sozialämtern beziehungsweise Agenturen für Arbeit in das Gesetz aufgenommen werden. Leistungen der Teilhabe am Arbeitsleben sollten generell in der Zuständigkeit der Sozialhilfeträger liegen.
Karin Böllert geht in ihrem Artikel auf S. 9ff in diesem Heft auf Zweifel und Skepsis gegenüber der geplanten SGB-VIII-Reform ein, die weit über die Inklusive Lösung hinausgehen soll - so sind etwa vor allem auch Änderungen bei den Hilfen zur Erziehung vorgesehen -, und stellt dazu Fragen, die eine Orientierung für die Bewertung des Referentenentwurf sind. Es gilt, achtsam zu sein. Die Prinzipien der Kinder- und Jugendhilfe, die unter anderem durch die Begriffe Rechtsanspruch, Wunsch- und Wahlrecht, Beteiligung, Aushandlungsprozess, Kooperation, einheitliche, nicht zwischen Personengruppen differenzierte Leistungsansprüche, Fachlichkeit, Leistungsplanung und -steuerung zum Ausdruck kommen, dürfen nicht verletzt oder infrage gestellt werden. Wer die Kritik der Behindertenselbsthilfe am Gesetzentwurf des Bundesteilhabegesetzes verfolgt, kann erkennen, in welchem Ausmaß ein zentrales gesellschaftspolitisches Reformprojekt bei denjenigen auf Ablehnung stößt, die zuvor vehemente Befürworter waren - siehe die Kampagne "Nicht mein Gesetz"9. Hoffen wir, dass die andere sozialdemokratische Ministerin, die gesellschaftspolitische Themen vertritt, dem Sozialen die notwendige Bedeutung beimisst.
Anmerkungen
1. Bericht der von der ASMK und JFMK eingesetzten Arbeitsgruppe "Inklusion von jungen Menschen mit Behinderung" vom 5. März 2013, S. 5, https://www.jfmk.de/pub2013/TOP_5.5_Bericht_AG_zur_Inklusion_(mit_Anlagen).pdf
2. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugendliche: Vom Kind aus denken! Kinder und Jugendliche stärken - Die Reform des SGB VIII. Berlin, 11. März 2016, Folie 7.
3. Beauftragter der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen: Die UN-Behindertenrechtskonvention. Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Berlin, 2014, S. 19.
4. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Übereinkommen über die Rechte des Kindes. VN-Kinderrechtskonvention im Wortlaut mit Materialien. Berlin, 52014, S. 19f.
5. Deutsches Institut für Jugendhilfe und Familienrecht e.V. (DIJuF): Fallvignetten. Geteilte Leistungszuständigkeit von Jugendhilfe und Sozialhilfe und ihre Auswirkungen auf junge Menschen mit Behinderung. Heidelberg, 2015, S. 3 f.
6. Siehe auch: Diehl, H.; Fischer, C.; Miles-Paul, O.; Lohest, K.P.; Porr, C.; Scholten, B.: Wenn nicht jetzt, wann dann?! Zum aktuellen Stand der Debatte um eine Inklusive Lösung. In: Dialog Erziehungshilfe 1/2016, S. 14-22.
7. Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe (Hrsg.); Wabnitz, R.J.: 25 Jahre SGB VIII. Die Geschichte des Achten Buches Sozialgesetzbuch von 1990 bis 2015, S. 399.
8. Schmid-Obkirchner, H.: Grußwort "25 Jahre KJHG": Von der integrativen zur inklusiven Kinder- und Jugendhilfe. In: Dialog Erziehungshilfe 2/2015, S. 5-12, hier: S. 10.
9. http://nichtmeingesetz.de
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