Brexit-Folgen für das soziale Europa sind noch unklar
Nachdem die Briten am 23. Juni 2016 mit knapp 52 Prozent für einen Ausstieg ihres Landes aus der EU gestimmt haben, stellt sich auch die Frage nach dem weiteren Verfahren und den Konsequenzen für die europäische Sozialpolitik. Obwohl die im Vorfeld des Referendums zwischen der EU und Großbritannien ausgehandelten Ausnahmen bei Sozialleistungen für EU-Bürger(innen) nun nicht zum Tragen kommen, ist keineswegs sicher, dass es ohne das Vereinigte Königreich zu einer Vertiefung der europäischen Sozialpolitik kommt.
Sollte Großbritannien seinen Austrittswunsch formal gegenüber der EU erklären - das Ergebnis des Referendums selbst hat keine rechtliche Außenwirkung und ist auch innerstaatlich unverbindlich -, wird das zukünftige Verhältnis zwischen Großbritannien und der EU in einem Austrittsvertrag bestimmt werden. Das Vereinigte Königreich könnte dabei seine Beziehungen zur EU nach dem Vorbild von Norwegen oder der Schweiz regeln. Dies würde bedeuten, dass Großbritannien weiter Zugang zum EU-Binnenmarkt erhält - im Gegenzug aber auch die vier Grundfreiheiten des Binnenmarktes1, einschließlich der Arbeitnehmerfreizügigkeit, akzeptieren müsste. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit ermöglicht EU-Bürger(inne)n, eine Arbeit in einem anderen Land zu den gleichen Bedingungen (diskriminierungsfrei) wie Einheimische auszuüben. Im Vorfeld des Referendums hatte Großbritannien hingegen Einschränkungen hinsichtlich der Zahlung von Sozialleistungen an EU-Bürger(innen), die von der Arbeitnehmerfreizügigkeit Gebrauch machen, ausgehandelt (siehe auch neue caritas Infoservice Europa vom 26. Februar 2016):
- Ein sogenannter "Notfallmechanismus" hätte dem Vereinigten Königreich erlaubt, die im britischen Recht vorgesehenen Aufstockungsleistungen zugunsten von Geringverdiener(inne)n für Arbeitnehmer(innen) aus anderen EU-Mitgliedstaaten für mehrere Jahre zu beschränken.
- Ebenso war eine "Anpassbarkeit" (Indexierung) bei der Zahlung von Kindergeld für nicht in Großbritannien lebende Kinder vereinbart. Damit hätte britisches Kindergeld, das beispielsweise einem im Vereinigten Königreich arbeitenden polnischen Arbeitnehmer für seine in Polen lebenden Kinder zusteht, auf den polnischen Lebensstandard abgesenkt werden können.
Diese ausgehandelten Einschränkungen sind nun hinfällig, da es Bedingung für ihre Umsetzung war, dass das Vereinigte Königreich EU-Mitglied bleibt. Denkbar ist jedoch, dass die verbleibenden EU-Staaten einzelne Änderungen mittelfristig dennoch umsetzen, da es beispielsweise in der deutschen Politik Sympathien für eine Indexierung des exportierbaren Kindergeldes gibt.
Im Übrigen ist völlig unklar, ob es ohne Großbritannien zu einer Weiterentwicklung der europäischen Sozialpolitik kommen wird. Schließlich ist die Diskussion in vollem Gange, ob es nach dem Austrittsreferendum der Briten "mehr" (einschließlich eines Mehr an europäischer Sozialpolitik) oder "weniger EU" bedarf. Die Meinungen unterscheiden sich dabei nicht nur nach politischen Lagern; es wird darauf verwiesen, dass ein sozialeres Europa
bislang nicht nur von Großbritannien, sondern auch von anderen EU-Staaten blockiert wurde.
Durch den Austrittsvertrag mit Großbritannien ändert sich möglicherweise aber nur wenig: In den Vereinbarungen der EU mit den Nicht-EU-Staaten Norwegen und Schweiz sind jedenfalls Regelungen für eine flankierende Sozialpolitik vorgesehen; die Länder müssen sich sogar finanziell an Hilfen für strukturschwache Gebiete beteiligen. Nach Einschätzung des EU-Haushaltspolitikers Jens Geier ist dabei auch keineswegs sicher, dass Großbritannien bei einem EU-Austritt günstiger wegkäme: Das Nicht-EU-Land Norwegen zahle derzeit beispielsweise 107 Euro pro Einwohner und Jahr in den EU-Haushalt, Großbritannien als EU-Land nur 77 Euro.
Das weitere Verfahren
Das Verfahren für den EU-Austritt eines Landes ist in Artikel 50 des Vertrages über die Europäische Union geregelt. Danach erklärt ein Land zunächst seine Absicht auszutreten, dann beginnt eine zweijährige Frist zur Aushandlung eines Austrittsvertrages, der die Details des Austritts regelt. Die Frist kann mit Zustimmung von Großbritannien und allen EU-Staaten verlängert werden. Unklar ist weiterhin, wann Großbritannien seine Absicht auszutreten formal erklären wird und damit die zweijährige Frist auslöst. Aus britischer Sicht ist ein Abwarten zweckmäßig, um nicht nur die eigene politische Führung neu zu bestimmen, sondern sich auch detailliert zu überlegen, was man in den Austrittsverhandlungen für die Nach-EU-Zeit erreichen will. Denn sobald die zweijährige Frist anläuft, ist der Verhandlungsdruck groß: Wird innerhalb der Frist keine Einigung erzielt (und die Frist nicht verlängert), finden die EU-Verträge automatisch keine Anwendung mehr. Großbritannien wäre dann ohne Übergangslösung vom Binnenmarkt und von EU-Fördergeldern abgeschnitten. Aus EU-Sicht ist hingegen wichtig, dass schnell Klarheit geschaffen wird, damit die Europäische Union nicht durch anhaltende Unsicherheit gelähmt wird.
Reaktionen aus Kirche und Caritas
Caritas Europa veröffentlichte eine Stellungnahme2, in der das Netzwerk die Brexit-Entscheidung als eine weitere Herausforderung für die europäische Solidarität einstuft: "All das, was im Umfeld des Referendums passiert ist, zeigt - einmal mehr im Europa der letzten Jahre -, wie die Zusammengehörigkeit herausgefordert wird: innerhalb des Vereinigten Königreichs und in Bezug auf das Europäische Projekt, ein Konzept, das weit über den institutionellen Rahmen der aktuellen EU hinausgeht." Auch die Kommission der Bischofskonferenzen der EU (COMECE) wertete den "bewussten Austritt eines Mitglieds" aus dem "solidarischen Gemeinschaftsprojekt" EU als "schmerzhaft". Reinhard Kardinal Marx, Präsident der COMECE, mahnte, dass "die Schwächsten und die am leichtesten Verwundbaren weder im Vereinigten Königreich noch in der Europäischen Union Opfer des Verhandlungsprozesses werden dürften".3 Die Bischofskonferenz von England und Wales erinnerte daran, dass "zwar die politischen Führer eine wichtige Rolle beim Verhandeln mit den anderen Regierungen haben, alle von uns aber die Verantwortung dafür tragen,
die Zukunft in einer Weise zu gestalten, die unsere Zusammengehörigkeit anerkennt"4.
Anmerkungen
Dieser Artikel beruht auf einer Brexit-Ersteinschätzung für den Newsletter "neue caritas Infoservice Europa", der am 24. Juni 2016 versandt wurde. Sie können den circa einmal monatlich erscheinenden Infoservice abonnieren, indem Sie eine E-Mail mit Bitte um Aufnahme in den Verteiler an euvertretung@caritas.de senden.
1. Unter den vier Grundfreiheiten des europäischen Binnenmarktes versteht man den freien Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital.
2. www.caritas.eu/news/brexit-europe-what-is-happening-to-you?
3. Alle COMECE-Zitate aus: www.comece.eu/es-ist-zeit-fuer-europa-nach-vorne-zu-schauen
4. www.catholicnews.org.uk/Home/News/Bishop-Lang-on-EU
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