„Vergessene“ frühere Heimkinder in der Behindertenhilfe
In der DDR und der jungen Bundesrepublik gab es in Heimen der Kinder- und Jugendhilfe, in Behinderteneinrichtungen und in Psychiatrien schwere Missstände. Der Alltag war für viele Heimkinder von traumatisierenden Lebens- und Erziehungsverhältnissen geprägt. Zum Teil wirken die Folgen dieser Erlebnisse noch bis heute nach. Betroffene schwiegen jahrzehntelang aus Scham, Furcht vor öffentlicher Stigmatisierung und aus Angst, als unglaubwürdig zu gelten. Erst in den letzten Jahren wagten immer mehr ehemalige Heimkinder, von Repressalien, Misshandlungen und auch Missbrauch zu berichten. Neben vielen staatlichen waren auch konfessionelle Einrichtungen involviert: Viele ehemalige Heimkinder, die zwischen den 50er Jahren und Mitte der 70er Jahre dort gelebt hatten, erhoben schwere Vorwürfe gegen Geistliche, Ordensschwestern, Anstaltsärzte, Erzieher(innen) sowie sonstiges Personal. Für die damaligen Kinder und Jugendlichen, die in der DDR im Zeitraum zwischen 1949 und 1990 in Heimen untergebracht waren, sowie für ehemalige Heimkinder, die von 1949 bis 1975 in Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen der Bundesrepublik Leid und Unrecht erfahren hatten, wurden 2012 zwei Fonds errichtet.
Die bundesweite Lösung hatte zuvor der "Runde Tisch Heimerziehung" erarbeitet und dem Deutschen Bundestag im Januar 2011 im Abschlussbericht vorgestellt.
Der "Fonds Heimerziehung West" soll mit seinen Leistungen die Minderung von Rentenansprüchen ausgleichen: In Fällen, in denen es aufgrund seinerzeit nicht gezahlter Sozialversicherungsbeiträge zu einer Minderung von Rentenansprüchen gekommen ist, soll mithilfe des Fonds ein finanzieller Ausgleich gewährt werden. Außerdem geht es um die Anerkennung des Leids für Folgeschäden der Heimerziehung, wenn besonderer Hilfebedarf aufgrund von Schädigungen durch die Heimerziehung vorliegt.
Die seinerzeitigen Kinder und Jugendlichen, die im betreffenden Zeitraum in Behinderteneinrichtungen oder in der Psychiatrie untergebracht waren, sind jedoch von den Fondsleistungen ausgeschlossen. Angesichts vergleichbarer schlimmer Erlebnisse ist diese Ungleichbehandlung empörend und im Zeitalter der politisch gewollten Inklusion ein Skandal!
Nachdrückliches Lobbying für Opfer mit Behinderung
Für die betroffenen Personen aus dem Franz Sales Haus, die zum Teil durch Fehldiagnosen von externen Ärzt(inn)en in die Einrichtung eingewiesen worden waren, ist diese Exklusion ein doppelter Schlag. Viele von ihnen haben sich daher hilfesuchend an das Franz Sales Haus gewandt.
Unsere Einrichtung hat sich von Anfang an mit Nachdruck für eine Gleichbehandlung eingesetzt. Schon während der Arbeit des "Runden Tisches Heimerziehung" hatte ich Kontakt zu dessen Vorsitzender Antje Vollmer aufgenommen, um auf die massive Ungleichbehandlung hinzuweisen, und darum gebeten, dass eine Lösung für die ehemaligen Heimkinder aus der Behindertenhilfe gefunden wird. Wir haben mehrere Petitionen an den Bundestag und den Landtag gerichtet, im Franz Sales Haus und in Berlin Gespräche mit den Behindertenbeauftragten des Landes NRW und der Bundesrepublik, mit dem zuständigen Bundessozialministerium sowie mit zahlreichen Bundes- und Landespolitiker(inne)n geführt.
Eine Fondslösung für alle Betroffenen gefordert
Auch die beiden großen Kirchen und die Fachverbände BeB (Bundesverband evangelische Behindertenhilfe) und CBP (Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie) setzten sich in den letzten Jahren mit Nachdruck für eine einheitliche Fondslösung für alle ehemaligen Heimkinder beziehungsweise die Errichtung eines zusätzlichen Hilfsfonds für ehemalige Heimkinder aus Einrichtungen der Behindertenhilfe ein. Das ist wichtig, denn die einzelnen betroffenen Einrichtungen werden zwar gehört, sind aufgrund der Vielschichtigkeit der Fragestellungen aber nicht ausreichend handlungsfähig: Die Vita vieler Heimkinder weist mehrere Heimstationen auf, und diverse Beispiele aus dem Franz Sales Haus zeigen, dass die betreffenden Personen häufig auch in Einrichtungen der Jugendhilfe und/oder in psychiatrischen Anstalten untergebracht waren.
Aufgrund des Protests gegen den Ausschluss Betroffener aus Behindertenhilfe und Psychiatrie vom Hilfsfonds "Heimerziehung West" signalisierte das Bundesministerium für Arbeit und Soziales schließlich 2014 die Bereitschaft des Bundes zur Mitfinanzierung eines "Fonds II", der Mittel für die bislang benachteiligte Klientel bereitstellen soll. Allerdings konnte das Ministerium bislang keinen Zeitpunkt benennen, zu dem mit einer Gleichstellung zu rechnen ist.
Zuletzt scheiterte die konkrete Umsetzung im November 2014 bei der Arbeits- und Sozialministerkonferenz an der fehlenden Zustimmung der Bundesländer, die Zweifel hatten, ob "dieser Weg geeignet ist, das erfahrene Leid und Unrecht auszugleichen". Ein weiteres Argument für die Ablehnung des Fonds war die unbekannte Anzahl der potenziellen Antragsteller. Bei den bestehenden Heimkinderfonds Ost und West war dies nie Thema. Die Betroffenen haben diese Entscheidung mit Fassungslosigkeit aufgenommen und fühlen sich ohnmächtig. Viele von ihnen sind mittlerweile betagt, krank oder fühlen sich - oft aus Angst vor erneuter Abweisung - nicht in der Lage, gegen diese Ungleichbehandlung zu protestieren.
Forschung und Aufarbeitung im Franz Sales Haus
Auch im Franz Sales Haus, einer Einrichtung für Menschen mit geistigen und psychischen Behinderungen in Essen, waren in den 50er und 60er Jahren Kinder und Jugendliche untergebracht, die erst heute über ihre traumatischen Erlebnisse sprechen. Die Schilderungen der Zustände gleichen denen von Betroffenen aus Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen. Für uns waren diese Berichte nach heutigem Ermessen zunächst unfassbar und unerklärlich. Daher entschloss sich das Franz Sales Haus unmittelbar nach dem Bekanntwerden der Vorwürfe zu einer sorgfältigen, umfassenden und objektiven Aufarbeitung des betreffenden Zeitraums. Ziel war es, die Ereignisse in der Vergangenheit möglichst genau zu analysieren, um daraus für die Zukunft der Einrichtung eine Lehre ziehen und präventiv tätig werden zu können. Aber auch, um den Betroffenen mit unseren heutigen Möglichkeiten individuelle Hilfestellung bei der Verarbeitung der schrecklichen Ereignisse zu geben und das Leid der Opfer öffentlich anzuerkennen.
Gemeinsam mit ehemaligen Heimkindern sowie Wissenschaftler(inne)n der Ruhr-Universität Bochum haben wir versucht, die damaligen Umstände zu rekonstruieren, Ursachen zu erforschen und die Täter zu benennen. Für die Art der Aufarbeitung, die für alle Mitwirkenden schwierig war, gab es letztlich von vielen Seiten Zuspruch. Die Betroffenen empfanden diesen Weg ebenso wie Politiker und Verbände als richtig, mutig und konsequent.
Zu Beginn wurden regelmäßige Treffen der ehemaligen Heimbewohner initiiert, an denen ich gemeinsam mit unserem Missbrauchsbeauftragten und einem externen Psychotherapeuten, der auf die Therapie traumatisierter Missbrauchsopfer spezialisiert ist, teilgenommen habe. Den Betroffenen tat es sichtlich gut, offen über das Erlebte zu sprechen und bei der heutigen Einrichtungsleitung Gehör sowie Glauben zu finden. Außerdem wurde der Austausch mit anderen Opfern von Gewalt und Willkür, die in der Einrichtung Ähnliches erlebt hatten, von den Betroffenen als sehr stärkend empfunden.
Neben konkreten Sachleistungen, der Vermittlung von Ärzt(inn)en und Therapeut(inn)en und der Übernahme dadurch entstehender Kosten sowie zahlreichen Kriseninterventionen und der individuellen Betreuung, Begleitung und Hilfestellung entschloss sich das Franz Sales Haus abschließend, den Betroffenen auf Antrag zusätzlich eine freiwillige finanzielle Leistung in Anerkennung des in der Einrichtung erlittenen Leids zu zahlen.
Publikationen hilfreich für die Bewältigung
Die Ergebnisse der Aufarbeitung wurden in zwei Büchern dokumentiert und 2013 veröffentlicht: In dem Buch "Die (fast) vergessenen Heimkinder" des Franz Sales Hauses werden alle Aufarbeitungsbereiche von der persönlichen Unterstützung bis zur Analyse der Verantwortlichkeit ausführlich dargestellt. Außerdem schildert das Buch exemplarisch Schicksale Betroffener und lässt die an der Aufarbeitung beteiligten ehemaligen Bewohner(innen) zu Wort kommen. Der Psychotherapeut Michael Stiels-Glenn berichtet in dem Buch zudem über die Arbeit und über Ergebnisse des Runden Tisches im Franz Sales Haus und hat eine spannende Gegenüberstellung von Erinnerungen und Akteneinträgen zusammengetragen.
Die Rekonstruktion und Aufarbeitung der damaligen Verhältnisse im Essener Franz Sales Haus vermag Vorgänge und Lebensverläufe in den Heimen und Anstalten nicht ungeschehen zu machen, half den Mitwirkenden aber bei der persönlichen Verarbeitung des Erlebten. "Durch die Veröffentlichung der wissenschaftlichen Aufarbeitung sowie der Lebensläufe ehemaliger Bewohner hat das Franz Sales Haus dazu beigetragen, dass das zu Unrecht verdrängte Schicksal der Heimkinder in Deutschland ins gemeinsame öffentliche Bewusstsein gerückt wird", erklärte Wilhelm Damberg, Inhaber eines kirchengeschichtlichen Lehrstuhls an der Ruhr-Universität Bochum, anlässlich der Veröffentlichungen.
In der zweiten Publikation "Heimerziehung im Essener Franz Sales Haus 1945-1970" von Bernhard Frings geht es ausschließlich um die wissenschaftliche Aufarbeitung, für die neben den Archivrecherchen auch Interviews mit zahlreichen Betroffenen und ehemaligen Mitarbeiter(inne)n geführt wurden. Gerade sie waren für die Rekonstruktion des damaligen Heimalltags aufschlussreich und zeichnen ein recht genaues Bild der Verhältnisse in einer Einrichtung der "Schwachsinnigen-Fürsorge", wie die Behindertenhilfe damals genannt wurde. Die Studie macht Zusammenhänge und Aspekte deutlich, die die damaligen Zustände ermöglichten: Die rechtlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, Fehlbelegungen, der Mangel an ausreichend qualifiziertem Personal, die ungenügende Transparenz der Betreuungsarbeit, aber auch die fehlende Eignung einzelner Mitarbeitender konnten als Ursachen der Missstände ausgemacht werden.
Die Studie der Historiker zeigt, dass das Leben der Kinder und Jugendlichen in den 50er und 60er Jahren wie in anderen vergleichbaren Einrichtungen im Bundesgebiet durch eine lückenlose Kontrolle seitens der Betreuer(innen), durch weitgehend begrenzte Kontakte zur Außenwelt, stark autoritäre Strukturen und häufige sowie drastische Strafen geprägt war.
"Ein besonderer Aspekt bei den Interviews mit ehemaligen ‚Zöglingen‘", so der Historiker Bernhard Frings, "war das hier zum Ausdruck kommende Gefühl der doppelten Stigmatisierung als Heimkind und als Mensch mit einer zugeschriebenen geistigen Behinderung." Nach unserem heutigen Ermessen stellten die damaligen Ärztinnen und Ärzte zum Teil Fehldiagnosen, die auch Kinder ohne geistige Behinderung ins Franz Sales Haus führten, die eigentlich in Einrichtungen der Jugendhilfe hätten betreut werden müssen. Nach Abschluss der Untersuchungen können wir heute konstatieren, dass die betroffenen ehemaligen Bewohner(innen) des Franz Sales Hauses Vergleichbares erlitten haben wie Kinder und Jugendliche in Einrichtungen der Jugendhilfe.
Die Unterbringung in einer Einrichtung für Menschen mit geistiger Behinderung war für viele Betroffene eine Stigmatisierung, die für das gesamte Leben folgenschwer und bis heute kaum zu überwinden ist. Im Hinblick darauf, dass diese ehemaligen Heimkinder von den Fondsleistungen ausgeschlossen sind und nun ein weiteres Mal eine Benachteiligung und Demütigung erfahren haben, ist es verständlich, dass viele mit Wut und Verzweiflung reagiert haben.
Die Kirchen unterstützen die Bemühungen um Gleichbehandlung der ehemaligen Heimkinder aus der Behindertenhilfe mit Nachdruck. Warum nicht die Bundesländer? Es hat den Anschein, dass es letztlich wieder nur um Geld geht. Und das in Zeiten sprudelnder öffentlicher Kassen.
Neue Initiative sucht Unterstützung
Worauf wartet man eigentlich? Warum wird nicht endlich gehandelt? Bei der Errichtung der existierenden Hilfsfonds hat man doch auch nicht über Jahre halbherzig analysiert, sondern gehandelt! Warum setzt man sich nicht in gleicher Weise für die Menschen aus Einrichtungen der Behindertenhilfe ein?
Insbesondere aus Bayern und Nordrhein-Westfalen gibt es nun - neben dem ungebrochenen Engagement des Bundessozialministeriums und neuerdings wieder der Unterstützung durch die Arbeits- und Sozialminister-Konferenz - hoffnungsvolle Signale für vergleichbare Leistungen für Heimkinder aus der Behindertenhilfe. Diesen Vorstoß unterstützt das Franz Sales Haus ausdrücklich. Es setzt sich mit seinen Möglichkeiten für das Gelingen dieser neuen Initiative ein und möchte gern bei der Vorbereitung und Durchführung mit allen Kräften und umfassender Sachkompetenz einen wesentlichen Part übernehmen.
Pflegekinderdienste ermöglichen ein sicheres Zuhause
Ein Weg aus dem Dilemma_Kriterien für gute Beratung
Verpflichtende Energieaudits für alle Unternehmen?
Mehr Menschlichkeit!
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