Haus Maybachstraße gibt Hilfe und Halt
Nur wenige Monate lagen zwischen dem Beschluss zur Gründung des Heimbetriebs im Haus Maybachstraße und seiner Eröffnung am 1. September 2011: Die sozialpsychiatrische Fachöffentlichkeit Stuttgarts war mit der Sozialverwaltung der Stadt übereingekommen, im Rahmen der etablierten Gremien des Gemeindepsychiatrischen Verbundes (GPV) Stuttgart ein geschlossenes Wohnheim für 26 Menschen zu gründen. Damit sollte Stuttgarter(inne)n, die bisher fern ihrer Herkunftsgemeinde in Einrichtungen der psychiatrischen Pflege (bis zu zweieinhalb Autostunden entfernt) wegen Eigengefährdung betreut wurden, ein Rückkehrangebot unterbreitet werden. Das Sozialamt Stuttgart als Kostenträger der Einrichtung bot den beiden Kooperationsträgern - der BruderhausDiakonie und dem Rehabilitationszentrum Rudolf-Sophien-Stift - eine Wohnebene in einem fünfstöckigen Gebäude an, das sich inmitten des Industriegebiets von Stuttgart-Feuerbach befindet.
Ein Kooperationsvertrag regelt die wesentlichen Aspekte der Zusammenarbeit, Zuständigkeit und Verantwortlichkeit zwischen den beiden diakonischen Trägern mit ihren zwei Heimleitern, die beide vorwiegend durch den ambulanten sozialpsychiatrischen Versorgungsbereich geprägt sind: Sie schlossen sich fest zu einem Wohnheim-Projekt zusammen mit einem gemeinsamen Team. Dieses besteht aus 25 Fachkräften und ist in einem gemeinsamen Dienstplan organisiert.
Die zeitlichen Meilensteine waren eine sportliche Herausforderung. Von Juli bis September 2011 mussten ungefähr 15 geeignete Fachkräfte gesucht und eingestellt werden. Kurz zuvor erhielten die Heimleitungen eine Liste mit annähernd 65 Klient(inn)en, mit denen über die gesetzlichen Betreuer(innen) Kontakt aufgenommen wurde, um ein Kennenlernen zu vereinbaren und ein Platzangebot zu unterbreiten.
Das unmittelbare Wohnumfeld
Die Räume im Industriegebiet werden vorerst bis Herbst 2015 angemietet. In der Zwischenzeit planen beide Träger, städtisch gelegene eigene Nachfolgeeinrichtungen zu bauen, in denen die geschlossenen Plätze mit anderen sozialpsychiatrischen Angeboten ergänzt und fortgeführt werden können.
Ein 100 Meter langer Etagenflur untergliedert achsensymmetrisch zwei räumlich identische Wohnflügel, in denen jeweils 13 Bewohner(innen) in 18 Quadratmeter großen Einzelzimmern mit angegliedertem Badezimmer leben. Als zentrale Anlaufstelle befindet sich das Dienstzimmer in der Mitte des Flures. In beiden Flügeln befinden sich jeweils ein Wohnzimmer und eine große Küche. Für die Bewohner(innen) stehen vier Waschmaschinen und vier Trockner zur Verfügung. Auf einem Wohnflügel befinden sich zudem ein Werkstatt- und Beschäftigungsraum sowie das Nachtbereitschaftszimmer, in dem auch die Tagesmedikation ausgegeben wird. Zudem sind darin zwei PC-Arbeitsplätze und der Tresor, der die Substitutionsmedikamente sicher verwahrt. Ein größerer Außenbereich (110 Schritte bei einer Umrundung) mit Übersteigschutz bietet auf einer ovalen Terrasse vier dezentrale Sitzgruppen. Im Erdgeschoss gibt es ein Einrichtungsgeschäft sowie einen Fitnessgeräteausstatter. Im zweiten Stock befindet sich eine Einrichtung der Blindenhilfe, im dritten bis fünften Stock ist ein privates Pflegeheim untergebracht. In unmittelbarer Nachbarschaft befinden sich das Theaterhaus Stuttgart, mehrere Messehotels, Verwaltungs- und Bürogebäude, eine Tankstelle sowie der Höhenpark Killesberg. Supermärkte sind 15 Gehminuten (mit der U-Bahn eine Haltestelle) entfernt. Der Hauptbahnhof Stuttgart liegt in einer Entfernung von acht Fahrminuten beziehungsweise vier Haltestellen.
Die 25 Voll- und Teilzeitkräfte decken unterschiedliche Disziplinen ab: Heilerziehungs-, Alten-, Kranken- und Gesundheitspflege, Sozialpädagogik, Hauswirtschaft, Arbeitserziehung und Sozialwirtschaft. Das Fachpersonal verfügt über transkulturelle Kompetenzen und ungarische, serbo-kroatische, russische, rumänische und englische Sprachkenntnisse. Zudem verstärkt eine Studentin der Dualen Hochschule das Team. Fünf externe Fachkräfte sind für einzelne Nachtbereitschaften zusätzlich angestellt.
Regelmäßige Fall- und Teamsupervisionen und -besprechungen, Einladungen externer Expert(inn)en zu spezifischen Fachthemen sowie Hospitationen dienen der praktischen Reflexion im Arbeitsfeld und stellen signifikante Qualitätsstandards dar. Eine enge Kooperation mit der Akutpsychiatrie, der Hilfeplankonferenz, dem Kliniksozialdienst sowie anderen Diensten, Abteilungen (auch Suchthilfe und Wohnungsnotfallhilfe) und Trägern im GPV Stuttgart sind für eine gelingende Netzwerkpflege, Nachsorge- und Entlassplanung weitere Gütekriterien der Arbeit.
Vernetzung mit früheren Bezugspersonen
Hatte mit 13 Bewohner(inne)n rund ein Drittel vor dem Einzug ins Haus Maybachstraße in der eigenen Wohnung beziehungsweise bei der Familie gelebt, so kam der Einbeziehung der Angehörigen in den Behandlungsprozess hohe Bedeutung zu. Analog dazu galt es ebenso, die vorher genutzten Einrichtungen in Helferrunden mit einzubeziehen und Erfahrungswerte durch enge Vernetzung und fortlaufende Kooperation mit den Gemeindepsychiatrischen Zentren, den Wohngruppenverbünden und den offenen Heimen und Werkstätten zu pflegen.
Der Tages- und Wochenstrukturierung dienen individuelle Wochenpläne. Interne und externe Arbeitsangebote (sogenannte Neue Arbeit) sowie unterschiedliche Gruppenangebote mit den Schwerpunkten Kochen, Sport, Frauengruppe, Fahrrad, Garten, Kreativ-Handarbeit und Freizeit kommen als Kürangebote hinzu. Die Suchtgruppe, die Hausversammlung und der "Wochenstarter" am Montag sind Pflichtveranstaltungen. Sie sollen im Rahmen des Integrierten Behandlungs- und Rehabilitationsplans (IBRP) eingebunden und die Bewohner(innen) zur Teilnahme motiviert werden.
Aus den bisher im Haus Maybachstraße gemachten Erfahrungen lassen sich eine Reihe von Handlungsempfehlungen ableiten:
- Hohe Priorität sollten diejenigen erhalten, die vor der Aufnahme in ihrer Primärfamilie versorgt worden sind oder einen eigenen Wohnraum hatten.
- Einen Antrag nach §1906 BGB verantwortet nicht nur der/die Betreuer(in) allein! Es sollte eine Prüfung von Alternativen geben und die Entscheidung darüber durch einen "regionalen Fachausschuss", bestehend aus der Hilfeplankonferenz des GPV, Facharzt/-ärztin und Angehörigen, getroffen werden.
- An Entwicklung und Ausbau von flexiblen und niederschwelligen Hilfen auch in der Eingliederungshilfe sollte weiterhin mit dem Kostenträger gearbeitet werden, beispielsweise in Kooperation mit der Wohnungsnotfallhilfe ("Hotel plus"-Konzept; eine engere sozialadministrative Vernetzung von Hilfe zur Pflege und der Eingliederungshilfe sicherstellen).
- Evaluation: Wer wandert aus dem GPV ab? Heimplätze der Eingliederungshilfe dicht ins GPV-System integrieren.
- Innerhalb des GPV sollte ein flexibler Umgang mit den Wartelisten bei der Personengruppe nach §1906 BGB vereinbart werden, um Trans-Institutionalisierungen in psychiatrische Pflegeeinrichtungen oder eine "nur zweite Wahl" zu vermeiden.
- Aufsuchend-aktive Miteinbeziehung und "Revitalisierung" der Angehörigen in den Behandlungsprozess.
- Ehrliche Auseinandersetzung mit dem Thema "§1906" in der eigenen Pflichtversorgungsregion führen!
Wirkfaktoren im Behandlungsprozess
Folgende Faktoren stabilisieren die Behandlung und tragen zum Wohlbefinden der Bewohner(innen)bei:
- Kooperation, Vernetzung im GPV Stuttgart, an den Übergängen von Arbeit, Wohnungsnotfallhilfe, Suchtkrankenhilfe und der Sozialverwaltung (zum Beispiel Sozial- und Wohnungsamt);
- Transparenz plus Kontrolle durch eine regionale Hilfeplankonferenz, durch Fallmanagement, Sozialamt, Beschwerdestelle, interne/externe Heimbeiräte;
- individuelle Tages- und Wochenstruktur durch Gespräche, Sport, Genussgruppen, Projekte, Urlaub, kulturelle Teilhabe, Angebote für Arbeit und Beschäftigung, im Haus und extern;
- Diskussion und Auseinandersetzung darüber führen, welcher Unterschied besteht zwischen dem bisher Erlebten und dem hochstrukturierten Setting im Haus;
- handlungsleitende Einstellung ist Respekt - ein selbstreflexiver und würdevoller Umgang zwischen Personal und Bewohner(inne)n, trotz "Schlüsselmacht" und Ungleichheit in der Rollenbegegnung;
- Revitalisieren der Angehörigenkontakte, Besuche aktiv vereinbaren, vermitteln;
- "Ansatz der Zumutbarkeit"1 und des fortlaufenden Erprobens für das Personal, die Bewohner, Betreuer, Polizei…;
- Balance finden: zwischen Förderung von Verselbstständigung/Autonomie und Schutz vor Eigengefährdung;
- Information, Wissensvermittlung, diagnoseübergreifende Psychoedukation.
Das geschlossene Setting setzt Vernetzung und ein hohes Maß an Selbstreflexion ebenso voraus wie einen fortlaufenden Diskurs zur Verantwortung - innerhalb des bestehenden Rollen-Machtgefälles, der "Schlüssel-Macht".
Anmerkung
1. Nach Hildenbrand, Bruno: Die zentrale Bedeutung der Zumutbarkeit im sozialpsychiatrischen Handeln. In: Kerbe 3/2011, S. 13-15.