Milieuübergreifende Hilfe mitten in der Stadt
Sie ist eine der bekanntesten "Marken" im gesellschaftlichen Leben in Deutschland: die Bahnhofsmission. Dies hat kürzlich eine empirische Untersuchung1 erneut bestätigt. Weniger bekannt ist, was die Bahnhofsmissionen genau machen. Das mag auch daran liegen, dass sich deren Aufgabenspektrum vom Bahnhof her bestimmt, der in den letzten Jahrzehnten seine Funktionen deutlich ausgeweitet hat. Er ist nicht mehr "nur" Drehkreuz der Mobilität, sondern vielerorts auch Einkaufszentrum und Verweilort. Damit unterstreicht der Bahnhof einmal mehr seine Bedeutung als signifikanter Ort in einer mobilen und pluralen Gesellschaft. Entsprechend bilden sich am Bahnhof auch die gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen ab. Auch deshalb leisten die Bahnhofsmissionen dort seit über 100 Jahren als ökumenisch getragene Einrichtungen ihren caritativ-pastoralen Dienst.
Gesellschaftlich relevante und brisante Themen prägen ihr Profil: Tag für Tag wird Menschen mit Behinderung geholfen, zu ihrem Arbeitsplatz zu kommen, werden ältere Menschen beim Ein- oder Umsteigen oder Ankommen begleitet, (Allein-) Reisenden mit Kindern wird geholfen und allein reisende Kinder werden begleitet, damit sie sicher ihr Ziel erreichen. Reisende, die den Anschlusszug verpasst haben, finden einen geschützten Raum oder auch eine Übernachtungsmöglichkeit. Manche Gäste kommen regelmäßig, um sich aufzuwärmen, sich zu unterhalten oder auch nur eine Tasse Kaffee oder Tee zu trinken und der Vereinsamung zu entfliehen. Migrant(inn)en aus Osteuropa, die vermehrt auf den Bahnhöfen ankommen, wissen nicht weiter; unter ihnen sind zunehmend allein reisende Frauen mit und ohne Kinder.
Zu diesen eher alltäglichen Aufgaben kommen die ungewöhnlichen, manchmal dramatischen Situationen hinzu: eine Mutter bittet um die Nottaufe für ihr Kind; ein aus Afghanistan kommender Soldat braucht jemanden zum Reden und sucht Absolution, weil er im Krieg Kinder erschossen hat; eine Frau möchte, dass der Leiter der Bahnhofsmission die Urnenbeisetzung für ihren verstorbenen Mann übernimmt, weil sie sonst "niemanden von der Kirche kennt".
Nicht immer können die Mitarbeitenden der Bahnhofsmissionen selbst helfen. Dann ist es gut, vernetzt zu sein. So auch bei jenem Langzeitarbeitslosen, dem die Zwangsräumung und damit Wohnungslosigkeit drohte. Wie es oft der Fall ist, hat auch er so lange wie möglich die Augen vor der drohenden Obdachlosigkeit verschlossen. Als das nicht mehr geht, kommt er zur Bahnhofsmission und bittet um Essen. Das wird in dieser Bahnhofsmission zwar nicht ausgegeben, doch man begleitet ihn zur Essensausgabe der Diakonie. Dort findet er Kontakt zu einem Sozialarbeiter, der hilft, die Zwangsräumung abzuwenden.
Breites Angebot contra stärkere Profilierung?
Das Spektrum der Aufgaben in der Bahnhofsmission ist breit. Zu breit, sagen manche und votieren für eine stärkere Profilierung. Doch das Profil der Bahnhofsmission muss sich von ihrem Ort "Bahnhof" herleiten, und der ist einer der wenigen Orte in unserer Gesellschaft, wo Menschen aller sozialen Schichten und Milieus zusammenkommen. Die Bahnhofsmission wird nicht nur von allen - wie in der Umfrage bestätigt - akzeptiert, sondern auch milieuübergreifend in Anspruch genommen, was durch entsprechende Untersuchungen zu präzisieren wäre. Damit leistet sie zumindest einen kleinen Beitrag gegen jene Segmentierung, die in unserer Gesellschaft eine milieuübergreifende Kommunikation oder gar Verständigung behindert, zum Teil sogar unmöglich macht.
Theologisch muss ein soziale Ab- und Ausgrenzung überwindendes Handeln bei grundlegender Option für die Armen die Zielgröße bleiben. Im Sinne etwa von Gal. 3,28 ("Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau; denn ihr alle seid ‚einer‘ in Christus Jesus") muss kirchliches Handeln darauf ausgerichtet sein, soziale Schranken zu überwinden. Nur wenn wirklich "Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, […] auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi"2 und auch seiner Jüngerinnen sind, kann die Kirche "Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit"3 sein.
Aus gutem Grund haben etliche Bahnhofsmissionen inzwischen einen Raum der Stille oder halten regelmäßig Gottesdienste in ihren Räumen, gelegentlich auch in der Bahnhofshalle, ab. Doch ihr christlich-kirchliches Profil erweist sich nicht erst dadurch. Es realisiert sich bereits, indem sich die Mitarbeitenden der Bahnhofsmission an diesem ganz und gar nichtkirchlichen, inzwischen sogar primär privatwirtschaftlich organisierten Ort kostenlos zur Verfügung stellen. Rund 1900 Ehrenamtliche und knapp 200 Hauptamtliche engagieren sich in den 103 Bahnhofsmissionen in Deutschland. Pro Jahr begegnen sie rund zwei Millionen Gästen und leisten 4,5 Millionen Mal Hilfe.
Aus theologischer Sicht ist beachtenswert, dass diejenigen, die die Bahnhofsmission in Anspruch nehmen, "Gäste" genannt werden. Diese Bezeichnung wurde vermutlich nicht aufgrund theologischer Reflexion gewählt. Doch ist der Begriff höchst angemessen. Er greift das urchristliche Ideal der Gastfreundschaft auf, das, wie Kurt Koch, Präsident des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen, vermerkt, neben dem egalitären (soziale Schranken aufhebenden) Selbstverständnis wesentlich zum Missionserfolg der frühen Christenheit beigetragen hat.4 Mit dieser Haltung einer impliziten Mission spiegelt die Bahnhofsmission bis heute einen wesentlichen Aspekt ihrer Entstehung vor über 100 Jahren im Zusammenhang mit der Entwicklung der "inneren Mission" in der evangelischen Kirche.
Kirchliches Handeln an einem nichtkirchlichen Ort
Theologisch wie soziologisch realisiert die Bahnhofsmission damit wesentliche Anliegen jener Citypastoral, die bundesweit in den Bistümern in den letzten Jahren entwickelt wurde. Und doch wurden die Bahnhofsmissionen in diesem Zusammenhang kaum wahrgenommen. Indem neue Orte kirchlicher Präsenz an gesellschaftlich relevanten nichtkirchlichen Orten gesucht werden, werden leicht die übersehen, die es schon längst gibt.
Weil dies aber nicht nur an den "anderen" liegt, sondern auch an "uns", hat neben anderen profilbildenden Aktionen der Bahnhofsmission im Jahr 2011 der Vorstand von IN VIA Katholischer Verband für Mädchen- und Frauensozialarbeit Deutschland, dem auf katholischer Seite die Fachaufsicht über die Geschäftsführung der Bahnhofsmission obliegt, eine Arbeitsgruppe5 zum theologischen Profil der katholischen Bahnhofsmissionsarbeit ins Leben gerufen. Ziel war es, die theologischen Grundlagen zu klären, um auf dieser Basis die Kommunikation in den katholisch kirchlichen Raum, also zu Bistümern, Dekanaten und Pfarreien, zu verbessern und den wechselseitigen Rückhalt zu stärken. Als Ergebnis der anregenden Diskussionen in der Arbeitsgruppe entstand nicht, wie ursprünglich vorgesehen, ein Arbeitspapier, sondern ein Buch. Es ist im August 2013 unter dem Titel "Der Bahnhof - Ort gelebter Kirche" erschienen.6 Es versteht sich als ein Beitrag zur theologischen Reflexion von caritativ-pastoralem Handeln an einem gesellschaftlich signifikanten, nichtkirchlichen Ort.
Es spricht einiges dafür, dass das Thema Mobilität weiter an Bedeutung gewinnt. Die Bahnhofsmissionen werden sich dabei neben der praktischen Hilfe anwaltschaftlich dafür einsetzen, dass die soziale Dimension nicht aus dem Blick gerät. Das gilt sowohl hinsichtlich der demographischen Entwicklung wie auch bezüglich einer Beteiligungsgerechtigkeit im Sinne eines weiten Inklusionsbegriffs. Dies sollte durch weiterführende Forschungs- und Modellprojekte unterstützt werden, die in Kooperation von kirchlichen und nicht-kirchlichen Partnern initiiert werden.
Anmerkungen
1. Hoburg, Ralf: Ein sozialer Ort für Alle. Die Bahnhofsmission - Passanten- und Unternehmensbefragung. Unveröffentlichtes Typoskript. Hannover (Veröffentlichung 2013 geplant).
2. Zweites Vatikanisches Konzil: Pastoralkonstitution Gaudium et spes 1.
3. Zweites Vatikanisches Konzil: Kirchenkonstitution Lumen gentium 1.
4. Koch, Kurt: Bereit zum Innersten. Freiburg i.Br. : Herder Verlag, 2003, S. 49 f.
5. Mitglieder der Arbeitsgruppe: Isidor Baumgartner (Professor für Christliche Gesellschaftslehre und Caritaswissenschaften, Universität Passau), Ottmar John (Referent für Pastorale Entwicklung, Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz), Bruno W. Nikles (Professor für Sozialplanung, Universität Duisburg-Essen), Dorothea Sattler (Professorin für Geschichte und Theologie der Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften aus der Reformation (West-Ökumene) und Direktorin des Ökumenischen Instituts der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster), Gisela Sauter-Ackermann (Bundesgeschäftsführerin der Katholischen Bahnhofsmission) und Klaus Teschner (bis 2012 Vorsitzender der Deutschen Evangelischen Bahnhofsmission).
6. S.a. neue caritas Heft 19/2013, S. 40.