Integration durch Bildung - Politik ist in der Verantwortung
In der seit Jahren anhaltenden Debatte um eine Reform des Bildungswesens in Deutschland stehen Ansätze gegen Schulabbruch und Schulverweigerung im Mittelpunkt. Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels und des zu erwartenden Fachkräftemangels, aber auch mit Blick auf Chancengerechtigkeit und gesellschaftliche Teilhabe junger Menschen ist eine gezielte Reform des Bildungswesens erforderlich. Diese muss auf strukturelle Veränderungen im allgemeinbildenden Schulwesen1 sowie auf eine neue Rolle der Kommunen in der Bildungslandschaft2 abzielen. Es ist aber auch eine zwischen Ländern, Bund und Kommunen abgestimmte Gesamtstrategie und damit eine neue gesamtgesellschaftliche Austarierung von Bildung erforderlich.
Im Folgenden einige zentrale Ergebnisse aus der Evaluierungsstudie der Modellphase des ESF-Bundesmodellprogramms "Schulverweigerung - Die 2. Chance" (2006 bis 2008)3: Es wurden etwa 3000 Schülerinnen und Schüler mit ausgeprägter schulverweigernder Haltung, die in das Programm einbezogen waren, mehrmals im Zeitraum von zwei Jahren befragt. Dabei wurden die subjektiven Einschätzungen der jungen Menschen zu Schule und Freizeit, aber auch zur Qualität ihrer Beziehungen zu Elternhaus, Schule und Jugendhilfe erhoben.4
Das ESF-Modellprogramm: Ziele, Konzept
Das Modellprogramm ist Teil eines breit angelegten Aktionsprogramms des Bundes, um eine strukturelle Verbesserung der Bildungsbedingungen für junge Menschen anzuregen. Hier ist die Qualifizierungsinitiative "Aufstieg durch Bildung" (2008) hervorzuheben, in der die Vereinbarung zur Erhöhung der Bildungsinvestitionen bis 2015 auf zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts steht. In diesem Kontext wurden verschiedene Förderprogramme aufgelegt.5 Bereits 2006 startete das Programm "Schulverweigerung - Die 2. Chance", eine bundesweite Initiative gegen Schulverweigerung und für bessere Bildungsbedingungen für junge Menschen in schwierigen sozialen Lebensverhältnissen. Diese sollen spätestens nach einem Jahr wieder in die Schule reintegriert sein.
Die empirischen Daten sprechen für sich
In den 16 Bundesländern wurden an 73 Standorten Koordinierungsstellen mit dem Ziel eingerichtet, die vorhandenen Ressourcen und Strukturen der schulischen Bildung und sozialen Förderung junger Menschen zusammenzuführen und zu vernetzen, neue Bildungs- und Unterstützungsangebote aufzubauen und so die Kinder und Jugendlichen zuverlässig und zielführend individuell zu begleiten.
Insgesamt wurden die Daten von 3100 jungen Menschen erfasst. Davon waren knapp 40 Prozent Mädchen und über 60 Prozent Jungen. Das bedeutet nicht, dass Schulverweigerung vorwiegend ein "Jungenproblem" ist, sondern lediglich, dass Mädchen ihre Verweigerungshaltung weniger auffällig demonstrieren. Einen Migrationshintergrund hatten 28 Prozent der Schüler(innen); das ist weit mehr als ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung: Nach dem Mikrozensus 2008 waren dies 18,7 Prozent.6 Bei ihnen zeigt sich, dass sie ähnlich wie ihre deutschen Alterskohorten nicht wegen kognitiver Leistungsbarrieren, sondern wegen fehlender oder unzureichender Unterstützung und Förderung aus dem Schulsystem herausfallen. Dabei spielen schwierige soziale und familiäre Bedingungen eine wichtige Rolle.
Bei 2000 Kindern und Jugendlichen wurde zum Stichtag August 2008 das Fördermanagement abgeschlossen. Davon wurden 67 Prozent in die Regelschule und acht Prozent in das berufliche Ausbildungssystem vermittelt. Bei 14 Prozent ist ein vorzeitiger Abbruch zu verzeichnen. Der insgesamt hohe Reintegrationserfolg zeigt: Wenn die Bedingungen stimmen, sind Schülerinnen und Schüler sowie ihre Eltern bereit und motiviert, ihre Lage aktiv zu verändern. Dies ist eines der zentralen Ergebnisse der Studie. Daraus ergibt sich folgende strukturelle Forderung: Wenn es uns gelingt, schüler- und familiennahe Bildungsangebote aufzubauen, bei Bedarf auch individuelle Bildungsnetze herzustellen, um Bildungs- (und soziale Kompetenz-)lücken zu schließen, dann stellen wir sicher, dass Kinder im institutionellen Bildungssystem "drinbleiben" und nicht herauskatapultiert werden. Damit hätten sich auch Probleme wie Schulverweigerung und Schulabbruch erledigt.
Deutlich über die Hälfte der jungen Menschen (54 Prozent) kommen aus der Hauptschule; es folgen mit jeweils etwa zehn Prozent Jugendliche aus Gesamt-, Real- und Förderschule. Hier zeigt sich, dass die Hauptschule in der Tendenz noch immer nicht an Profil gewonnen hat - weder als profunde Vorbereitung auf berufliche Ausbildung noch als Weichenstellung für weiterführende Schulzweige. Es zeigt sich hier nicht nur ein Problem des Schulsystems, sondern auf der bildungspolitischen Ebene das Fehlen einer fundierten, zukunftsorientierten praxis- und theoriebezogenen schulischen Bildung.
Die Daten hinsichtlich der familiären Lebensverhältnisse bestätigen den engen Zusammenhang von Bildungs(miss)erfolg und sozialer Herkunft: Über 75 Prozent der Schüler(innen) kommen aus Familien in schwierigen materiellen und sozialen Verhältnissen: So haben 19,7 Prozent eine Mutter und 10,8 Prozent einen Vater ohne Schulabschluss; lediglich die Hälfte der Väter hat eine Ausbildung (49,6 Prozent). Die große Mehrzahl der Familien lebt in schwierigen materiellen Verhältnissen: 42 Prozent von ihnen beziehen Arbeitslosengeld II, und weitere sieben Prozent sind auf Sozialhilfe angewiesen.
Dies zeigt, dass eine Bildungsinfrastruktur auf kommunaler Ebene erforderlich ist, die Familien von der schulischen Unterstützung ihrer Kinder entlastet und Bildungsangebote sicherstellt, auf die alle jungen Menschen verbindlich zurückgreifen können. Ganztagsschulen können hier zu neuen Bildungszentren heranwachsen, die eine Vielfalt von schulischen, sozialen und emotionalen Lernangeboten zur Verfügung stellen. Darüber hinaus ist aber auch der Aufbau kommunaler Bildungslandschaften erforderlich, die in Abstimmung mit allen Bildungsakteuren vor Ort (Schule, Jugendhilfe, Wirtschaft, Bildungsträger etc.) gezielte Bildungsangebote für alle Alters- und Zielgruppen macht.
Eine Strukturreform würde das Schulwesen verbessern
Im allgemeinbildenden Schulwesen bedarf es vor allem des Ausbaus an lernfördernden Unterrichtscurricula, der Umsetzung individueller Bildungspläne, eines verbindlichen Konzepts enger Zusammenarbeit mit Eltern, Jugendhilfe und Wirtschaft und der Sicherstellung von mehr Durchlässigkeit bei den Leistungsstufen. Hierfür brauchen die Schulen nicht nur Geld, sondern auch mehr Verantwortung. Deshalb ist die Stärkung der Autonomie der Schulen, die Qualifizierung von Schulleitungen und Lehrkräften und eine kontinuierlich sichergestellte (und überprüfte) Qualitätsentwicklung der Unterrichtsangebote ein zentraler Schritt zur Verbesserung der Schulbildung. Der Ausbau der Ganztagsschulen sollte ein zentrales Merkmal einer bundesweiten Schulentwicklung sein.
Gleiche Bildungschancen für alle
Eine gute und gerechte Bildung verlangt trotz aller regionalen Unterschiede nach gleichwertigen Bildungsbedingungen in allen Bundesländern. Die von der Kultusministerkonferenz (KMK) 2003 beschlossenen Bildungsstandards7 sind formale Zielmarken, die keine verbindlichen gemeinsamen Rahmen- beziehungsweise Strukturbedingungen einfordern. Hier müssen gezielt und zeitnah grundlegende Strukturreformen vorangetrieben werden.
Kommunen sind Orte, an denen Bildung konkret stattfindet und die Qualität von Bildungsbiografien mitbestimmt wird. Bildungsangebote für Jung und Alt sind zu einem zentralen Standortfaktor für Kommunen geworden. Dies hat viele Kommunen veranlasst, ihre Bildungsangebote auf örtlicher Ebene zu vernetzen und zu einem Gesamtkonzept von "Bildung, Erziehung und Betreuung" zusammenzufügen. Zunehmend mehr "Kommunale Bildungslandschaften" sind im Entstehen.8
Bildung muss finanziert werden
Gute Bildung braucht Geld.9 Mit der Föderalismusreform I von 2006 ist es schwieriger geworden, eine Bundesfinanzierung von Bildungsaufgaben zu realisieren. Dies haben die Probleme bei der Finanzierung des Ganztagsschulprogramms 2003 gezeigt. Hier gilt es, verfassungsrechtlich unbedenkliche Lösungen zu finden. In jedem Falle sollten die Finanzierungsbarrieren beseitigt werden. Darüber hinaus kann der Bund durch bundesweite Förderprogramme die Länder und Kommunen beim Ausbau der Rahmenbedingungen für bessere Bildung unterstützen. Was die Vereinbarung angeht, bis 2015 die Bildungsinvestitionen auf zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts anzuheben, so darf dieses Ziel trotz Wirtschafts- und Finanzkrise auf keinen Fall aufgegeben werden. Dies würde zu einem Reformstau führen. Die Bildung der Jugend ist die zentrale Investition zur Zukunftsgestaltung unserer Gesellschaft. Schulverweigerung und Schulabbruch zeigen die Risse in unserem Bildungswesen auf: Je individueller Bildungsprozesse organisiert werden müssen, umso deutlicher zeigen sich die Lücken im System. Schulbildung braucht mehr Individualität, mehr Kreativität und vor allem mehr Verantwortung der Schule für das Lernen. Hierfür ist vor allem der Schulterschluss von Bund, Ländern und Kommunen notwendig.
Anmerkungen
1. Faltermeier, Josef u.a.: Schulverweigerung - jetzt handeln : Konzepte und Strategien für Jugendhilfe, Schule und Politik. Frankfurt a.M., 2006, S. 137 ff.
2. Faltermeier, Josef; Mund, Petra: Für ein kommunal verantwortetes Gesamtkonzept von Bildung, Erziehung und Betreuung. In: Blätter der Wohlfahrtspflege, Jg. 156, Heft 1/2009, S. 19ff.
3. Der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge war für die Aufbauphase und damit für die Entwicklung des Gesamtkonzepts des ESF-Modellprogramms "Schulverweigerung - Die 2. Chance" von 2006 bis 2008 zuständig und verantwortlich.
4. Eine ausführliche Darstellung der empirischen Ergebnisse aus dem Bundesmodellprogramm findet sich bei Burchert, Anja u.a.: Aktuelle Daten und Erkenntnisse aus dem ESF-Modellprogramm "Schulverweigerung - Die 2. Chance". In: Faltermeier, Josef (Hrsg.): Schulverweigerung - Neue Ansätze und Ergebnisse aus Wissenschaft und Praxis. Berlin, 2009.
5. U.a. das ESF-Modellprogramm "Kompetenzagenturen", das 2002 beschlossen wurde.
6. Statistisches Bundesamt Deutschland: Statistisches Jahrbuch 2009, S. 48.
7. Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland: Vereinbarung über Bildungsstandards für den Mittleren Schulabschluss (Jahrgangsstufe 10). Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 4. Dezember 2003.
8. Empfehlungen des Deutschen Vereins zur Weiterentwicklung Kommunaler Bildungslandschaften. Deutscher Verein, Berlin, 2009.
9. Vgl. Löher, Michael/Faltermeier, Josef: Bundesmodell "Schulverweigerung - Die 2. Chance". In: Der Landkreis, Zeitschrift für kommunale Selbstverwaltung, 79. Jg., Dezember 2009, S. 627.