Es gibt ein Leben jenseits des Ghettos
"Wir werden immer hinter dem Zaun geboren", sagt Dimitar Atanassov, bulgarischer Schriftsteller und Rom, der in der Vorstadt von Varna (Bulgarien) lebt. Das Wort Rom bedeutet Mensch. Die Roma sind eine der größten Minderheiten in der Europäischen Union. Viele der ärmsten von ihnen leben weit östlich. In Bulgarien gibt es eine Million Roma, davon in Varna 30.000 bis 35.000. Von Letzteren leben 20.000 Menschen segregiert - von der Bevölkerungsmehrheit abgegrenzt - in vier Romani-Stadtvierteln. Das größte Viertel liegt in Fußnähe zur Innenstadt, hat 12.000 Bewohner(innen) und wird Makzuda genannt. Dort leben vorwiegend Roma, die sich als Türk(inn)en fühlen. Viele von ihnen sind stark marginalisiert. Seit 2005 führt das Bulgarisch-Deutsche Sozialwerk St. Andreas, bei dem die Stiftung Liebenau und die Stiftung St. Franziskus Heiligenbronn Gründungsmitglieder sind, dort an der Schule "Otez Paisij" das Bildungsprojekt "Step In" durch. 20 jugendliche Roma im Alter von zwölf bis 16 Jahren nehmen teil. Projektziel ist eine sinkende Schulabbrecherquote. Ein anderes Romani-Viertel liegt im Dorf Kamenar. Dort findet an der Schule "Dobri Vojnikov" seit 2007 "Step In II" statt.
Widerstände in Bezug auf die Integration der Roma kommen sowohl vom ethnisch-bulgarischen Teil der Bevölkerung als auch vonseiten der Roma. Bei Ersteren handelt es sich um Einstellungen gegenüber Menschen, die man meist nicht persönlich kennt, sowie um taktisch-politische Widerstände oder Kauf von Wählerstimmen. Die Widerstände vonseiten der Roma rühren vor allem daher, dass sie sich in der Gruppe abkapseln. Zusammenfassend lässt sich sagen, all diese Faktoren führen zu einer "Geburt des Ghettos".
Die vier Romani-Stadtviertel erinnern an Slums außerhalb der EU. Viele Häuser wurden illegal gebaut und sollen abgerissen werden. Die Menschen, von denen viele dort geboren wurden, sind von Umsiedlung oder Obdachlosigkeit bedroht. Viele hausen zwischen Müllbergen und unzureichender Kanalisation in Hütten, Ställen und Verschlägen. Ihre Kinder leben abgegrenzt von der Bevölkerungsmehrheit, und innerhalb des Ghettos werden insbesondere die Mädchen sehr streng gehalten.
Nichteinlösung des Kinderrechts auf Bildung
Die örtliche Hauptschule wird von 400 Roma besucht. Wenige Kinder beenden die Hauptschule, viele werden gar nicht erst eingeschult. Insbesondere Mädchen verlassen die Schule bereits zwischen der fünften und der achten Klasse. Kinder, die schon nach der vierten Klasse nicht mehr zur Schule gehen, erfüllen die staatlichen Bildungsanforderungen der Grundschulstufe nicht. Andere gehen trotz Einschulung nicht in die Schule.
Viele Kinder heiraten im Schulalter: Mädchen mit 14 bis 16 Jahren, Jungen mit 15 bis 17 Jahren. Sie haben noch kein Verantwortungsbewusstsein bei der Familiengründung und der Ausübung der Elternrolle. Eine zielgerichtete erzieherische Arbeit im frühen Kindesalter fehlt.
Arbeitslosigkeit nicht zuletzt aufgrund mangelnder Berufsqualifikation wirkt ebenso demotivierend wie die Armut; viele Familien können den Unterhalt für die Schüler(innen) nicht aufbringen. Die schlechte materielle Situation bewirkt, dass Kinder von klein auf arbeiten und jüngere Geschwister betreuen müssen. Viele Menschen verlassen das Land. Einzelne Familien versuchen, die alte Lebensweise fallenzulassen, den jungen Leuten zu vermitteln, dass sie lernen, nicht so früh heiraten und auf zeitgenössische Art und Weise leben können.
Wer aus dem Ausland zurückkommt, bringt oft höhere Bildungsansprüche mit, hat andere Lebensweisen kennengelernt und beginnt, auf Änderungen der Verhältnisse in den bulgarischen Romani-Vierteln zu dringen.
Fremd im eigenen Land
Da viele türkischsprachig sind, pflegen die Roma in den Familien oft kein Bulgarisch. Wenn die Kinder keinen Kindergarten besuchen, spricht deshalb ein Großteil von ihnen bei Schuleintritt die bulgarische Sprache nicht. Die Kinder weisen zu Schulbeginn erhebliche Bildungslücken auf, die sich mit zunehmendem Alter noch verstärken. Vielen jungen Roma fehlen auch in den höheren Klassen grundlegende Kenntnisse in den schulischen Fächern.
Gesetzlosigkeit des Ghettos
Im Ghetto vermischen sich Aspekte der Roma-Kultur mit der Kultur des sozial benachteiligten Wohngebiets. In Kamenar kommt erschwerend noch das Stadt-Land-Gefälle hinzu, da es die Abgeschlossenheit der Kinder erhöht.
Im Ghetto gelten andere Regeln und Verhaltensnormen als "draußen". Diebstahl, Zuhältertum, Prostitution und der Verkauf und Konsum von Drogen sind alltäglich. Die hochkriminogene, gewaltgeprägte Umgebung, das Fehlen von Lebensperspektiven und daraus resultierende Suchterkrankungen sowie massive gesellschaftliche Ausgrenzung stellen ein hohes Risiko für die Entwicklung junger Menschen dar. Gerade in schwierigen Situationen kopieren Kinder die Lebens- und Verhaltensmodelle ihrer nächsten Umgebung.
"Step In" steht für Integration
Durch die Projektarbeit von "Step In" soll den Folgeproblemen, die den Kindern aufgrund ihrer sozialen Herkunft und ethnischen Zugehörigkeit entstehen, begegnet werden. Das Angebot ist wohnortnah, freiwillig und kostenlos.
Der auf Englisch gewählte Projekttitel steht für "Studying, Training and Educational Paths for the Integration of young Roma" oder auf Deutsch: Lernen, Ausbilden, Erziehen - Wege zur Integration junger Roma. Zugleich steht "Step In" für das "Eintreten" in die Gesellschaft, um sich als Bürger(in) mit allen Rechten und Pflichten einzubringen. Ziel des Projekts ist es, einen regelmäßigen Schulbesuch mit den Zielen Schulabschluss, Berufswahl und Fortsetzung einer (Aus-)Bildung zu gewährleisten. Dies erhöht die Chancen auf einen Zugang zum Arbeitsmarkt und den Eintritt in sozial anerkannte Lebenskreise außerhalb des Ghettos.
Schulessen, Bildung, Freizeitgestaltung
Im Anschluss an die verpflichtenden Schulstunden beginnt der Projektalltag jeweils mit dem Mittagessen in der Schulkantine. Dank des kostenlosen warmen Essens1 können die Kinder den ganzen Tag über in der Schule bleiben - die pädagogische Begleitung wird dadurch wesentlich erleichtert.
An das gemeinsame Mittagessen, bei dem auch grundlegende Hygienegewohnheiten geübt werden, schließen sich vier Stunden schulergänzender Tätigkeiten inner- und außerhalb des Schulgebäudes an: Neben Hausaufgaben- und Nachhilfe sind sportliche, künstlerisch-kreative und kulturelle Aktivitäten im Angebot: Basketball, Fußball, Tischtennis, Federball, Workshops in Schreiben, Malen, Singen, Tanzen. Es gibt Filmvorführungen, Theaterbesuche, Vorlesestunden mit bekannter bulgarischer und europäischer Literatur. Auf Wunsch der Kinder finden außerdem Englischunterricht und Computerkurse statt.
Jede(r) Schüler(in) bekommt Lernhefte, Mal- und Schreibstifte, Lineal, Zirkel, Wasserfarben und Zeichenblätter. Außerdem werden Schulbücher sowie Spiel- und Sportgeräte für die Gruppe angeschafft. Dies motiviert gemeinsam mit der Essensspende die Eltern stark, ihre Kinder in die Schule zu schicken.
Indem sie an der Vorbereitung und Durchführung beteiligt sind, lernen die Kinder nationale Feste kennen, wie zum Beispiel Baba Marta ("Großmutter März"), Muttertag oder Weihnachten. Sie machen sich mit verschiedenen Religionen vertraut, indem sie zum Beispiel eine Moschee und eine Kirche besuchen.
Für die Sexualerziehung besteht eine Kooperation mit dem Zentrum des Vereins "Sautschastie". Dort gestalten geschulte Roma für die Kinder soziale Gruppenarbeit. Dabei geht es auch um Themen wie den sozialen Umgang zwischen Männern und Frauen und die Menschenrechte.
Heraus aus dem Ghetto - hinein in die Gesellschaft
Von zentraler Bedeutung ist das Herausführen der Kinder aus der Isolation des Ghettos: Sie unternehmen Wanderungen mit Picknick oder besuchen Museen, das Planetarium oder das Delfinarium, gehen ins Berufsinformationszentrum. Dabei lernen sie die an öffentlichen Orten geltenden Verhaltensnormen kennen. Ihrer Lehrerin im Projekt zufolge benehmen die Kinder sich außerhalb der Wohngegend "wie eine Eins". Auf Exkursionen lernen sie Schwerpunkte der Geschichte Bulgariens und seine Ethnien kennen. Gemeinsame Aktivitäten mit Jungen und Mädchen, die keine Roma sind, gibt es bisher leider nur ansatzweise, wie zum Beispiel auf Sportturnieren.
Wichtig ist die Vermittlung von Kultur, Wissen und Informationen im Gespräch, denn dies kommt der mündlichen Tradition der Roma entgegen. In ungezwungener, freundschaftlicher Gesprächsatmosphäre lernen die Kinder den Lehrer und die Lehrerin im Projekt in einer neuen Rolle kennen. Die Lehrer sind sensibel für die Schwierigkeiten und Bedürfnisse der Schüler(innen). Sie suchen jedes Kind in seiner familiären Lebenssituation auf und klären die Eltern, die oft selbst keine abgeschlossene Ausbildung haben und die große Bedeutung der Bildung für ihre Kinder daher oft gar nicht einschätzen können, über die Vorzüge des Projekts und die Notwendigkeit des regelmäßigen Schulbesuchs auf.
Das Projekt erhöht die Attraktivität der Schule und hilft, den Schulbesuch als Wert und nicht nur als Pflicht anzunehmen. Die kreativen Tätigkeiten und die Aktivitäten im Freien motivieren die Kinder, ihr Verhalten und ihre schulische Leistung zu verbessern. So gelingt es, den gleichberechtigten Eintritt einer großen Gruppe junger Menschen in die Gesellschaft zu unterstützen. Die Kinder aus Makzuda und Kamenar verbessern ihre Noten, beginnen Regeln zu akzeptieren und sich mit der Gruppe zu identifizieren. Was könnte den Erfolg des Projekts besser nachweisen als die Tatsache, dass alle Achtklässler des Schuljahres 2008/2009 in Makzuda ihre Bildung an weiterführenden Schulen fortsetzen?
Schwierige Finanzierung
Im Schuljahr 2005 startete das Projekt Step In mit EU-Mitteln2 und einem Zuschuss von Secours Catholique, der französischen Caritas. Im Schuljahr 2006 konnte das Projekt dank beherzten Eingreifens der deutschen Mitglieder des Sozialwerks Varna, der Stiftungen Liebenau und St. Franziskus Heiligenbronn sowie des Freundeskreises des Sozialwerks mit reduzierten Mitteln für ein weiteres Jahr fortgeführt werden. In den Schuljahren 2007 bis 2009 hat die Stadtverwaltung von Varna mit insgesamt 30.000 Euro finanziell Verantwortung für Step In übernommen. Darin enthalten ist auch die Ausweitung des Projekts auf das Dorf Kamenar. Wegen drastischer Kürzungen im Budget der Stadt Varna muss das Projekt im Schuljahr 2009/2010 pausieren und wie viele andere Varnaer Projekte um seine weitere Existenz bangen.
Ausgrenzung von beiden Seiten der "Grenze" abbauen
Schule wird nicht mehr als reine Lehr- und Lernanstalt betrachtet. Das Projekt Step In rückt schulergänzende Aufgaben und eine verstärkte pädagogische Betreuung an der Schule in den Blick, wie sie ähnlich auch in Deutschland - nicht nur nach den Amokläufen von Erfurt und Winnenden - oder im Rahmen der Überlegungen zur Ganztagsschule diskutiert werden. Dafür sind zusätzliche Ressourcen nötig.
Auch segregierte Wohngebiete und "Ghetto-Schulen" lassen sich nicht einfach wegzaubern, aber die Desegregation kann und muss heute beginnen. Am unsichtbaren Zaun der Ausgrenzung wird von zwei Seiten gebaut, darum gilt es auch an Bulgariens "Elite-Schulen", Persönlichkeiten auch außerhalb des reinen Schulunterrichts zu bilden. Nicht nur Leistung zählt, sondern auch Verständnis für andere Kulturen und Solidarität mit schlechter gestellten Menschen. Step In macht vor, wie der Zaun Löcher bekommt.
Anmerkung
1. Im ersten Projektjahr finanziert durch EU-Mittel und durch eine Spende der französischen Caritas, im zweiten Jahr durch das Sozialwerk und seinen Freundeskreis in Deutschland, danach durch die Stadt Varna.
2. Joint Actions - Leonardo da Vinci, Socrates und Youth Programmes.