Mut, aus der Spannung Neues zu gestalten
In der neuen caritas Heft 7/2000 erschien ein Artikel mit dem Titel "Große Träger machen mobil", in dem die großen Caritas-Träger zur Gründung eines Unternehmensverbandes der Caritas aufgerufen wurden. Dieser sollte innerhalb des Deutschen Caritasverbandes (DCV) eine stärkere Interessenvertretung gewährleisten. Als Antwort darauf setzte der damalige Zentralvorstand des DCV im Jahr 2001 eine Ad-hoc-Arbeitsgruppe "Unternehmerische Belange der Caritas" ein, in der insbesondere diese großen Caritasträger vertreten waren. Der Auftrag: "Der unternehmerische Anspruch und der caritative Anspruch stehen in einem Spannungsverhältnis. Sehen wir in diesem Spannungsverhältnis auch einen Identitätskonflikt, nämlich dahingehend, dass wir nicht mehr Caritas sind, wenn wir unternehmerisch handeln? Dieses Spannungsverhältnis ist darzustellen. Verbandliche strategische und operative Ziele sollen erarbeitet werden."1
Ausgehend hiervon wurden in der Arbeitsgruppe und in den von ihr verantworteten, ab 2003 durchgeführten Rechtsträgertagungen wichtige Vorarbeiten zu den geplanten "Leitlinien für die Unternehmen der Caritas" geleistet. Themen waren beispielsweise "Was bedeutet unternehmerisches Handeln in der Caritas", "Caritas im Markt sozialer Dienste" oder "Katholisches Profil eines Rechtsträgers und seiner Einrichtungen und Dienste - Markenzeichen, Verpflichtung und Konsequenzen". In einem Vortrag während der Rechtsträgertagung 2004 ermunterte der damalige Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Karl Lehmann, in einer Zeit der Veränderung am Profil katholischer Einrichtungen weiterzuarbeiten. Denn, so Lehmann, "nur wenn auch weiterhin das Katholische an und in unseren Einrichtungen und Diensten eindeutig erkennbar bleibt, werden unsere Einrichtungen und Dienste die Herausforderungen der Zukunft bestehen".2
Im Oktober 2006 beauftragte die Delegiertenversammlung des DCV die Kommission Ökonomie in der Caritas, "Unternehmenspolitische Leitsätze der Caritas" zu erstellen: "Die Einrichtungen und Dienste der Caritas müssen sich zur Sicherung ihres kirchlichen Sendungsauftrages zunehmend unternehmerisch ausrichten. Diese Neuorientierung gerät zum Teil in einen Konflikt mit der im Leitbild verankerten christlichen Wertorientierung der Einrichtungen und Dienste. (…) Die Caritas muss sich angesichts dieser Frage nach der Identität der Caritas-Unternehmen positionieren und für sich unternehmenspolitische Leitsätze formulieren. Diese knüpfen an das Leitbild des Deutschen Caritasverbandes an. In diesem heißt es: ,Der Deutsche Caritasverband handelt unternehmerisch.‘3 Die Leitsätze sollen deutlich machen, welche Anforderungen an ein Caritas-Unternehmen aus verbandlicher Sicht gestellt werden, um insbesondere die Vereinbarkeit von Leitbild- und unternehmerischer Orientierung zu gewährleisten. Die Leitsätze benennen aber auch Instrumente aus der allgemeinen Unternehmenspraxis, auf die auch Unternehmen der Caritas zur Wahrung ihres kirchlichen Auftrages zurückgreifen müssen."
Im raschen Wandel das Gemeinsame nicht vergessen
Dieser Auftrag der Delegiertenversammlung ist vor dem Hintergrund der rasanten gesellschaftlichen, sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen zu beleuchten: Staat, Kirche und damit auch die verbandliche Caritas müssen sich der Forderung nach hoher Flexibilität und Anpassungsfähigkeit stellen. Die allgemein erhöhte Geschwindigkeit von Informationsflüssen und Abläufen sowie wachsende Konkurrenz durch das Öffnen des Marktes innerhalb Europas und weltweit haben dazu geführt, dass sich auch die Caritas inhaltlich, strukturell und finanziell neu aufstellen musste. Sowohl die verbandliche Caritas wie auch viele kirchliche Einrichtungen und einrichtungentragende Ordensgemeinschaften nutzen heute unternehmerische Organisationsformen wie zum Beispiel GmbHs oder Stiftungen.4 Es entstehen Zusammenschlüsse beispielsweise von Krankenhäusern und Altenheimen, um sich auf dem Markt behaupten zu können.5
Diese Entwicklungen machen es notwendig, das christliche und kirchliche Profil neu zu identifizieren und dabei die Mitarbeiter(innen) mit auf den Weg zu nehmen. Dies ist umso notwendiger, da sich auch unter den Unternehmen der Caritas immer häufiger und stärker eine gegenseitige Konkurrenz entwickelt.6
Als gemeinsamer Ausgangspunkt für alle Unternehmen der Caritas gilt: Sie sind katholische Einrichtungen und Organisationen, die sich dem zentralen Auftrag des Evangeliums verpflichtet sehen. Und sie sind vom jeweiligen Ortsbischof genehmigt beziehungsweise anerkannt.
Leitlinien in der Spannung zwischen Realität und Vision
Die ersten Rückmeldungen zum Entwurf der "Leitlinien für die Unternehmen der Caritas" bestätigen, dass deren Ansatz mögliche Antworten auf die beschriebene komplexe Situation bereithält. Der Entwurf beschreibt gesellschaftspolitische Umbrüche und Bewegungen, betriebswirtschaftliche Entwicklungen der Caritas-Unternehmen sowie theologisch-ethisch- spirituelle Aussagen als ineinandergreifend und aufeinander bezogen. Immer wieder wird auf die Spannung zwischen der derzeitigen Wirklichkeit der Caritas-Unternehmen und den entworfenen Leitlinien hingewiesen. Genau diese Spannung aber birgt in sich die Kraft und Dynamik, den Auftrag der Kirche und ihrer Caritas für die Menschen in unserer Zeit neu zu ergründen, ihn auf innovative Weise umzusetzen. Die Leitlinien verstehen sich deshalb als Meilenstein, der den Unternehmen der Caritas Mut machen soll, sich als "lernende Organisation" in dieser Spannung weiterzuentwickeln. So sind sie Teil der "suchenden und pilgernden Kirche".
Was alle Unternehmen der Caritas kennzeichnet
Unternehmen der Caritas lassen sich von den im Folgenden genannten grundlegenden Prinzipien leiten; daneben können sie bestimmte konstitutive Merkmale aufweisen. Erstes Prinzip ist die Subsidiarität (vgl. neue caritas Heft 7/2007, S. 10 f.). In diesem Rahmen sind bestimmte Aufgaben zu übernehmen, die der Staat vorzuhalten hat, sie aber im partnerschaftlichen Zusammenspiel zwischen öffentlicher und freier Wohlfahrtspflege zur Sicherung der sozialen Infrastruktur plant und überträgt. Damit gestaltet das Unternehmen der Caritas - zweites Prinzip - die soziale Infrastruktur einer Region in der Versorgung der Menschen wesentlich mit.
Caritas-Unternehmen sind hierbei aber nicht nur Anbieter sozialer Dienstleistungen, sondern - im Sinne eines dritten Prinzips - aktive Solidaritätsstifter sowie Anwälte insbesondere der Menschen, die in Not sind und die die aktive Stimme der Unternehmen brauchen. Gerade die Anwaltschaft ist eine besondere, aber notwendige Herausforderung im Rahmen des wirtschaftlichen Konkurrenzkampfes.7
Die konstitutiven Merkmale sind klärend im Hinblick auf die Erkennbarkeit von Unternehmen der Caritas. Dabei ist die ethische Vertretbarkeit des Erzielens von Überschüssen und deren Verwendung ein zentrales Thema. Sehr deutlich wird: Wollen sich die Unternehmen der Caritas am Markt behaupten, müssen sie gemeinwohlorientierte Überschüsse erzielen. Sie dienen der wirtschaftlichen Sicherung und damit des Angebots für Menschen in Not. Gemeinwohlorientiert bedeutet dabei: transparent und investiert für die Menschen. Was in diesem Zusammenhang "angemessene Überschüsse" oder "angemessenes Risikokapital" im Einzelnen und für jedes einzelne Unternehmen der Caritas bedeuten, muss vertieft reflektiert und beschrieben werden.
Letzteres gilt sicher auch für die weiteren konstitutiven Merkmale, die nicht selten in Spannung stehen zwischen derzeitigen Gegebenheiten und Vision:
- Realisierung unternehmerischen und marktbezogenen Handelns einerseits und Wahrung und Weiterentwicklung des kirchlichen Profils andererseits;
- Anpassung der Angebote an den Markt bei gleichzeitiger Gestaltung nach ethischen und christlichen Werten;
- eigenständige wirtschaftliche Organisationen und zugleich das Bewusstsein, unter Einhaltung des Rahmens kirchlicher Anerkennung und damit auch nach kirchlichem Arbeitsrecht zu handeln.
Theologisch-spirituell begründete Gelassenheit
Wie aber in der Wirklichkeit der wirtschaftlichen Zwänge das Heft des Handelns in den Händen halten? Zunächst weisen die Leitlinien deutlich auf den Anspruch von Caritas-Unternehmen hin, in detaillierter Kenntnis der Realität fachlich hoch qualifiziert, wirtschaftlich gesund und strategisch selbstbestimmt auf dem Markt zu agieren.
Was Unternehmen der Caritas aber von anderen Unternehmen unterscheidet, sind Fundament und Grund ihrer Angebote. Caritas-Unternehmen sind Teil der "pilgernden und suchenden Kirche in der Welt" und damit Orte der Erfahrbarkeit der in allem gegenwärtigen Nähe Gottes. Es geht also um die grundlegende Überzeugung des Glaubens und das darin begründete Vertrauen: Jede Zeit mit allen ihren Herausforderungen und Bedingungen ist Gottes Zeit, in der Gott durch die Menschen handelt (Mk 16, 17f.; Lk 9,1-6; 10,9) und in der er in allem und zu jeder Zeit gegenwärtig ist (Kol 3,11; 1 Kor 15,28). Es ist letztlich die Gewissheit: Wenn die in den Unternehmen der Caritas Handelnden alles in ihrer Verantwortung Mögliche getan haben, können sie der Überzeugung vertrauen, dass Gott ergänzt, was Menschen nicht vermögen.
Unternehmen der Caritas repräsentieren Kirche, und durch ihr Handeln prägen sie Kirche und sollen Ausgangspunkt von Glaubenswegen und Glaubenserfahrung für die Menschen sein: für die, die zu ihnen kommen, wie für die, die sich hauptberuflich und ehrenamtlich engagieren. Caritas-Unternehmen deuten die Zeichen der Zeit als Zeichen Gottes. Sie setzen die sozialethischen Prinzipien der katholischen Soziallehre in ihrem Handeln um. Ohne ihr Angebot würde der Kirche Entscheidendes fehlen.
Dieser Anspruch führt zu konkreten Fragen des Arbeitsalltags: Was genau bedeutet es, dass ein Unternehmen Ort der Glaubenserfahrung für Menschen in Not ist? Was bedeutet dies für ein Unternehmen der Caritas, das eine Mitarbeiterschaft hat, die selbst wenig oder gar keine Erfahrung mit Glaube und Kirche hat? Wie können Wege gestaltet werden, um Glaubenserfahrungen unter den kirchlichen Unternehmensbedingungen zu ermöglichen? Es gilt Antworten in mittel- und langfristig angelegten Prozessen zu suchen.
Mut zum Wagnis - Mut zu neuen Lösungswegen
Die Leitlinien beschreiben Ansatzmöglichkeiten, die Vision von Unternehmen der Caritas in kleinen Schritten Wirklichkeit werden zu lassen: Gestaltung der Führungsebene; Weiterentwicklung der Dienstgemeinschaft; Möglichkeiten der Familienfreundlichkeit; Umgang mit kultureller Herkunft; Gestaltung von Formen und Räumen der Glaubensangebote; Verantwortung auch für andere Unternehmen und damit für die Kirche als Ganzes; Ausweis hoher Qualität; wirtschaftliches und nachhaltiges transparentes Handeln; gelebte Fairness im Wettbewerb; Ausrichtung an der Grundordnung und dem für die Caritas geltenden Tarif.
Eine spannende Zeit liegt vor den Unternehmen der Caritas - als gemeinsamer Weg aller im Unternehmen. Mit der Entscheidung der Delegiertenversammlung im Oktober dieses Jahres in Essen über die Leitlinien wird ein Meilenstein und zugleich der Beginn eines mittel- und langfristigen Prozesses gesetzt sein. Es gilt von den vielfältigen guten und bereits praktizierten Ansätzen zu lernen und sie gemeinsam weiterzuentwickeln. So hat es sicherlich Sinn, nach Verabschiedung der Leitlinien beispielsweise im Zusammenhang mit dem DCV-Projekt "Theologische und sozialethische Reflexion und Inspiration in der Caritas" - unter Beteiligung von Unternehmen mit unterschiedlichen Bedingungen und aus verschiedenen Regionen - Wege der praktischen Umsetzung zu suchen. In den kommenden Jahren sollte aber auch ein Netz von Kommunikationen und Diskussionen unterschiedlicher Themenfelder entstehen. Die Spannweite der Themenfelder, an denen weitergearbeitet werden sollte, ist groß.
Anmerkungen
1. Protokoll der AG Unternehmerische Belange der Caritas vom 16. März 2001.
2. Neue caritas Heft 1/2005, S. 8 ff.; vgl. auch Heft 1/2007, S. 9 ff.
3. Leitbild des Deutschen Caritasverbandes. 1997, S. 16.
4. Vgl. neue caritas Heft 12/2008, S. 12 ff. und Heft 14/2006.
5. Vgl. neue caritas Heft 1/2007, S. 15 ff. sowie Heft 11/2007.
6. Vgl. neue caritas Heft 2/2007.
7. Vgl. neue caritas Heft 14/2008, S. 9 ff.