Das Phänomen Elisabethhaus
"Als ich am Tag des Einzugs mit vier Europaletten Bettwäsche am Elisabethhaus ankam, war ich total fasziniert, dass schon über 40 Nachbarn und Menschen aus Kirchengemeinden da waren und vor allem, dass alle Generationen vertreten waren. Es waren bestimmt zehn Kinder da, die mitgeholfen haben", erinnert sich Diözesancaritasdirektorin Ulrike Kostka an die ersten Stunden vor Ort. Die Nachbarschaft rund um das Krankenhausgelände in der Großen Hamburger Straße hatte zuvor einen Brief von Alexianern und Caritas erhalten und über die Ankunft der neuen Anwohner gelesen. Die Idee, das leerstehende Bettenhaus als Unterkunft zu nutzen, hatte der Regionalgeschäftsführer der Alexianer St. Hedwig Kliniken Berlin, Alexander Grafe, selbst. In den Tagen kurz vor dem Einzug stand daraufhin das Telefon nicht mehr still - Unzählige wollten sich engagieren. Für 94 Menschen begann ihr neues Leben in Berlin-Mitte auf einer Welle, einer Welle der Willkommenskultur. Die Medien zeigten großes Interesse am Geschehen und waren am Tag des Einzugs mit Kameras dabei. "Ich genieße die schönen Straßen und Gebäude um mich herum", sagte der Syrer Haitham Al-Ibrahim der Berliner Abendschau an diesem Tag schüchtern und erzählte bei einem Spaziergang durch seinen neuen Kiez, dass er aus Aleppo vor dem Bürgerkrieg geflohen sei und Frau und Kinder vorerst in der Türkei zurück lassen musste.
In kürzester Zeit organisierten sich Gruppen von Ehrenamtlichen, insgesamt über 100 Engagierte, darunter viele Künstler und Kreative, und schufen im Haus von Beginn an eine Atmosphäre der Begegnung auf Augenhöhe. So wurden nicht nur Deutschkurse angeboten, sondern auch eine "Stunde der Begegnung", ganz ohne Stundenplan. Hier ging es nicht um Grammatik und Vokabeln, sondern um Kennenlernen und Austausch - mitunter durch Kommunikation mit "Händen und Füßen". Aus dieser ungezwungenen Herangehensweise heraus wurden schnell auch gemeinsame Theaterbesuche und kreative Aktivitäten organisiert. Eine Handvoll renommierter Berliner Kulturstätten traten von sich aus an die Ehrenamtlichen und an die Leiterin des Hauses, Florence Vettraino, heran, um Freikarten für Flüchtlinge zu verschenken.
Kleiderspenden aus dem Kiez wurden so üppig am Empfang des St. Hedwig-Krankenhauses abgeliefert, dass sie bald Türme bildeten. Für die Kinder wurde ein Spielzimmer eingerichtet, das die Kleinen eigenhändig mit bunten Wandfarben verschönern durften. Ein beliebtes Motiv der jungen Künstler an diesem Januartag: "Ich liebe Berlin", gemalt mit einem roten Herzen. Chaim Jellinek, jüdischer Arzt, der sich seit der ersten Stunde unter anderem für medizinische Versorgung engagiert hatte, brachte den Geist des Elisabethhauses in einer internen E-Mail auf den Punkt:
"Ich erlebe die Gruppe der Ehrenamtlichen als besonders, weil Jüdinnen und Juden mit Muslimen und Muslimas und mit Mitgliedern der Herz-Jesu-Gemeinde zusammen mit vielen Filmschaffenden, MalerInnen, TherapeutInnen und MusikerInnen aus der Nachbarschaft arbeiten und tatsächlich konkret etwas bewegen: Wir schaffen es im Zusammenhang mit der Flüchtlingshilfe die Bilder im eigenen Kopf so weit durch die Realität zu korrigieren, als wären unsere religiösen und kulturellen Unterschiede belanglos - wir stellen her, was wir uns alle als eigentlichen Normalzustand wünschen."
Zu einem großen Erfolg dieses "Spirits" zählte auch, dass alle Kinder im entsprechenden Alter innerhalb von zwei Monaten eingeschult werden konnten. Obendrein spendierte Hertha BSC für jedes Kind ein Set aus Schulutensilien in blau-weiß und schickte das Maskottchen Herthinho auf einen Plausch im Elisabethhaus vorbei. Doch nicht alles, was Flüchtlinge und Ehrenamtliche gemeinsam erlebten, waren positive Erfahrungen wie diese. Durch die Begleitung zu Ämtern, allen voran das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in Spandau, wurde vielen erst klar, auf welche Art und Weise Flüchtlinge in Deutschland aufgenommen werden und wie viel es tatsächlich politisch noch zu tun gibt. Auch Ulrike Kostka macht immer wieder deutlich, dass Flüchtlinge in Deutschland mehr brauchen als ein Dach über dem Kopf und möchte Veränderungen von der Politik: "Nur die Mauern hochzuziehen, bringt nicht viel, wir brauchen mittelfristige Strategien zur Unterbringung. Integration und Beschäftigung sind auch wichtige Themen". Einer der wichtigsten Akteure in den aktuellen Flüchtlingsfragen sei in ihren Augen die Kirche, sowohl die evangelische als auch die katholische. Nicht nur die Unterbringung sei wichtig, auch das kirchliche Netzwerk bewirke viel in der Gesellschaft. Die Aktion "Licht aus" bei der Pegida-Demonstration vor dem Kölner Dom habe ein deutliches Zeichen gesetzt.
Wenn alles nach Plan läuft, werden die Bewohner aus dem Elisabethhaus im Sommer 2015 in eine renovierte Caritas-Gemeinschaftsunterkunft in Berlin-Wedding mit 108 Plätzen umziehen können - sicherlich nicht alle, denn manche werden bestimmt zurück in die Heimat geschickt. Doch für die, die in Berlin bleiben dürfen, hofft die Direktorin weiterhin auf das "Phänomen Elisabethhaus": "Es wäre toll, wenn aus den entstandenen Bekanntschaften etwas Neues in Wedding entsteht. Beziehungsabbrüche sind für die Menschen ganz schön schwer. Wenn einzelne Patenschaften zu längerfristigen Freundschaften werden, wäre das einfach prima."
Kontakt:
Florence Vettraino
Leitung Notunterkunft
Elisabethhaus
Große Hamburger Str. 5
10115 Berlin
Telefon: 0177 520 29 58
f.vettraino@caritas-berlin.de