Suffizienz als Strategie für eine lebenswerte Zukunft
Grüne Städte mit vielen Parks und kurzen Wegen, Dörfer mit lebendigen Zentren und Marktplätzen, gute Nachbarschaften, Kinder und Senior:innen, die ohne Auto sicher mobil sein können - das alles sind Aspekte, die häufig in Visionen lebenswerter "Zukünfte" zu finden sind. In der Nachhaltigkeitsforschung nennt man die Strategie, mit der solche Orte entstehen können, Suffizienz. Suffizienz zielt einerseits auf die Verringerung der Menge an Gütern, die wir konsumieren und produzieren. Andererseits werden mit Suffizienz die dafür notwendigen Verhaltensänderungen beschrieben.
Ziel: die Schäden verringern
Grundlegend geht es bei der Suffizienz nicht nur darum, lebenswerte Orte zu schaffen, sondern vor allem die ökologischen Schäden, die wir mit unserem Handeln anrichten, zu verringern. Konkret bedeutet das: weniger Autos, weniger Parkplätze, weniger Einfamilienhäuser, weniger Fleisch - dafür mehr Sicherheit auf den Straßen, mehr Parks und Plätze, mehr gesunde Ernährung.
Mit der Verringerung der Gütermenge und der kollektiven Verhaltensänderung lässt sich die Nachhaltigkeitsstrategie der Suffizienz von den Strategien der Effizienz und der Konsistenz unterscheiden. Effizienz beschreibt das technische Optimieren von Prozessen, so dass weniger Energie, Ressourcen oder Arbeitskraft für dieselbe Menge an Gütern aufgewendet werden müssen oder mehr Güter mit gleichbleibendem Einsatz produziert werden. Kurz: Bei Effizienz geht es um das Verhältnis von Input zu Output. Unter Konsistenz wird das Schließen von Stoffkreisläufen (etwa durch Recycling) oder die Nutzung erneuerbarer Energien gefasst, also beispielsweise von Wind- und Solarenergie. Effizienz und Konsistenz nutzen damit vor allem technische Innovationen, während die Suffizienz auf soziale Innovationen fokussiert.
Weitermachen wie bisher - nur mit Erneuerbaren?
Lange Zeit wurde in weiten Teilen von Politik und Wissenschaft erwartet, dass die technischen Innovationen der Effizienz- und Konsistenzstrategien zur Bekämpfung des Klimawandels und anderer ökologischer Krisen ausreichen würden. Die Hoffnung war, dass sich an unseren Konsumpraktiken und Produktionsmustern wenig ändern müsste. In Wolfsburg, München und Grünheide würden dann Elektroautos vom Band laufen, in der Lausitz keine Braunkohle mehr verbrannt, sondern sich Windräder drehen und allerorten neue, effiziente Häuser mit Solardächern gebaut. Immer deutlicher wird, dass das nicht ausreicht: Die Hoffnungen stoßen an verschiedene Grenzen. Erstens verschärfen viele der technischen Innovationen andere ökologische Krisen wie den Verlust der Artenvielfalt, etwa weil Elektroautos und neue Passivhäuser genauso viel Platz benötigen und damit Flächen versiegeln wie ihre konventionellen Vorfahren. Zweitens drohen die Ressourcen für die grünen Technologien knapp zu werden, wenn wir das derzeitige weltweite Produktions- und Konsumniveau einfach nur auf "Grün" umstellen. Drittens zehren die Wachstumseffekte die gewonnenen Effizienzgewinne auf. Alle zehn Jahre kommen acht Millionen Autos zusätzlich auf die deutschen Straßen, die Wohnfläche steigt unaufhörlich und liegt mit nun 55 Quadratmetern pro Kopf schon doppelt so hoch wie in den 1980er-Jahren.1
Kurzum: Dass wir uns als Gesellschaft darauf besinnen, wie viel wovon für wen genug ist, ist unabdingbar. Mehr noch: Mit einer Reduktion unseres Verbrauchs wird Fachkräftemangel zu einem geringeren Problem, wir werden unabhängiger von Importen und von Risikotechnologien.
Einige mögen sagen, die Frage, wie viel genug sei, könne nur individuell beantwortet werden, genauso wie sich Verhalten nur von jeder Einzelperson selbstständig ändern ließe. Die Verantwortung für klimaschützendes Verhalten solchermaßen zu individualisieren ist nicht selten Teil einer Verzögerungstaktik, die echte Klimaschutzpolitik blockiert. Schon heute wird die Frage nach dem rechten Maß politisch beantwortet: Werbung suggeriert uns, mehr wäre besser, Förderprogramme sind viel häufiger auf das Erschaffen von Neuem ausgerichtet als auf den Erhalt von Bestehendem, unsere autogerechten Städte machen das Autofahren einfach, praktikabel und schnell - Fahrrad fahren oder zu Fuß gehen ist hingegen gefährlich und der ÖPNV unbequem. Die Rahmenbedingungen sind auf Wachstum ausgerichtet und legen nicht nachhaltige Lebensstile unmittelbar nahe und erschweren oder verhindern gar Verhaltensänderungen. Wollen wir mehr Suffizienz, geht es also um den Umbau dieser Strukturen.
Was andere Strukturen bewirken können, lässt sich in Kopenhagen beobachten. Seit über 40 Jahren wird die Stadt fahrradfreundlich umgebaut. Im Jahr 2017 hat die Stadt Kopenhagen die Radfahrenden gefragt, wieso sie aufs Rad steigen. Die Antworten: weil es schnell, einfach, gesund, günstig und bequem ist. Gerade mal sieben Prozent der Befragten gaben an, aus Umweltschutzgründen Fahrrad zu fahren.2 Die Kopenhagener:innen fahren also nicht alle Fahrrad, weil sie so umweltbewusst sind, sondern weil die Stadt so gebaut ist, dass es die naheliegendste Option ist. So gestaltet ist Suffizienzpolitik auch nicht paternalistisch, also bevormundend, zumindest nicht bevormundender als die gegenwärtige, nicht-suffizienzfördernde Welt. Denn auch heute prägen Strukturen unser alltägliches Handeln. Es geht darum, diese Strukturen umzubauen, damit nicht ein zerstörerisches, sondern ein nachhaltiges Leben einfacher, bequemer und selbstverständlicher wird.
Suffizienz setzt auf Umverteilung
Die Tatsache, dass Kopenhagen als Fahrradstadt, Paris als "15-Minuten Stadt" oder Barcelona als "Stadt der Superblocks" (Konzept der Verkehrsplanung, das Wohnquartiere vom Durchgangsverkehr befreit) weltweite Bekanntheit erlangt haben, verweist aber auch darauf, wie selten Suffizienzpolitik immer noch ist. Die Hemmnisse sind groß und vielfältig. Zu nennen sind hier beispielsweise ein Fortschrittsverständnis, welches Fortschritt immer noch primär mit technologischer Entwicklung und Wachstum übersetzt, nicht mit wachsender sozialer Gerechtigkeit oder Umweltschutz.
Damit alle Menschen genug haben, setzt Suffizienz nicht auf weiteres Wachstum, sondern auf Umverteilung. Dies bedeutet, dass die Menschen und Institutionen, die gesellschaftlich eher reich und mächtig sind, tendenziell am meisten materiell reduzieren müssten. Dementsprechend stehen manifeste wirtschaftliche Interessen einer Suffizienzwende entgegen. Viel Kapital ist in fossilen Produktionsprozessen gebunden und auf Wachstum und nicht auf ein "Genug" ausgerichtet. Die Lobbygruppen und auch die gewerkschaftliche Vertretung dieser alten Industrien sind einflussreich und die Gegenmacht ist wenig schlagkräftig.
Dennoch gibt es immer lautere Stimmen, die eine stärkere Suffizienzorientierung in allen Bereichen fordern. Im Jahr 2022 hat der Weltklimarat in seinem Bericht zum ersten Mal die Notwendigkeit von Suffizienz betont. Auch auf EU-Ebene werden die Stimmen lauter, und auf kommunaler Ebene haben sich einige Städte schon auf den Weg gemacht. Wie eine suffizienzorientierte Planung und Suffizienzpolitik ganz konkret aussehen kann, lässt sich beispielsweise in Hannover (S. a. S. 16 ff. in diesem Heft) oder Zürich beobachten.
Beispiel Zürich: Mindestbelegung bei städtischen Wohnungen
In Zürich befinden sich rund 25 Prozent aller Wohnungen in gemeinnützigem Besitz, sechs Prozent gehören der Stadt und knapp 20 Prozent werden von einer Vielzahl von Genossenschaften unterhalten. In den städtischen Wohnungen und in den Genossenschaften gilt eine Mindestbelegungsquote. Das heißt, die Zahl der Bewohner:innen in einer Wohnung muss immer mindestens der Zimmerzahl minus eins entsprechen. In einer Wohnung mit fünf Zimmern müssen also immer mindestens vier Menschen wohnen. Ist das nicht mehr der Fall, etwa weil die Kinder ausgezogen sind, bekommen die Bewohner:innen in den folgenden Jahren bis zu drei Alternativangebote für kleinere Wohnungen, von denen sie sich eines aussuchen können. Dadurch werden große Wohnungen wieder frei, beispielsweise für junge Familien, die aus der kleinen Paarwohnung herausgewachsen sind. So kann der Wohnraum so verteilt werden, dass alle immer in einer Wohnung wohnen, die zu ihrer Lebensphase passt.
Durch diese bedarfsgerechte Verteilung von Wohnraum wohnen nicht nur weniger Menschen in zu großen oder zu kleinen Wohnungen, sondern es wird auch viel Neubau und damit Wohnfläche eingespart.
Suffizienzpolitik kann auch soziale Probleme bekämpfen
In Deutschland leben in Einfamilienhäusern im Durchschnitt gerade mal gut zwei Personen.3 Es sind also zumeist keine Familienhäuser, sondern Altenwohnsitze von sogenannten "Empty-Nesters". Dabei führt die große Wohnfläche nicht per se zu hoher Lebenszufriedenheit, sondern kann auch zur Belastung werden. Werden solche großen Häuser und Wohnungen schneller frei, brauchen junge Familien weniger neu zu bauen. So kann Suffizienzpolitik nicht nur ökologische Probleme lindern, sondern auch soziale Probleme wie einen Mangel an Wohnraum bekämpfen und den Umzug in altersgerechte Wohnungen erleichtern. Dafür müssen wir die Verteilung unseres Wohnraums anders organisieren und neben der energetischen Sanierung auch den Umbau und die Umnutzung des Bestandes in Angriff nehmen. Die Zürcher:innen machen seit Jahrzehnten vor, wie es funktionieren kann.
1. Statistisches Bundesamt: Wohnen, www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Wohnen/_inhalt.html#238638 (Zugriff am 20. Juni 2023).
2. City of Copenhagen: Copenhagen - City of Cyclists. Facts & Figures 2017. Copenhagen, 2017.
3. Statistisches Bundesamt: Haushalte in Eigentümerwohnungen, www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Wohnen/Tabellen/tabelle-wo-haushalte-eigentuemerwohnungen.html (Zugriff am 23. Juni 2023).
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