Krieg in der Ukraine – Kitas am Limit
Es braucht ein paar Anläufe bis zu dem Telefonat. Die Leiterin eines Familienzentrums in einer mittelgroßen deutschen Stadt ist beschäftigt: Kinder aus 16 Nationen besuchen die Einrichtung, viele Eltern sprechen kein Deutsch. Als es darum geht, zusätzlich Kinder aus der Ukraine aufzunehmen, muss sie abwägen, denn sie will auch den schon betreuten Kindern und ihrem Personal gerecht werden. Eine noch höhere Belastung ihrer Mitarbeitenden könnte zu mehr Ausfallzeiten führen und "dann können die Kinder auch nicht betreut werden", sagt sie.
Die Leiterin entscheidet sich gegen die Aufnahme geflüchteter Kinder in die Regelgruppen. Stattdessen wird in ehemaligen Büroräumen ein sogenanntes Übergangsangebot eingerichtet: für zwölf Kinder, die vor dem Krieg in der Ukraine geflohen sind - eine Alternative zu Krippe oder Kita. Trotz der widrigen Umstände sind die Kinder gut angekommen.
Für ihre Mütter und Großmütter1 eröffnet sich damit die Möglichkeit, einen Sprachkurs an der Volkshochschule zu besuchen. Dieser wird über Spendenmittel finanziert, die nun jedoch ausgeschöpft sind. Stadt und Kirche wollen das Angebot weiterführen, die Finanzierung ist allerdings nicht gesichert. Wird das Angebot gestrichen, müssen Kinder und Mütter zu Hause bleiben.2 Nur drei Kinder sind bisher in regulären Einrichtungen untergekommen.
Zusätzliche therapeutische Hilfe oder zusätzliche sozialpädagogische Begleitung gibt es für die Geflüchteten nicht. Während die Mütter und Großmütter die Volkshochschule besuchen, werden die zwölf Kinder in dem Familienzentrum von einer Ukrainerin, einer Syrerin und einer Deutschen betreut. Was machen diese Mitarbeitenden, wenn das Programm ausläuft? Die Deutsche fängt im September mit der Ausbildung zur Erzieherin an. Die Ukrainerin will ihren Abschluss als Pädagogin anerkennen lassen, sobald sie ausreichende Deutschkenntnisse vorweisen kann. Die Syrerin hatte bisher keine Perspektive, als Erzieherin in der Einrichtung zu arbeiten. Die Leiterin fragt sich, ob die neue Grundordnung des kirchlichen Dienstes hier Möglichkeiten eröffnet, sie weiterbeschäftigen zu können.
Die Communitys, die sich anfänglich gebildet hatten, fangen an, sich in Deutschland zu öffnen. Dies zeigt sich bei der gemeinsamen Weihnachtsfeier. Die Frauen erzählten von den Bombenangriffen, von zerstörter Infrastruktur, der Sehnsucht nach den Partnern, aber auch von der Entfremdung. Selbst wenn der Frieden bald käme, können sich viele nicht vorstellen, in ein zerstörtes Land zurückzukehren. Der Wiederaufbau dauere zu lange. Sie sorgen sich um die Zukunft ihrer Kinder.3
Übergangsangebote entstanden
Zu Beginn des Jahres 2023 hatten 1.046.742 Menschen, die vor dem Krieg in der Ukraine geflohen waren, in Deutschland ein Zuhause auf Zeit gefunden.4 Das sind 80 Prozent der Schutzsuchenden hierzulande insgesamt. Der Krieg hat laut UN-Flüchtlingswerk UNHCR die größte Fluchtbewegung innerhalb Europas seit dem Zweiten Weltkrieg ausgelöst.5 Ein Drittel der Geflohenen sind Kinder und Jugendliche. Das psychische Wohlbefinden geflüchteter Kinder liegt signifikant unter den repräsentativen Referenz- und Normwerten von anderen in Deutschland lebenden Kindern.
In vielen Städten und Gemeinden sind sogenannte Übergangsangebote entstanden. Sie reichen vom Bundesprogramm Integrationskurs mit Kind über kommunal finanzierte Maßnahmen bis zu zahlreichen ehrenamtlich organisierten Angeboten. Dass es wirklich zu einem Übergang in reguläre Betreuungsangebote kommt, ist oft nicht gewährleistet. In vielen Einrichtungen sind Kinder zusätzlich und über die reguläre Gruppengröße hinaus aufgenommen worden. Die Bereitschaft der Fachkräfte, auch ehrenamtlich zu helfen, sei angesichts der multiplen Krisensituation im Arbeitsfeld ungewöhnlich hoch, sagen Verantwortliche in Diözesen und Kommunen. Die Erfahrungen von 2015 erwiesen sich als hilfreich.
Das Problem muss gesehen werden
Ein Fachberater schreibt, die Aufnahme von Kindern aus der Ukraine laufe "eher unspektakulär". Denn die Fachkräfte seien "mit ihren interkulturellen Kompetenzen und den Möglichkeiten der Kommunikation mit Kindern und Eltern mit wenig oder keinen deutschen Sprachkenntnissen (…) schon recht weit und meistern das häufig ohne große Probleme". Eine solche Aussage ist zwar den Fachkräften gegenüber sehr wertschätzend, beschönigt aber die Tatsache, dass allein in Deutschland in diesem Jahr 384.000 Kitaplätze fehlen und auf Jahre zahllose Fachkräfte.6 Vielerorts sind die Wartelisten lang. Vorgaben zur Gruppengröße oder zur formalen Qualifikation des Personals wurden in einigen Bundesländern ausgesetzt. Nach dem SGB VIII hat jedes in Deutschland lebende Kind ab dem ersten Geburtstag einen Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz in der Tagespflege, Krippe oder Kita - auch ein geflüchtetes Kind.7
Beim Verband Katholischer Tageseinrichtungen für Kinder melden sich regelmäßig Menschen, die Familien aus der Ukraine unterstützen und nicht weiterwissen: "Ich wende mich an Sie, weil ich über die Grundschulen keine Hilfestellung beziehungsweise weitere Auskünfte erhalten habe. Die Mutter spricht weder Deutsch noch Englisch, deshalb springe ich als Helferin ein." Oder: "Die Mama ist alleinerziehend, braucht dringend einen Sprachkurs (…), um selber alle Alltagsaufgaben zu lösen. Obwohl die Situation mit Kindergartenplätzen sehr schwierig ist, hoffe ich sehr, einen Platz zu finden. Könnten Sie mir vielleicht helfen?" "Die Schulen geben der ukrainischen Freundin der Mutter die Auskunft, dass der Junge noch nicht schulpflichtig sei, wohl wegen seines Geburtsdatums? Der Junge benötigt aber einen Vorbereitungskurs für die erste Klasse (…) oder ein Betreuungsangebot in einem Hort. Es wäre wunderbar, wenn Sie mir und damit der Familie weiterhelfen könnten."
Gute Bildung, Betreuung und Erziehung in einer Kindertageseinrichtung erhöhen die Teilhabechancen aller Kinder - insbesondere derer, die unter erschwerten Bedingungen aufwachsen. Das Potenzial für die Integration von Familien ist groß.8 Guter Wille und ein paar Millionen reichen jedoch nicht aus. Die jahrelange Überlastung des Arbeitsfeldes muss politisch anerkannt und massive Anstrengungen müssen unternommen werden, um kurzfristig Entlastung zu schaffen und mittel- und langfristig für strukturelle Verbesserungen zu sorgen. Die größte Herausforderung ist dabei der Personalbedarf. Dass die größte Volkswirtschaft Europas und die viertgrößte der Welt weder Schulpflicht noch individuelle Rechtsansprüche gewährleistet, ist letztlich eine politische Entscheidung. Die Forderungen des KTK-Bundesverbandes für die Kindertagesbetreuung - bundesweite strukturelle Qualitätsstandards, differenzierte Teamprofile, Stärkung der Ausbildungsorte9 - geben die Lösungsrichtung vor.
Anmerkungen
1. Die überwiegende Mehrheit der erwachsenen Geflüchteten sind Frauen. Die Hälfte von ihnen hat mindestens ein minderjähriges Kind bei sich.
2. 72 Prozent der aus der Ukraine Geflüchteten haben einen Hochschulabschluss. Nur vier Prozent geben an, über gute Deutschkenntnisse zu verfügen.
3. 37 Prozent der Geflüchteten möchten für immer oder mehrere Jahre in Deutschland bleiben, 34 Prozent bis Kriegsende, 27 Prozent sind noch unentschieden und nur zwei Prozent planen, Deutschland innerhalb eines Jahres wieder zu verlassen.
4. Die Nachweise zu den Statistiken, die sich auf die aus der Ukraine geflüchteten Menschen beziehen, sind dem Ausländerzentralregister der Bundesregierung entnommen sowie der Studie "Geflüchtete aus der Ukraine in Deutschland. Flucht, Ankunft und Leben", https://bit.ly/3XkWrVK
5. https://data.unhcr.org/en/situations/ukraine
7. Dass dies auch bei früherer Flüchtlingsmigration oft nicht eingelöst und Familien dieses Recht vorenthalten wurde, haben insbesondere der KTK-Bundesverband und das Deutsche Institut für Menschenrechte (https://bit.ly/3Jp7zNZ) immer wieder angemahnt.
8. https://bit.ly/3wHpyrv; Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina: Ungerecht von Anfang an. Stellungnahme 2014; https://bit.ly/40dSLI5, https://bit.ly/3XlIN4M
Lehrtätigkeit als abhängige Beschäftigung
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