Das Leben nach der Flut
Hagen, knapp zehn Monate nach der Flutkatastrophe: Cüneyt Percin steht vor der Ruine seines Hauses. Ein paar Meter die Straße hoch plätschert leise ein kleiner, unscheinbarer Bach. Wie der heißt? "Nur Bach", sagt Cüneyt Percin. Der Bach – wenige Zentimeter tief – war einer der Gründe, warum er mit seiner Familie im Jahr 2017 herzog. "Wir haben uns hier in die Lage verliebt." Der Sportverein oder der Wildpark mit Wildschweinen und Rehen – alles in Laufnähe. Cüneyt Percin war in einem anderen Stadtteil von Hagen aufgewachsen. "Das Haus hier war ein purer Glücksgriff." Der Bach ist aber auch der Grund, warum der 39-Jährige seit mehreren Monaten im Gartenhaus wohnt, weil das Haus selbst unbewohnbar ist, und warum das WLAN-Kabel in luftiger Höhe durch den Garten gespannt ist, um das Gartenhaus zu erreichen. Und das kleine Rinnsal ist der Grund, warum Percins Frau mit den drei Kindern im Alter von neun, 13 und 23 Jahren und der Schwiegermutter wegziehen musste, in eine kleine Wohnung in einem anderen Stadtteil, in der für einen weiteren Erwachsenen kein Platz ist.
Für die drei Papageien und den Hamster der Familie gab es auch keinen Platz mehr, sie wurden abgegeben. Der kleine Bach ist der Grund, warum das Haus der Familie, wenige Jahre nach dem Kauf und der selbst vorgenommenen Renovierung, jetzt nur noch ein Trümmerhaufen ist.
Cüneyt Percin ist Handwerker. Zurzeit ist er oft im Ahrtal unterwegs, um dort von der Flut zerstörte Garagen neu zu bauen. Hinter der Familie liegen Monate voller Stress und Belastung; viele Momente, in denen sie sich dachten: Das kann doch nicht wahr sein. Die Geschichte ist komplex: Versicherungen, staatliche Hilfen, unterschiedliche Gutachten - die Familie lebt in einem Wirrwarr, das bislang viele Schritte nach vorne blockiert.Seit einigen Wochen ist nun die Caritas mit im Boot. Fluthelferin Miriam Paulat aus Hagen begleitet Cüneyt Percin und seine Familie auf ihrem Weg aus der Flutkatastrophe.
Hilfsorganisationen ziehen an einem Strang
In Hagen arbeiten verschiedene Hilfsorganisationen wie Caritas, Diakonie, Arbeiterwohlfahrt (AWO), Deutsches Rotes Kreuz (DRK) sowie die Stadt Hagen gemeinsam in einem Beratungszentrum zusammen. Zentral in der Innenstadt gelegen, sind Miriam Paulat und ihre Kolleg:innen dort jederzeit persönlich erreichbar. "Viele Menschen sind frustriert, weil es so langsam vorangeht. Aber auch sehr dankbar, dass wir sie unterstützen", sagt die 29-Jährige. Die Caritas-Fluthelfer:innen betreuen jeweils feste Familien, um konstante Beratungsverhältnisse zu ermöglichen. In einem kleinen Bus sind auch mobile Beratungen möglich, oftmals finden die Gespräche jedoch bei den Betroffenen zu Hause statt. Die Mitarbeitenden sind ausschließlich Fachkräfte, alle kennen die psychosozialen Einrichtungen in Hagen und wurden unmittelbar nach der Flut eingestellt.
Im Fall von Cüneyt Percin ermöglichte die Caritas-Fluthilfe die Finanzierung eines unabhängigen Baugutachters - und mehr Durchblick im bürokratischen Dschungel sowie Hilfestellungen bei Anträgen. "Frau Paulat macht für mich alles einfacher", sagt Percin, "ich hätte das alles niemals so hinbekommen, wenn sie nicht dagewesen wäre."
Die Flut belastet auch Beziehungen
Man kann schwerlich nur eine einzige Geschichte erzählen, um die Fluthilfe der Caritas im vergangenen Jahr zu veranschaulichen. Denn die Fluthilfe ist so vielfältig wie die unterschiedlichen Auswirkungen, die die Flut auf die Leben der Menschen hat. Manche Menschen haben bereits Geld für den Wiederaufbau von Versicherungen und vom Staat erhalten, andere scheitern aus verschiedenen Gründen schon bei der Antragstellung. Die Caritas unterstützt die Geschädigten in all diesen bürokratischen Belangen und zahlt, wie im Fall von Cüneyt Percin, selbst finanzielle Hilfen an die Betroffenen aus.
Die Fachdienste der Caritas sind in der von der Flut betroffenen Region seit Jahrzehnten präsent und gut vernetzt. Zu ihren Hilfeangeboten gehören aufsuchende Sozialarbeit, Paar- und Familienberatung, Baufachberatung, psychosoziale Beratung, Traumatherapie, Migrationsberatung und viele weitere Fachdienste. All diese Angebote fließen in der Caritas-Fluthilfe zusammen, denn die Flut hat nicht nur Häuser zerstört, sondern belastet auch Familien, Beziehungen, Gemeinschaften.
"Wir haben gesagt: Wir investieren Zeit", erläutert Silvia Plum von der Caritas in Ahrweiler ihren Ansatz. Im Ahrtal war das Ausmaß der Flutkatastrophe am größten. Allein hier starben mindestens 134 Menschen, ganze Dörfer wurden von den Wassermassen vernichtet. "Unser Ziel ist es, den Menschen nach allem, was sie erlebt haben, das Gefühl zu vermitteln: Ich kann das wieder selber", sagt Silvia Plum, die die Fluthilfe im Ahrtal koordiniert. Wahrnehmen, zuhören und unterstützen, lautet die Devise.
Die Hilfen werden immer wieder neu angepasst
Die Hilfen der Caritas orientieren sich grundsätzlich an den Bedarfen vor Ort und haben sich in den vergangenen Monaten immer wieder verändert. Direkt nach der Flut leisteten die Caritasverbände in den Flutgebieten Soforthilfe. Die Betroffenen erhielten unmittelbar Geld, um ihre Unterbringung und Versorgung nach der Katastrophe sicherzustellen. In den Folgemonaten wurden dann Haushaltsbeihilfen ausgezahlt, die der Wiederbeschaffung von Hausrat und persönlichem Bedarf dienten. Darüber hinaus sind diverse psychosoziale Angebote entstanden, beispielsweise soziale Treffpunkte und traumapädagogische Angebote, die auch in den kommenden Monaten fortgeführt und weiterentwickelt werden. Der materielle Wiederaufbau steht in vielen Orten noch bevor. Dabei gilt das Nachrangigkeitsprinzip: Als Wohlfahrtsverband kann die Caritas erst dann Gelder auszahlen, wenn der Staat und die Versicherungen den Betroffenen ausgezahlt haben, was ihnen zusteht. Um gezielt jenen zu helfen, die am dringendsten Hilfe benötigen, überprüft die Caritas in jedem Fall deren Bedürftigkeit.
Ein Jahr nach der Flutkatastrophe ist längst nicht alles wieder so, wie es einmal war, und in vielen Fällen wird es auch nie wieder so werden. Die Caritas bleibt aber vor Ort - nicht nur in den nächsten Monaten, sondern in den nächsten Jahren, um die Menschen auf ihren ganz individuellen Wegen zu unterstützen. Manche kämpfen mit zahlreichen Hindernissen, andere schöpfen langsam wieder Zuversicht. Cüneyt Percin wünscht sich eine Genehmigung zum Abriss des Hauses, Wiederaufbau und Klarheit. Ob er denkt, dass alles wieder gut wird? "Natürlich", sagt er mit einer erstaunlichen Ruhe, "davon bin ich überzeugt."
Flut in Deutschland 2021
Die Caritas vor Ort
◆ Das Flutgebiet umfasst insgesamt fünf Diözesan-Caritasverbände (DiCV): Aachen, Essen, Köln, Paderborn und Trier.
◆ Über 49,9 Millionen Euro Spenden hat Caritas international, das weltweit tätige Hilfswerk des Deutschen Caritasverbandes, für die Fluthilfe in Deutschland erhalten. Davon wurden 29,6 Millionen Euro durch das Aktionsbündnis Katastrophenhilfe an Caritas international weitergeleitet.
◆ 25 Fluthilfebüros wurden im Flutgebiet errichtet.
◆ Der Projektzeitraum der Fluthilfe ist bis August 2024 vorgesehen. Es wird jedoch davon ausgegangen, dass die Angebote der Caritas zumindest in Teilen des Flutgebiets weit über diesen Zeitraum hinausgehen werden.
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