Inklusive Gesundheitsversorgung für alle
Es passiert mir immer wieder, dass Menschen, mit denen ich über Barrierefreiheit im Gesundheitssystem spreche, erstaunt sind: Wie kann es sein, dass nicht alle ärztlichen Praxen barrierefrei sind? Wieso bekommen Menschen mit Schwerst- und Mehrfachbehinderungen in Krankenhäusern nur in seltenen Fällen die Versorgung, die sie benötigen? Fakt ist: Gerade in dem System, in dem doch eigentlich ein besonders hohes Bewusstsein für Barrierefreiheit vermutet werden sollte, gibt es noch sehr viel Nachholbedarf.
Dabei ist die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) in Artikel 25 sehr deutlich: Darin verpflichten sich die Vertragsstaaten, Menschen mit Behinderungen eine ortsnahe gesundheitliche Versorgung in derselben Bandbreite und von derselben Qualität zu garantieren wie Menschen ohne Behinderungen. Darüber hinaus sollen sie die Leistungen der gesundheitlichen Versorgung erhalten, die sie wegen ihrer Behinderung benötigen. Das heißt einfach ausgedrückt: Menschen mit Behinderungen haben zuallererst ein Recht auf eine barrierefreie gesundheitliche Versorgung im "Regelsystem". Eine Frau mit Rollstuhl sollte dieselbe gynäkologischen Praxis besuchen können wie eine Frau ohne Rollstuhl, um nur ein Beispiel zu nennen. Gibt es einen sogenannten behinderungsbedingten Mehrbedarf, muss dieser ebenfalls orts- und zeitnah abgedeckt werden können. "So gemeindenah wie möglich, auch in ländlichen Gebieten", wie es in der UN-BRK heißt.
Barrierefreiheit in Arztpraxen
Es ist inakzeptabel, dass in einem Land wie Deutschland die freie Arztwahl für viele Menschen mit Behinderungen faktisch nicht möglich ist, denn: Die meisten ärztlichen Praxen sind nicht barrierefrei. Damit müssen tagtäglich zahlreiche Menschen mit Behinderungen umgehen: In vielen Fällen ist die erste Barriere schon die Internetseite, die nicht barrierefrei zugänglich ist - Stichwort barrierefreie Digitalisierung. Hinzu kommen die baulichen Barrieren: Viele Ärztinnen und Ärzte sind schlecht oder gar nicht erreichbar, weil es zum Beispiel keinen Fahrstuhl, keine taktilen Leitsysteme für Menschen mit Sehbehinderungen, keine Induktionsschleifen für Menschen mit Hörbeeinträchtigungen oder keine Informationen in Leichter Sprache gibt.
Die Verpflichtung zur Barrierefreiheit ärztlicher Praxen ergibt sich jedoch bereits aus dem Sicherstellungsauftrag der kassenärztlichen Vereinigungen, denn dieser bezieht sich auf alle gesetzlich Versicherten, ob mit oder ohne Behinderungen. Zudem sind Leistungsträger verpflichtet, darauf hinzuwirken, dass Sozialleistungen in barrierefreien Räumen ausgeführt werden (SGB I § 17 Abs. 1). Auch in § 2 a SGB V heißt es: "Den besonderen Belangen behinderter und chronisch kranker Menschen ist Rechnung zu tragen." Ebenso eindeutig ist Artikel 9 der UN-BRK, in dem die Zugänglichkeit medizinischer Einrichtungen explizit erwähnt ist. Ich frage mich, warum diese Regelungen nach wie vor nicht umgesetzt werden.
Assistenz im Krankenhaus ist nötig
Ein wichtiges Thema ist auch die Versorgung von Menschen mit Behinderungen in Krankenhäusern. Neben der baulichen Barrierefreiheit ist ein zentrales Thema die Assistenz im Krankenhaus. Denn wir alle wissen: Ein Krankenhausaufenthalt ist immer belastend, ob mit oder ohne Behinderung. Für Menschen mit Behinderungen (und ihre Angehörigen) kann dieser Aufenthalt jedoch zur Tortur werden - insbesondere für Menschen, die aufgrund kognitiver Einschränkungen nicht mit Worten kommunizieren können oder auf Ungewohntes mit Ängsten reagieren.
Aber auch für Menschen mit körperlichen Behinderungen, die im Alltag Assistenzleistungen in Anspruch nehmen, ist ein Krankenhausaufenthalt ohne ihre gewohnte Unterstützung kaum zu bewältigen. Denn meist ist das Krankenhauspersonal im Umgang mit Patient(inn)en mit spezifischen Behinderungen nicht geschult und steht zudem häufig unter hohem zeitlichem Druck. Letzteres ist auch den Fehlentwicklungen in unserem Gesundheitssystem in den vergangenen Jahrzehnten geschuldet.
Die Bundesregierung hat sich dieses Themas angenommen, und noch in der zurückliegenden 19. Legislaturperiode haben Bundestag und Bundesrat eine Regelung dazu beschlossen. Dafür waren eine Menge dicker Bretter an ganz verschiedenen Stellen zu bohren. Das Thema war bereits eine Forderung in meinen Teilhabeempfehlungen an die Bundesregierung im Dezember 2019.
Nach Inkrafttreten wird sich zeigen, ob diese Kompromisslösung tatsächlich die Situation von Menschen mit Behinderungen in Krankenhäusern verbessert und auch, ob sie auf andere Personengruppen und Leistungsbereiche ausgeweitet werden sollte. Dafür müssen die Bundesministerien für Gesundheit sowie Arbeit und Soziales die Wirkung der Regelungen im Einvernehmen mit den Ländern evaluieren. Geprüft werden soll auch, ob es Regelungslücken in Bezug auf den erfassten Personenkreis gibt. Die Ergebnisse müssen bis zum 31. Dezember 2025 veröffentlicht werden.
Medizinische Versorgung muss am Mehrbedarf ausgerichtet werden
Ein wichtiges Element der gesundheitlichen Versorgung für erwachsene Menschen mit einer geistigen Behinderung oder schweren Mehrfachbehinderungen sind Medizinische Behandlungszentren für erwachsene Menschen mit Behinderungen (MZEB). Sie ergänzen die haus- und fachärztliche Regelversorgung mit spezialisierten medizinischen, therapeutischen, psychologischen und auch sozialen Leistungen und sind an dem behinderungsbedingten Mehrbedarf von Patient(inn)en ausgerichtet.
MZEB gibt es seit 2015, doch leider sind wir von einer flächendeckenden Versorgung weit entfernt. Daher wurde in den oben genannten Teilhabeempfehlungen Abhilfe gefordert, und das Bundesministerium für Gesundheit ist tätig geworden. Doch die Forderung bleibt: Die Hürden für die Errichtung und Arbeit der MZEB müssen dringend abgebaut werden, damit es eine flächendeckende Versorgung gibt, ganz im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention und im Sinne der Menschen, die auf die Behandlung in diesen Zentren angewiesen sind. Ein Umdenken muss auch bei den präventiven Angeboten der Krankenkassen erfolgen: Viele Menschen mit Behinderungen können nach wie vor nicht daran teilhaben und davon profitieren. Für sie fehlen nicht selten passende Angebote, die aber wichtig sind für den Erhalt der Lebensqualität und auch der Arbeitsfähigkeit.
Wir müssen uns von der reinen Gewinnmaximierung befreien
Was wir uns stets und bei allem vor Augen führen müssen: Inklusion heißt, unsere Gesellschaft, unsere Demokratie so zu gestalten, dass alle an ihr teilhaben und sie aktiv mitgestalten können. Das betrifft insbesondere auch die gesundheitliche Versorgung, die viel zu oft Menschen mit Beeinträchtigungen nicht berücksichtigt. Und das sind immerhin 13 Millionen Menschen, die darüber hinaus nicht alleine leben, sondern gemeinsam mit Freund(inn)en, Familie, Kolleg(inn)en. Sie haben unterschiedlichste Formen von Behinderungen und Beeinträchtigungen, manche vorübergehend, manche dauerhaft, manche bezogen auf Sinnesorgane, manche bezogen auf den Körper wie Querschnittslähmung und manche bezogen auf die Lernfähigkeit: Sie alle müssen bedacht werden bei der Frage, wie eine inklusive gesundheitliche Versorgung auszusehen hat.
Im Zugang zu einer bedarfsgerechten medizinischen Versorgung für alle zeigen sich die Werte einer Gesellschaft. Wenn wir also über Reformen im Gesundheitssystem diskutieren, ist es auch im Sinne der Inklusion absolut richtig, wichtig und nachhaltig, sich vom Paradigma der reinen Gewinnmaximierung und Kostenreduzierung zu befreien. Gesundheit ist das höchste Gut für jeden und jede Einzelne - und auch für die Resilienz unserer Gesellschaft als Ganzer.
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