Leaving Care – ein steiniger Weg in die Selbstständigkeit
Der Übergang vom Jugend- zum Erwachsenenalter ist eine besonders bewegende Lebensphase, in der junge Menschen in der Regel einen relativ langen Übergangsprozess von Schule, Ausbildung und Start ins Berufsleben durchlaufen. Ergebnissen der Jugendforschung zufolge findet die Ablösung vom Elternhaus dabei heute zunehmend später statt: Junge Menschen nehmen mittlerweile in der Regel erst Mitte des dritten Lebensjahrzehnts ihr Leben selbst in die Hand.1
Die dazu erforderlichen komplexen Transitionsprozesse "verunsichern, erfordern individuelle Bewältigungs- und Anpassungsleistungen und gehen deshalb mit einem erhöhten Risiko des Scheiterns einher"2 Besonders betroffen sind davon jene jungen Menschen, die einen oft erheblichen Teil ihres Lebens in einer stationären Einrichtung der Erziehungshilfe verbracht haben und deren Hilfe im Zuge konzeptionell verankerter Verselbstständigungsprozesse häufig rund um die Erlangung der formalen Volljährigkeit beendet wird ("Care Leaver").
Im Gegensatz zu Kindern und Jugendlichen, die in ihren Herkunftsfamilien aufwachsen, können sie nämlich "zumeist nicht auf ein gesichertes familiäres beziehungsweise sozial gewachsenes Netz aus materiellen und immateriellen Unterstützungsleistungen und sozialen Beziehungen zurückgreifen"3 .Gerade diese jungen Menschen sind also deutlich stärker auf eine länger andauernde öffentliche Unterstützung in Form begleitender Jugendhilfemaßnahmen angewiesen, um für sich eine langfristig tragbare Perspektive und die Chance auf eine nachhaltige gesellschaftliche Teilhabe zu entwickeln. Forschungsergebnisse in diesem Bereich zeigen allerdings, dass das System der Kinder- und Jugendhilfe diesen erschwerten Voraussetzungen für Care Leaver in der Regel (noch) nicht hinreichend Rechnung trägt.
Obwohl vom Gesetzgeber durch den § 41 SGB VIII (Hilfen für junge Volljährige) grundsätzlich die Möglichkeit zur Durchführung von Hilfen zur Erziehung über das 18. Lebensjahr hinaus vorgesehen ist und erwiesenermaßen "nachhaltige Effekte in der Regel nicht mit verkürzten Hilfen zu erreichen sind"4 , ist die Jugendhilfepraxis zumeist doch darauf ausgerichtet, junge Menschen möglichst frühzeitig, das heißt mit oder kurz nach Erlangung der Volljährigkeit, in die Selbstständigkeit zu entlassen.
Auswertung des bundesweiten Projekts "Care Leaver"
Vor diesem Hintergrund starteten der Bundesverband katholischer Einrichtungen und Dienste der Erziehungshilfen (BVkE) und das Institut für Kinder- und Jugendhilfe (IKJ) das Projekt "Care Leaver - stationäre Jugendhilfe und ihre Nachhaltigkeit"5 , an dem sich bundesweit insgesamt 28 Einrichtungen aus dem Bereich der Erziehungshilfe beteiligt haben. Mit Hilfe dieser wissenschaftlichen Daten wurde zum einen die langfristige Wirksamkeit stationärer Hilfen analysiert. Zum anderen konnten spezifische Wirkfaktoren herausgearbeitet werden, die die Entwicklung von Care Leavern nach der Beendigung ihrer stationären Jugendhilfe nachhaltig positiv unterstützen.6
Die Auswertungsergebnisse basieren auf der Beteiligung von 332 Care Leavern sowie auf Informationen, die Fachkräfte aus beteiligten Einrichtungen zu 476 Hilfeverläufen aus stationären und 159 Hilfeverläufen aus ambulanten Hilfen zur Erziehung ans IKJ übermittelt haben.
Nachbetreuung und Nachhaltigkeit
Rund zwei Drittel (68 Prozent) der Care Leaver wurden nach Beendigung ihrer stationären Hilfe von einer Jugendhilfeeinrichtung ambulant nachbetreut. Dabei wurde die Nachbetreuung zumeist (88 Prozent) von der Einrichtung geleistet, die auch schon für die stationäre Hilfe verantwortlich war. Dies ist im Hinblick auf die Aufrechterhaltung von Beziehungen und sozialen Kontakten grundsätzlich eine gute Voraussetzung. Zum Zeitpunkt der Befragung (im Schnitt rund 5,5 Jahre nach Beendigung der stationären Hilfe) lebten 81 Prozent der jungen Menschen in einer eigenen Wohnung beziehungsweise Wohngemeinschaft (WG). Weitere sechs Prozent wohnten bei den Eltern und vier Prozent in einer Wohnung/WG einer Jugendhilfeeinrichtung. Drei Prozent lebten dagegen in einer Obdachlosenunterkunft beziehungsweise hatten keinen Wohnsitz. Zählt man hierzu noch die Personen, die dauerhaft bei Freunden oder Bekannten untergekommen sind, liegt der Anteil an Care Leavern ohne festen eigenen Wohnsitz bei sechs Prozent.
Die aktuelle berufliche Situation zeigt ein vergleichsweise positives Bild: Fasst man die Bereiche Festanstellung (Vollzeit oder Teilzeit), Selbstständigkeit sowie Schul-/Berufsausbildung zusammen, dann befanden sich rund 70 Prozent der Care Leaver in einem regulären Ausbildungs- oder Arbeitsverhältnis. Lediglich zehn Prozent der jungen Menschen waren arbeitslos beziehungsweise arbeitssuchend. In allen untersuchten Teilaspekten der gesellschaftlichen Verwirklichungs- beziehungsweise Teilhabemöglichkeiten ("Capabilities") haben sich die Care Leaver zum Zeitpunkt der Befragung im Schnitt höher eingeschätzt als bei Beendigung ihrer stationären Hilfe (siehe Abb. 1, S. 13). Für die befragten jungen Menschen ist demzufolge für die Zeit nach dem stationären Hilfeende im Schnitt eine weitere positive Entwicklung der persönlichen und gesellschaftlichen Verwirklichungs- beziehungsweise Teilhabemöglichkeiten erkennbar. Fast zwei Drittel der befragten Care Leaver (64 Prozent) geben dementsprechend an, dass ihnen ihre letzte stationäre Hilfe aus aktueller Sicht geholfen hat, und sie beurteilen die langfristige beziehungsweise nachhaltige Wirksamkeit ihrer letzten stationären Hilfe insgesamt sehr positiv (sehr gut: 47 Prozent, weitgehend gut: 30 Prozent).
Wichtige Wirkfaktoren
- Im Rahmen der Studie wurde auch überprüft, welche Faktoren für eine gelingende Nachhaltigkeit stationärer Erziehungshilfen verantwortlich sind. Dabei ist deutlich erkennbar, dass vor allem die Qualität der Beziehungen zwischen den jungen Menschen und ihren Betreuungspersonen sowohl im Rahmen der stationären Hilfe als auch innerhalb der ambulanten Nachbetreuung von zentraler Bedeutung ist. Auch eine qualifizierte Nachbetreuung wirkt sich nachweisbar positiv auf die Nachhaltigkeit stationärer Hilfen aus (siehe Abb. 2, oben). Neben diesen beiden zentralen Wirkfaktoren kommt vor allem den folgenden Aspekten eine besonders positive Bedeutung zu:
- Qualität vorbereitender Maßnahmen im Rahmen der stationären Erziehungshilfe (zum Beispiel themenspezifische Informationsveranstaltungen unter Hinzuziehung von Expert(inn)en, wie Wohnungssuche Workshops mit Wohnungsmaklern oder Rechtsberatungsabende mit Juristen/ Rechtsanwälten);
- Art der Beendigung der stationären Hilfe und Abschiedsgestaltung;
- Partizipation an der Hilfeplangestaltung für die Zeit nach der stationären Hilfe. Fazit: Weitere Unterstützung wirkt positiv Die in der Jugendhilfe oftmals gängige Praxis der Beendigung stationärer Erziehungshilfen zum 18. Geburtstag entspricht nicht den tatsächlichen Bedarfen der betroffenen jungen Menschen. Die Ergebnisse des Projekts "Care Leaver - stationäre Jugendhilfe und ihre Nachhaltigkeit" zeigen, dass die Entwicklung von Care Leavern in der Zeit nach der stationären Hilfe mit einer fachlich qualifizierten und bedarfsgerechten Unterstützung nachhaltig positiv beeinflusst werden kann. Aus den vorliegenden Studienergebnissen lassen sich darüber hinaus die folgenden Empfehlungen ableiten:
- Es sollten Rahmenbedingungen geschaffen werden, die es Care Leavern ermöglichen, persönliche Beziehungen und Kontakte über das Ende der stationären Hilfe hinaus aufrechtzuerhalten. Dazu ist es unter anderem sinnvoll, offene Anlaufstellen für Care Leaver (Treffs, Cafés oder Ähnliches) einzurichten, mit räumlicher und personeller Anbindung an stationäre Bereiche von Jugendhilfeeinrichtungen.
- Die Organisation einer flexiblen, am individuellen Bedarf der Care Leaver orientierten fachlichen Nachsorge nach stationärem Hilfeende sollte eine verpflichtende Aufgabe öffentlicher Jugendhilfeträger sein. Regelmäßige Kontakte zur Prüfung des Hilfebedarfs sowie eine kontinuierliche Dokumentation der Entwicklung von Care Leavern ("Monitoring") sollten dabei das obligatorische Mindestmaß zur Umsetzung dieser Aufgabe darstellen.
Anmerkungen
1. Siehe dazu Sievers, B.; Thomas, S.; Zeller, M.: Jugendhilfe - und dann? Zur Gestaltung der Übergänge junger Erwachsener aus stationären Erziehungshilfen. Frankfurt a.M., 2018. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ): 15. Kinder- und Jugendbericht. Berlin, 2017. Schröer, W.: Wie viel Jugend lässt die Jugendhilfe zu?
In: Jugendhilfe aktuell Heft 2/2015, S. 12-15. Und auch Sievers, B.; Thomas, S.; Zeller, M.: Nach der stationären Erziehungshilfe - Care Leaver in Deutschland. Internationales Monitoring und Entwicklung von Modellen guter Praxis zur sozialen Unterstützung für Care Leaver beim Übergang ins Erwachsenenalter. Hildesheim/Frankfurt a.M.: Universität Hildesheim/IGfH, 2014.
2. Karl, U.; Göbel, S.; Herdtle, A.; M., Lunz, M.; Peters, U.: "Leaving Care" als institutionalisierte Statuspassage und Übergangskonstellation. In: Sozialmagazin (43) Heft 7-8/2018, S. 8.
3. Nüsken, D.: Erwachsen werden ohne öffentliche Verantwortung? Hilfen für junge Volljährige und Care Leaver im Blick. In: Jugendhilfe aktuell, Heft 2/2015, S. 9.
4. Macsenaere, M.; Klein, J.: Gelingende Verselbstständigung und effektive Übergangsgestaltung im Rahmen von Heimerziehung und individualpädagogischen Hilfen. In: Jugendhilfe (57) Heft 4/2019, S. 430. Vgl. auch Macsenaere, M.; Esser, K.: Was wirkt in der Erziehungshilfe? Wirkfaktoren in Heimerziehung und anderen Hilfearten. Freiburg: Lambertus, 2015.
5. Das Projekt wurde aus Mitteln der Stiftung Glücksspirale finanziell gefördert.
6. Klein, J.; Macsenaere, M.; Hiller, S. (Hg.): Care Leaver - stationäre Jugendhilfe und ihre Nachhaltigkeit. Freiburg: Lambertus, in Vorbereitung.
7. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ): Abschlussbericht Mitreden - Mitgestalten. Die Zukunft der Kinder- und Jugendhilfe. BMFSFJ: Berlin, 2019
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