Katastrophenprävention braucht Weitblick
Die Corona-Pandemie macht es auf erschreckende Weise deutlich: Von Krisen und Katastrophen sind jene Menschen besonders betroffen, die bereits vor deren Auftreten zu den Ärmsten gehörten. In Brasilien, Indien oder Südafrika fehlt es insbesondere in den ohnehin schon benachteiligten Stadt- und Landesteilen an medizinischer und sozialer Infrastruktur. Überall auf der Welt wird das soziale Gefälle offensichtlich, wenn sich Familien ohne Krankenversicherung keinen Klinikaufenthalt leisten können oder wenn sie - um ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können - weiter zur Arbeit gehen, während die privilegierten Bürger(innen) im Homeoffice bleiben.
Die Vulnerabilität, die Verletzbarkeit durch Krisen und Katastrophen ist eng mit dem sozialen Status der Menschen verknüpft. Was während der Corona-Pandemie besonders deutlich wird, erfahren die Mitarbeitenden und Partner von Caritas international bei fast jedem Einsatz im Rahmen der humanitären Hilfe. Als etwa im August 2017 in Freetown, der Hauptstadt von Sierra Leone, nach heftigen Unwettern Hangrutsche ganze Stadtteile überfluteten, kamen mehr als 1100 Menschen zu Tode. Es war eine absehbare Katastrophe, denn durch die rasante Urbanisierung liegen viele Wohnungen in Gebieten ohne Abwasserkanäle oder an Berghängen, die kaum gesichert sind. Hier leben nur Menschen, die sich keinen sichereren Wohnraum leisten können.
In Haiti verloren mehr als tausend Menschen ihr Leben, als der Hurrikan Matthew im Oktober 2016 mit Geschwindigkeiten von bis zu 230 Stundenkilometern durch die Karibik fegte. Haiti war nicht zuletzt deshalb besonders betroffen, weil die Infrastruktur schlecht und die Katastrophenvorsorge nicht ausreichend waren. 1,4 Millionen Menschen benötigten humanitäre Hilfe. "Die Möglichkeit, sich individuell wirksam zu schützen, ist in Haiti gering", sagt Fidèle Nicolas, lokaler Koordinator für den staatlichen Katastrophenschutz. "Je schlechter die Infrastruktur, desto eher wird sie beschädigt, und je geringer der Lebensstandard, umso weniger sind die Menschen vorbereitet - und damit steigt das Risiko hoher Verluste."
Klimawandel verstärkt soziale Ungleichheit
Die Aufzählung ließe sich fortsetzen. Denn die Anzahl der Naturkatastrophen hat sich in den vergangenen 20 Jahren weltweit von etwa 200 auf heute mehr als 400 verdoppelt, bedingt insbesondere durch die Zunahme klimatisch verursachter Krisen. Mit dem weiteren Anstieg der globalen Temperaturen aufgrund der wachsenden Emissionen von Kohlendioxid und anderer Treibhausgase wird sich dieser Trend weiter fortsetzen. Es ist mit einer Zunahme extremer Hitzewellen, langanhaltender Dürren, schwerer Überschwemmungen und küstennaher Katastrophen zu rechnen. Neben häufigeren Extremwettern führt der Klimawandel auch zu schleichenden Veränderungen: Böden versalzen und Meere versauern. Ganze Küstenregionen gehen verloren, und schützende Korallenriffe sterben großflächig ab. Die Fischerei erleidet starke Einbußen. Dürren und Ressourcenverknappung führen zum Verlust von ehemals sicheren Trinkwasserquellen und von Weideflächen.
Dies alles spüren in erster Linie die Menschen in den Regionen der Welt, die ohnehin zu den ärmsten gehören. Zwar ist der Klimawandel auch in den Industrieländern Nordamerikas und Europas zunehmend wahrnehmbar, wenn beispielsweise Hitzerekorde und Dürren selbst in Alaska, Skandinavien und Sibirien zu Waldbränden führen. Doch vor allem sind es die Bewohner(innen) der tropischen und subtropischen Gebiete Afrikas, Asiens und Lateinamerikas, die mit den Folgen des Klimawandels konfrontiert sind.
Zynisch mutet dabei an, dass die Menschen, die unter den konkreten Folgen am meisten leiden, im weltweiten Vergleich am wenigsten zur Erderwärmung beitragen. Ursachen und Folgen, Verursachende und Leidtragende liegen geografisch wie sozial oftmals weit auseinander. Caritas international setzt daher einen Fokus auf die gleichzeitige Betrachtung ökologischer und sozialer Herausforderungen, um gegenseitige Wechselwirkungen erkennen und diesen in zusammenhängender Weise begegnen zu können.
Extreme Wetterereignisse werden erst deshalb zu Katastrophen, weil es Menschen gibt, die ihnen schutzlos ausgeliefert sind. In den betroffenen Ländern sind das insbesondere Gruppen wie Kinder, Schwangere, alte Menschen und Menschen mit Behinderung. Und: Frauen sind deutlich häufiger betroffen als Männer, beim Tsunami 2004 etwa waren 70 Prozent der Todesopfer weiblich. Die Gründe dafür sind vielfältig. Mädchen lernen anders als viele Jungen nicht schwimmen; Frauen sind meist weniger mobil als Männer, und sie sind für Haus und Kinder verantwortlich - auch wenn Stürme, Fluten oder Erdbeben das Zuhause zerstören.
Professionelle Sozialarbeit und Bildung sorgen langfristig vor
Ob und wie erfolgreich Katastrophenvorsorge ist, hängt daher nicht zuletzt von der sozialen Einbettung der Hilfe ab. Sie muss bei den Betroffenen vor Ort ansetzen und ihre Schutzmechanismen stärken. Durch vernetzte Katastrophenvorsorge und kluge Anpassung an klimatische Veränderungen, das zeigen die Erfahrungen von Caritas international, können Verluste und Schäden abgemildert und vor allem Leben gerettet werden. Die soziale Komponente in der Katastrophenvorsorge wird bisweilen erst auf den zweiten Blick deutlich, wenn beispielsweise Ingenieure einen Schutzdamm gebaut haben, aber nicht klar ist, wer diesen instand hält. Oder wenn der Staat eine Informationsveranstaltung zum Katastrophenschutz organisiert, aber ungeklärt bleibt, wie das dabei gewonnene Wissen weitergetragen und konserviert wird. Es braucht professionelle Sozialarbeit und Bildung auf sozialräumlicher und gemeindebasierter Ebene, um Katastrophenvorsorge in den Gemeinden, Schulen, Arbeitsstellen oder Nachbarschaften dauerhaft zu implementieren. Aufgrund des weltweiten Netzwerks von Caritasverbänden - oft als die größte Nichtregierungsorganisation der Welt beschrieben - hat Caritas gute Voraussetzungen und die Verantwortung, über die Katastrophenhilfe hinaus solche sozialen Dienste anzubieten.
Aktionstage zur Überschwemmungsprävention
Solche Ansätze verfolgt Caritas international beispielsweise in Indien. In Assam und Odisha lernen Dorfgemeinden, mit den immer häufiger auftretenden Überschwemmungen und Zyklonen umzugehen und die Schäden zu minimieren. Im Vorfeld des dortigen Projekts haben Caritas-Mitarbeitende mit einem Komitee frühere schwere Überschwemmungen reflektiert und daraus gemeinsam Notfallpläne für die Zukunft entwickelt. Bei Aktionstagen zu "Überschwemmungsprävention" lernen die Teilnehmenden, wie etwa Dokumente wasserdicht verpackt werden oder wie Saatgut auf Hochständen gelagert und Vieh auf höhere Lagen getrieben wird. Beim Notfalltraining lernen die Beteiligten, Trinkwasser zu reinigen oder Personen auf dem Wasser zu transportieren. In Komitees erarbeiten die Dorfgemeinschaften Notfallpläne für eine schnelle Evakuierung aus bedrohten Gebieten.
Auch Kinder spielen eine wichtige Rolle: Sie nehmen in den Schulen das Thema Prävention und korrektes Verhalten in Katastrophensituationen regelmäßig durch. In Zusammenarbeit von Gemeinden, Kommunalverwaltung und dem indischen Staat wurden außerdem wichtige Bauvorhaben zum Schutz umgesetzt: Die Dorfbewohner(innen) pflanzten Sträucher, die den Boden festigen, die Bundesbehörden ließen künstliche Stromschnellen bauen, um die Strömung an besonders gefährdeten Steilufern umzuleiten.
Auch in weiten Teilen Mittelamerikas leiden viele Menschen unter der extrem ungleichen Verteilung des vorhandenen Reichtums. Konzepte der Katastrophenhilfe und -vorsorge müssen hier also in besonderem Maße die Sozialstruktur berücksichtigen. Im Rahmen eines Programms der Vereinten Nationen (UN) in Guatemala geht es darum, Katastrophenvorsorge, -schutz und die dazu nötigen Strukturen auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene umzusetzen. In dem Projekt werden auf Gemeindeebene zunächst Basisinformationen vermittelt und mit den einbezogenen Menschen erarbeitet: Wo liegen die größten Risiken? Welche Maßnahmen sind bereits installiert? Wo gibt es Verbesserungspotenzial?
In Indien lernen Dorfgemeinden, die Schäden zu minimieren
In einem Land, das zunehmend unter Dürren leidet, gleichermaßen jedoch auch durch tropische Stürme und Starkregen bedroht ist, bedarf es einer lokal differenzierten Herangehensweise. Die enge Einbeziehung von betroffenen Maya-Gemeinden ermöglichte dabei den Aufbau von Konzepten zur Katastrophenprävention und der Anpassung an den Klimawandel. Beispielsweise errichten Kleinbauern-Familien in einem Caritas-Projekt Bewässerungssysteme, bei denen Wasser durch Tunnel zu den Feldern geleitet wird, um auch in Dürrephasen die Ernten zu sichern. Der Aufbau der Komitees, die Vernetzung der verschiedenen Ebenen und die langfristige Implementierung erfordern dabei ein hohes Maß an sozialer Arbeit, fachlicher Kompetenz und - nicht zuletzt - an Zeit.
Zeit und Aufwand, das zeigen die Beispiele, sind gut investiert. Denn durch einen kohärenten Ansatz, in dem sich die caritasspezifische soziale Facharbeit sowie die Katastrophenhilfe und -vorsorge verbinden, lassen sich die negativen Folgen des Klimawandels zumindest abfedern. Die Eigenverantwortung und Selbstständigkeit der Menschen zu stärken, Benachteiligungen abzubauen und die Teilhabe am gesellschaftlichen und öffentlichen Leben zu ermöglichen werden so zu Mitteln der Katastrophenvorsorge - die Leben retten können.
Anmerkung
Der Beitrag fasst mehrere Artikel aus der Broschüre "Im Fokus: Klimawandel und Humanitäre Hilfe" zusammen, die jüngst von Caritas international herausgegeben wurde. Die Broschüre kann kostenlos bestellt werden unter E-Mail: spenderbetreuung@caritas.de
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