Stigma tradiert Armut
Es gibt ein weit verbreitetes Vorurteil gegenüber dem Vorurteil. Landläufig verwechselt man das Vorurteil mit dem Irrtum. Doch während Irrtümer durch ein überzeugendes Argument aus der Welt geschafft werden können, sitzt das Vorurteil tiefer, ist hartnäckiger und recht resistent gegenüber Fakten, wie das Phänomen der Fake News zeigt. Der folgende Artikel geht davon aus, dass mit dem Vorurteil stets Fragen der Moral verhandelt werden. Es nutzt ein Klischee, stellt aber keinen Selbstzweck dar, sondern wird weltanschaulich unterfüttert und eingeordnet. Dabei spielt die Zuschreibung von Verantwortung und Schuld eine zentrale Rolle.
Traditionell trifft das Vorurteil Personengruppen, die besonders benachteiligt sind (zum Beispiel Arme, Bettler) oder aber Gruppen, die für besonders privilegiert gehalten wurden oder werden (zum Beispiel "die Juden"). In beiden Fällen wird einer Gruppe eine Verantwortung - damit einhergehend Schuld - zugeschrieben: den Starken für gesellschaftliche Missstände (mittels Verschwörungstheorien), den Ausgegrenzten für ihre eigene Lage.
Anhand von Vorurteilen gegenüber Familien mit Kindern lässt sich etwas über die moralische Verfasstheit einer Gesellschaft lernen. Das Besondere an Kindern ist, dass die Kategorien Verantwortung und Schuld in Bezug auf Kinder nicht zur Verfügung stehen. Sie gelten als nicht schuldfähig.
Somit schließt sich die Frage an, ob genügend unternommen wird, allen Kindern ein gelingendes Aufwachsen und damit gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen. Denn das Thema Kinderarmut wirft in besonderer Weise die Frage auf, ob Institutionen wie Staat, Schule, Kommunen, aber auch Kirche ihrem gesellschaftlichen Auftrag gerecht werden, allen Mitgliedern der Gesellschaft ein menschenwürdiges Leben und hinreichende gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen.
Forschung zum Aufwachsen unter knappen Bedingungen
In der Wissenschaft ist längst ausgemacht, dass Armut sozial vererbt wird: Kinder armer Familien neigen dazu, diejenigen Verhältnisse zu reproduzieren, unter denen sie selbst aufgewachsen sind.1 Oft ist auch von der Armutsspirale die Rede, die beschreibt, wie sich ungleiche Startbedingungen von Kindern über Generationen hinweg fortschreiben. Das Dramatische dabei ist: Armut ist in den betroffenen Familien keine vorübergehende Erscheinung, sondern ein Dauerzustand, der sich negativ auf die Lebenschancen der Kinder auswirkt. Kindern armer Familien bleibt der Zugang zu gesellschaftlicher Teilhabe oftmals versperrt. Das beginnt bereits in den Bildungseinrichtungen: Deutlich seltener erreichen sie das Abitur als Kinder aus nicht armen Familien.
Alles in allem scheint die Sache recht klar zu sein: Wenn man Gesellschaft mit einem Spiel vergleicht, gewinnen diejenigen, die die meisten Ressourcen von Haus aus zur Verfügung haben. Denn mit allen Trümpfen auf der Hand lässt es sich leichter gewinnen, auch wenn mal eine strategisch ungünstige Entscheidung im Spielverlauf des Lebens getroffen wird.
In wissenschaftlicher Perspektive richtet sich der Blick auf die knappen Bedingungen, unter denen Kindern armer Familien aufwachsen. Dieser Blick lässt nur einen Schluss zu: Die ungleichen Voraussetzungen befördern ungleiche Teilhabechancen und führen in manchen Armutsquartieren zu einer so geringen sozialen Durchlässigkeit nach oben, dass es an feudalistische Verhältnisse erinnert - einer demokratischen Gesellschaft kaum angemessen.
Und was meint das Vorurteil?
In der Perspektive des Vorurteils sind die Ausgeschlossenen Subjekt ihres eigenen Ausschlusses: Ihnen werden Verantwortung und Schuld für ihre soziale Lage zugeschrieben. Wie Studien zeigen, handelt es sich hierbei nicht nur um eine Außenperspektive, sondern auch die Ausgeschlossenen selbst interpretieren ihre Lage als Folge von Faulenzerei, mangelnder Durchsetzungsfähigkeit, Willensschwäche usw.2
Forschungsberichte, die in ihrer Analyse eher die Bedingungen der Reproduktion von Armut in den Blick nehmen, erfahren eine seltsame Wandlung, wenn es um die Frage nach Gegenstrategien geht. Was dort vorgeschlagen wird, lässt sich zumeist unter den Überschriften "Investition in Infrastruktur" oder "Stärkung subjektbezogener Kompetenzen" zusammenfassen. Da auch Infrastruktur aktiv genutzt werden muss, setzen derartige Strategien jedoch einen gewissen Gestaltungsoptimismus voraus, den Menschen, die dauerhaft in Armut leben, oftmals verloren haben. Der Bochumer Soziologe Klaus Peter Strohmeier hält unter knappen Bedingungen der Ausgrenzung sogar Gestaltungspessimismus für die rationalere Strategie.3 Es sind also kaum Veränderungen zu erwarten, wenn sich nicht die materielle Lage der Familien ändert.
Teilhabegeld für alle Kinder?
Die Bertelsmann-Stiftung lud im Sommer 2018 zu einem Kongress in Berlin ein, um das Konzept eines Teilhabegelds für Kinder vorzustellen und zu diskutieren. An der Schlussdiskussion nahm unter anderem Bundesfamilienministerin Franziska Giffey teil. Die Vorteile der Forderung wurden aus verschiedensten Blickwinkeln beleuchtet. Zunächst verspricht das vorgeschlagene Teilhabegeld für Kinder - neben einer Vereinfachung für die Familien - einen Rationalisierungsschub der Verwaltungsaufgaben. Das Teilhabegeld solle Leistungen der verschiedenen Sozialgesetzbücher (etwa Wohngeld, Arbeitslosengeld II, Kindergeld) zusammenfassen und damit ersetzen, so der Vorschlag. Durch den Wegfall von Kontrollaufgaben könnten Mittel gespart werden. So geht man beispielsweise davon aus, dass knapp 30 Prozent der Mittel des Bildungs- und Teilhabepakets (BuT) für Kontroll- und Verwaltungsaufgaben verbraucht werden und somit nicht bei den Kindern ankommen. Letztlich soll das Teilhabegeld progressiv aufgebaut sein und die materielle Lage von armen Familien mit Kindern spürbar verbessern.
Was spricht also dagegen, die materielle Situation von Kindern direkt über Geldleistungen zu verbessern? Die Antwort lautet schlicht: das Vorurteil. Es spukt in der Gesellschaft und auch in der Politik und den Ministerien ein Bild herum, nach dem arme Familien, statt in ihre Kinder zu investieren, das knappe Geld eher für Genussmittel und Unterhaltungselektronik verwenden. Diesem speziellen Vorurteil widmete die Bertelsmann-Stiftung eine eigene Studie, mit der sie das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) Mannheim beauftragte.4 Das ZEW untersuchte das Konsumverhalten von Familien mit und ohne Landeserziehungsgeld, das in einzelnen Bundesländern gezahlt wird. So ließen sich verschiedene Einkommenslagen miteinander vergleichen. Der Vergleich zeigte: Das Vorurteil lässt sich nicht bestätigen. Ein höheres Haushaltseinkommen führt bei armen Familien nicht zu mehr Konsum moralisch verwerflicher Güter wie zum Beispiel Alkohol, sondern es kommt tatsächlich bei den Kindern an.5 Dazu passt auch, dass Eltern in Befragungen angeben, bei den Kindern zuletzt zu sparen.
Dem Vorurteil begegnen
Kinderarmut zu bekämpfen ist eine wichtige gesellschaftliche Herausforderung. Eine Hürde hierbei stellt das Vorurteil dar. Es verhindert etwa, dass Entscheider(innen) in der Politik das Thema Kinderarmut direkt lösen, sondern stattdessen Umwege vorziehen. Dabei geht es nur oberflächlich um (vermeintliche) Fakten. Verhandelt werden hinter den Kulissen immer auch moralische Werte. Und genau an dieser Stelle braucht es Debatten und gilt es anzusetzen, wenn man nicht bloß in Erbsenzählerei feststecken möchte.
Anmerkungen
1. So zum Beispiel: Holz, G.; Laubstein, C.; Sthamer, E.: Lebenslagen und Zukunftschancen von (armen) Kindern und Jugendlichen in Deutschland. ISS-Aktuell 23/2012 (www.iss-ffm.de/m_106).
2. Vgl. zum Beispiel: Barlösius, E.: Dicksein. Wenn der Körper das Verhältnis zur Gesellschaft bestimmt. Campus, 2014.
3. Bogumil, J.; Heinze, R. G.; Lehner, F.; Strohmeier, K. P.: Viel erreicht - wenig gewonnen. Ein realistischer Blick auf das Ruhrgebiet. Klartext Verlag, 2012, S. 78.
4. Vgl. https://bit.ly/2A7CFEP
5. Stichnoth, H.: Kommt das Geld bei den Kindern an? Bertelsmann Stiftung, 2018, S. 43.
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