Menschenwürde ist nicht zu relativieren
Dürfen Hartz-IV-Bezieher(inne)n als Sanktion die Leistungen gekürzt werden? Oder verletzt eine derartige Unterschreitung des Existenzminimums die verfassungsrechtlich geschützte Menschenwürde? Diese für das SGB II (Grundsicherung für Arbeitsuchende) grundlegenden Fragen liegen gegenwärtig dem Bundesverfassungsgericht zur Klärung vor. Mitte Januar hat dazu eine mündliche Anhörung stattgefunden, bei der sich die Sanktionsbefürworter(innen) sehr kritischen Fragen der Richter(innen) stellen mussten. Ein Urteil wird erst in einigen Wochen ergehen; es ist zu erwarten, dass die Sanktions-Regelungen jedenfalls in der jetzigen Form keinen Bestand haben werden (siehe neue caritas Heft 4/2019, S. 34).
Bei der überfälligen Debatte über die verfassungs-rechtliche Dimension von Leistungskürzungen geht eines unter: Bestimmte Gruppen ausländischer Staatsangehöriger unterliegen einem radikal verschärften Sanktionsregime. So sind beispielsweise EU-Bürger(innen) in bestimmten Fällen vollständig von existenzsichernden Leistungen ausgeschlossen. Die Folgen sind Verelendung, Schutzlosigkeit, Ausbeutbarkeit und fehlende Teilhabe-Per­spektiven. Für asylsuchende oder geduldete Flüchtlinge sieht das Sondersystem des Asylbewerber-Leistungsgesetzes (AsylBLG) in einer Vielzahl von Fällen drastische Leistungskürzungen vor, die sogar das rein physische Existenzminimum unterschreiten und nur noch etwa der Hälfte eines üblichen Regelsatzes entsprechen.
Die Wohlfahrtsverbände halten diese Leistungskürzungen für verfassungswidrig, weil das menschenwürdige Existenzminimum damit nicht gesichert ist. Haupt- und ehrenamtliche Unterstützer(innen) sollten gemeinsam mit den Betroffenen gegen jede Form der Leistungskürzung Rechtsmittel einlegen, da viele ­Sozialgerichte die Kürzungen für unzulässig erklären.
Asylbewerber-Leistungen liegen unter den SGB-II-Sätzen
Das Asylbewerber-Leistungsgesetz ist ein Sondersystem der Sozialhilfe für bestimmte ausländische Staatsangehörige, insbesondere für Menschen im Asylverfahren (mit Aufenthalts-Gestattung) und für ausreisepflichtige Personen (mit einer Duldung). Schon die regulären Grundleistungen, die in den ersten 15 Monaten des Aufenthalts – und manchmal auch länger – erbracht werden, liegen ohne eine Leistungskürzung deutlich unter den Regelsätzen des SGB II oder XII (Sozialhilfe).
Eine alleinstehende Person erhält 354 Euro statt 424 Euro wie im SGB II. Hinzu kommen die Kosten der Unterkunft, das Bildungs- und Teilhabepaket und der benötigte Hausrat. Die Leistungen können teilweise oder sogar vollständig als Sachleistungen erbracht werden.
Die Gesundheitsversorgung ist stark limitiert: Sie beschränkt sich nach dem Gesetzes-Wortlaut auf die Behandlung akuter oder schmerzhafter Erkrankungen; die Kostenübernahme für die Therapie chronischer Erkrankungen ohne Schmerzzustände ist nur als Ermessensleistung ausgestaltet. Diese gesetzlich vorgesehene Notfallmedizin ist nach Überzeugung vieler Expert(inn)en weder mit international geltenden ­Menschenrechts-Abkommen noch mit dem Grundgesetz oder EU-Recht vereinbar.
Erst nach einem Aufenthalt von mehr als 15 Monaten werden die Regelungen des SGB XII angewandt, das heißt, die Betroffenen erhalten dann normalerweise höhere Regelsätze und alle anderen Leistungen, die die reguläre Sozialhilfe vorsieht (die sogenannten Analogleistungen).
Leistungs­kürzungen bei 16 „Verstößen“
Viele Geflüchtete bekommen aus unterschiedlichen Gründen noch weiter eingeschränkte Leistungen. Seit Oktober 2015 hat das Asylbewerber-Leistungsgesetz in einer Kaskade von Gesetzesverschärfungen eine regelrechte Inflation von Kürzungs-Tatbeständen erlebt. Von früher vier Sanktionen ist der Katalog sukzessive auf nunmehr 16 Leistungseinschränkungen erweitert worden.
Die gesetzlich vorgesehenen Gründe für eine Kürzung sind vielfältig und hängen vom individuellen Aufenthaltsstatus und der sonstigen rechtlichen und tatsächlichen Situation ab. Bei einem großen Teil der Kürzungen wird die bloße Anwesenheit im Bundesgebiet sanktioniert, weil Geflüchtete bereits in einem anderen EU-Staat als Flüchtlinge anerkannt worden sind oder sie aus Sicht des Sozialamts eingereist sind, um Sozialhilfe zu beziehen. In diesen Fällen kann eine Leistungskürzung nicht durch eine Verhaltens­änderung abgewendet werden. Es handelt sich hierbei um eine sozialrechtliche Erzwingung der Ausreise – es lässt sich auch als „Aushungern“ bezeichnen. Viele Sozialgerichte haben dies als rechtlich problematisch beurteilt.
Daneben greifen Leistungskürzungen für Geflüchtete, die nicht an ihrer eigenen Abschiebung mitwirken, indem sie sich aus Sicht des Sozialamtes nicht ausreichend an der Passbeschaffung beteiligen oder den bestimmten Mitwirkungs-Pflichten im Asylverfahren nicht nachkommen. Schließlich wird sank­tioniert, wer eine Verpflichtung zu gemeinnütziger Arbeit oder zu einem Integrationskurs nicht erfüllt oder sich am falschen Ort im Bundesgebiet aufhält.
In fast allen Kürzungsfällen dürfen vom ­So­zialamt nur noch die Bedarfe für Ernährung, Körper- und Gesundheitspflege sowie Unterkunft und Notfallmedizin geleistet werden. Kleidung und Hausrat gibt es nur nach Ermessen. Kategorisch ausgeschlossen sind das gesamte soziokulturelle Existenzminimum (zum Beispiel Fahrtkosten, Telekommunikation), das Bildungs- und Teilhabe­paket, die Behandlung chronischer Erkrankungen und alle anderen Zusatzleistungen. Dies entspricht unterm Strich einem Betrag von rund 180 Euro und ist damit rund 50 Prozent weniger als die Grundleistungen des AsylBLG und sogar fast 60 Prozent weniger als der SGB-II-Regelsatz. Oft werden die Leistungen als Sachleistungen gewährt, so dass den Betroffenen keinerlei Bargeld zur Verfügung steht.
Was sagen die Bundesgerichte?
Bereits am 18. August 2012 hat das Bundesverfassungsgericht ein weitreichendes Grundsatzurteil zur damaligen Höhe der Grundleistungen im AsylBLG gesprochen. Es erklärte diese für verfassungswidrig, da sie „evident unzureichend“ sei und somit das Menschenrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums verletze. Der Kernsatz des Urteils: „Die (…) Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu ­relativieren.“ Die Verfassungsrichter(innen) ­verstehen das menschenwürdige Existenzminimum „als einheitliches, das physische und soziokulturelle Minimum umfassendes Grundrecht“, das „in jedem Fall und zu jeder Zeit sichergestellt sein muss“.
Allerdings haben Deutschlands höchste Richter(innen) damals keine ausdrückliche Entscheidung zu den Leistungskürzungen getroffen. Dennoch liegt auf der Hand, dass eine Unterschreitung des Existenzminimums um rund 50 Prozent den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts nicht gerecht werden kann.
Das Bundessozialgericht, das am 12. Mai 2017 ein Urteil zu einem Fall getroffen hat, in dem ein Mann aus Kamerun bereits seit ­vielen Jahren von einer Leistungskürzung betroffen war, sieht das zwar anders. Deutschlands höchste Sozialrichter(innen) erklärten, sie hätten keine „durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken“ gegen eine Kürzung. Das Argument: Der Betroffene habe es ja jederzeit in der Hand, durch eine Verhaltensänderung wieder in den vollen Leistungsbezug zu gelangen. Und die Kürzungen seien nicht statisch vorgeschrieben, sondern das Sozialamt müsse in jedem Fall prüfen, ob auch zusätzliche Leistungen erbracht werden müssten. Beide Argumente des BSG sind nach einer mittlerweile geänderten Rechtslage jedoch nicht mehr einschlägig.1 Es ist daher höchst zweifelhaft, ob das Bundesverfassungsgericht diese migrationspolitische Relativierung der Menschenwürde ebenso durchwinken würde. Der Fall ist in Karlsruhe anhängig.
Inakzeptabel: Sanktionen bei besonders Schutzbedürftigen
Die Leistungskürzungen sind zumindest für Asylsuchende mit besonderen Bedürfnissen – das sind zum Beispiel Minderjährige, Alleinerziehende, Schwangere, Menschen mit Behinderung, Menschen mit schweren körperlichen oder psychischen Erkrankungen – nicht mit den Vorgaben der EU-Aufnahmerichtlinie zu vereinbaren.
Auch mit der UN-Kinderrechts-Konven­tion (zum Beispiel Art. 3; Vorrang des Kindeswohls), dem UN-Sozialpakt (Art. 12: Recht auf „Höchstmaß“ an Gesundheit; Art. 15: Menschenrecht auf Teilhabe am kulturellen Leben) und der UN-Behindertenrechts-Konvention sind die Leistungskürzungen in vielen Fällen unvereinbar. Das Bundessozialgericht hat zudem festgestellt, dass eine Leistungskürzung für Kinder per se unzulässig ist, da sie für ein vermeintliches Fehlverhalten der Eltern nicht in Sippenhaftung genommen werden dürfen.
Kürzungen nicht hinnehmen
An den Kürzungen im AsylBLG kristallisieren sich mehrere grundlegende Fragen: Ist die Gewährleistung sozialer Menschenrechte von einem individuellen „Wohlverhalten“ abhängig? Darf die Sicherstellung eines menschenwürdigen Existenzminimums staatlicherseits davon abhängig gemacht werden, dass die jeweiligen Grundrechtsträger(innen) sich so verhalten, wie dies der Staat will (etwa durch eine Ausreise)? Dürfen Ausländer(innen) durch die Verweigerung des Existenzminimums gleichsam durch „Aushungern“ zur Ausreise bewegt werden? Ist die Menschenwürde doch migrationspolitisch zu relativieren?
Hier geht es ans Eingemachte. Diese Fragen werden gegenwärtig nicht nur im Dunstkreis des Asylbewerber-Leistungsgesetzes diskutiert, sondern auch in anderen Bereichen der Existenzsicherung.
Für Flüchtlingsberater(innen), Rechts­anwält(inn)e(n) und andere Akteur(inn)e(n) der sozialen Arbeit heißt das: Es ist einiges in Bewegung. Daher sollten Leistungskürzungen nie akzeptiert, sondern durch Widerspruch, Klage und Eilantrag vor die Sozial­gerichte getragen und vor allem politisch angegangen werden. Denn es geht dabei nicht nur um die Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums für die betroffenen Menschen. Es geht um nicht weniger als um das Selbstverständnis Deutschlands als sozialer Rechtsstaat.
Anmerkung
1. Der Gesetzgeber hat Ende 2015 in § 1a AsylBLG gleichsam ein Verbot der Erbringung zusätzlicher Leistungen beschlossen. Zudem sind in mehreren Schritten zahlreiche Gruppen in die Leistungskürzung einbezogen worden, deren bloße Anwesenheit im Bundesgebiet einer Sanktion unterliegt, die auch durch eine „Verhaltensänderung“ nicht beeinflusst werden kann.
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