Den sozialen Wandel wagen und gestalten
Es ist unendlich viel zu machen und zu helfen, wenn nur jemand da ist, der es tut." Agnes Neuhaus1, von der dieser Satz stammt, war eine Frau, die nicht zögerte zu helfen und zu handeln. Sie sah Veränderungsbedarf, suchte sich Verbündete und wurde so zur Gestalterin sozialer Innovationen in der Wohlfahrtspflege.
Beim Stichwort Innovation denken viele zuerst und vor allem an neue technische Produkte. Soziale Innovationen sind dagegen in der öffentlichen Wahrnehmung weniger präsent. Dabei können sie erheblich dazu beitragen, eine Gesellschaft weiterzuentwickeln und sozialen Wandel zu gestalten. Entscheidend sind mutige Menschen, die Notwendigkeiten und Chancen für Veränderung erkennen, Widerstände überwinden und gemeinsam mit anderen Ideen für Innovationen haben. Auch in der Wohlfahrtspflege ist der Erfolg sozialer Innovationen der Tatkraft starker Akteure und Akteurinnen zu verdanken, die wiederum andere Menschen zum Mittun motivierten. Unter ihnen sind Frauenpersönlichkeiten wie Agnes Neuhaus. Über sie wird im Vergleich zu Ingenieuren, die technische Innovationen vorantrieben, jedoch seltener gesprochen.
Dabei haben Frauen wie Neuhaus viel angestoßen. Aus ihrem christlichen Glauben heraus strebte Neuhaus danach, das Prinzip der Caritas zu leben. Sie setzte sich ab Ende des 19. Jahrhunderts für Frauen in Not ein und wirkte darauf hin, Zufluchtshäuser für Frauen einzurichten. Bald hatte sie gleichgesinnte Frauen an ihrer Seite, mit denen sie in enger Kooperation mit der Kommunalverwaltung arbeitete. Um die Tätigkeiten strukturiert organisieren zu können, gründete Neuhaus 1899 den "Verein vom Guten Hirten". Frauen der nächsten Generationen führten Neuhaus’ Engagement im "Sozialdienst katholischer Frauen" (SkF) fort.
Frauen gründeten die katholische Bahnhofsmission
Was Neuhaus für den SkF ist, sind Ellen Ammann und Christiane von Preysing-Lichtenegg-Moos2 für die katholische Bahnhofsmission in Bayern. Sie engagierten sich stark für sozial-caritative Frauenschulen - getrieben von der Überzeugung, dass, wie Ammann es ausdrückte, "soziale Arbeit nicht im Dilettantentum stecken bleiben (darf), denn sie ist verantwortungsvolle Arbeit am Menschen, mehr wie jede andere."
Neuhaus und Ammann identifizierten Verbesserungsmöglichkeiten und setzten diese gemeinsam mit anderen und angepasst an Ort und Zeit um. Ihre Lösungsansätze etablierten sich zu dauerhaften Unterstützungsangeboten mit nachhaltiger Wirkung. An ihnen lassen sich die drei zentralen Merkmale sozialer Innovationen ablesen: Verbesserung, Verbreitung und Wirkung. Soziale Innovationen zeichnen sich durch ihren Prozesscharakter und durch Veränderung im Werden aus. Dadurch weichen sie vom verbreiteten Innovationsverständnis ab, das die absolute Neuartigkeit von Innovation herausstellt und geprägt ist von Joseph Schumpeters Konzept schöpferischer Zerstörung. Nach der beru¨hmt gewordenen Kurzformel des Nationalökonomen Schumpeter (1883-1950) werden Innovationen bezeichnet als "the doing of new things or the doing of things that are already being done in a new way".
Dahingegen hat das Konzept von Innovation, das prozesshaft Neuerungen implementiert, in der Wohlfahrtspflege umso mehr Wirksamkeit entfaltet - auch wenn die Durchsetzungsgeschichten sozialer Innovationen immer wieder auch als Krisengeschichten zu sehen sind. Lorenz Werthmann hat dies im Verhältnis zu den Bischöfen erfahren, Neuhaus im Verhältnis zum Caritasverband.
Soziale Innovationen können schwer verdiente gesellschaftliche Errungenschaften sein. Ihre Auswirkungen können Gewinner(innen) und Verlierer(innen) erzeugen und neue Konflikte mit sich bringen. So stellten zum Beispiel die innovativ wirkenden Frauen in der Caritas nicht selten allein durch ihr Tun das traditionelle Rollenverständnis von Frauen und Männern infrage: Die Geschichte sozialer Innovationen in der Caritas lässt sich zugleich als die sozialer Ermutigung und Befähigung von Frauen lesen. Männer, die diese Innovationen unterstützten, brachten sich nicht selten in krisenhafte Spannung zu den Hütern der alten Ordnung. Lorenz Werthmann, der Gründer des Deutschen Caritasverbandes3 (DCV), steht für diesen Typus. Er setzte sich von Anfang an dafür ein, Frauen zu den Gremien des sich neu konstituierenden Vereins einzuladen, zeigte gegenüber den Fachvereinen der Frauen Interesse und stützte damit die soziale Innovation weiblicher Interessenselbstvertretung innerhalb der katholischen Kirche.
Innovationen können?Macht- verhältnisse verschieben
Für den Erfolg sozialer Innovationen ist nicht allein die Idee einer einzelnen Person ausschlaggebend. Vielmehr bedarf es gemeinsamer Aushandlungs- und Gestaltungsprozesse; teils gehen diese einher mit Auseinandersetzungen über Grundfragen gesellschaftlichen Zusammenlebens. Dies ist erklärbar, wenn man bedenkt, dass soziale Innovationen in ihrer Entstehung wie auch in ihrer Wirkung eng mit dem Miteinander von Menschen verknüpft sind. Soziale Innovationen können zu Verschiebungen der Organisationsweisen, der Machtverhältnisse oder des sozialen Gefüges führen. Wenn sie sich langfristig durchsetzen sollen, sind jedoch die Unterstützung und Akzeptanz möglichst vieler Menschen essenziell - und Akzeptanz lässt sich oft nur im Diskurs über Bedürfnisse und durch Einbeziehung der verschiedenen Interessen erreichen. Deshalb kann der Grad der Zusammenarbeit im Entwicklungsprozess sozialer Innovationen mit über ihren Erfolg entscheiden. Je früher und je mehr Vertreter(innen) der beteiligten Sektoren und Themen einbezogen werden, desto größer kann der Rückhalt und damit das Wirkpotenzial sozialer Innovationen werden. Besonders deutlich wird dies mit Blick auf das breite Netzwerk der Unterstützerinnen, auf das Frauen wie Neuhaus oder Ammann ihre Arbeit bauten. Dank dieses Netzwerkes mit kontinuierlichem und verlässlichem Engagement gelang es schließlich, dauerhaft Frauen zum Mittun zu motivieren und nachhaltig wirkende stabile Strukturen zu etablieren.
Auf starke Netzwerkstrukturen wird die Caritas als Innovationsmotor auch in Zukunft bauen - zum Beispiel, um Gestaltungsoptionen für die Gesellschaft in Zeiten der digitalen Transformation zu entwickeln. Im Caritasverband für das Bistum Essen zeigt Diözesan-Caritasdirektorin Sabine Depew, wie dies gelingen kann. Für Depew steht außer Frage, dass die Caritas beim Thema digitale Transformation mitmischt, indem sie die Gesamtorganisation modernisiert und sich öffentlich in ethische Diskussionen zur Digitalisierung einbringt - auf Basis des Solidaritätsgedanken der Caritas.
Innovationslabor: eine Idee wird Wirklichkeit
Ein Gestaltungsweg führt über das Barcamp Soziale Arbeit, das Depew mitkonzipiert hat. 2016 und 2017 wurde es gemeinsam von verschiedenen Diözesan-Caritasverbänden ausgerichtet, ab 2018 zusammen mit dem DCV.4 Es bietet ein Forum, um "die nötigen Kulturbrüche zur Weiterentwicklung der sozialen Arbeit zu bewirken"5, so Depew. Denn ein Barcamp lebt von offenen Denkräumen, und ein vielfältig zusammengesetzter Teilnehmerkreis wusste diese bei den Barcamps 2016 und 2017 gut zu füllen. Zusätzliches Potenzial habe sich aus der crossmedialen Verknüpfung ergeben, so Depew. Unter dem Hashtag #sozialcamp sammelten sich Tweets auf Twitter und banden Außenstehende in das Geschehen ein. Welch innovative Projekte aus den Ergebnissen des Barcamps entstehen können, zeigt sich in Essen: 2016 sprach Depew auf dem Barcamp über das Konzept eines Innovationslabors, heute existiert das CariLab in den Räumen der Caritas in Essen. Hier ist nun Platz, um Ideen zu entwickeln und Neues, zum Beispiel digitale Arbeitsformate, auszutesten.
Wie Sabine Depew, so ist auch Theresia Wunderlich, bis zum Frühjahr 2018 Leiterin der Abteilung Soziales und Gesundheit beim DCV, als Erfinderin der Online-Beratung der Caritas eine der Pionierinnen sozialer Innovationen. Als zu Anfang des Jahrhunderts die Nutzung elektronischer Medien asynchron per Mail und später synchron per Chat von vielen Mitarbeiterinnen von Beratungsstellen noch als Angriff auf die Face-to-Face-Beratung interpretiert wurden, arbeitete sie beharrlich am Ausbau von Kooperationsvereinbarungen. Schritt für Schritt erweiterte sie die Beratungsangebote von der Schuldner- über die Schwangeren- bis zur Suchtberatung und baute im Laufe der Jahre im DCV ein dichtes Netz informierter Mitstreiter(innen) auf.
Alle diese Projekte gelingen nur mit Mut und Veränderungsfreude - getragen von der Wertehaltung solidarischen Handelns als Caritas. Große Prozesse können nur dann für und mit Menschen gestaltet werden, wenn Mitstreiter(innen) mitgenommen, befähigt und bestärkt werden. Hier schließt sich der Kreis zum Handeln der Frauen wie Neuhaus oder Ammann. Auch sie wussten bei ihren Projektideen nicht zu jedem Zeitpunkt, wohin genau der Weg der Fürsorge für Frauen führen würde. Aber sie wussten, dass es richtig und wichtig war, den Weg zu gehen. Ebenso ist es heute. Es gibt keine vorgefertigten Pfade, aber die Möglichkeit zum gemeinsamen Suchen von Wegen. Und es gibt in der Caritas neben Männern in Verantwortung in jeder Generation Frauen, die als Motoren sozialer Innovationen Chancen zur Verbesserung der Lebenslage vulnerabler Menschen in unserer Gesellschaft erkennen und nutzen.
Anmerkungen
1. Agnes Neuhaus (1854-1944), Gründerin des Sozialdienstes katholischer Frauen, ist eine der ganz großen Frauen der Caritasgeschichte. Sie war außerdem Gründungsmitglied des Katholischen Deutschen Frauenbundes (KDFB). 1919 war sie als Zentrumsabgeordnete Mitglied der deutschen Nationalversammlung, 1920-30 des Reichstags.
2. Ellen Ammann (1870-1932) und Christiane Maximiliane Gräfin von Preysing-Lichtenegg-Moos (1852-1923) gründeten 1897 die erste katholische Bahnhofsmission Deutschlands in München. Junge Frauen aus ländlichen Gegenden, die eine Stelle in der Stadt suchten, sollten durch die Bahnhofsmission vor Mädchenhandel geschützt werden. 1909 gründeten die beiden die "Soziale und Caritative Frauenschule", um Frauen für die Übernahme sozialer und caritativer Aufgaben professionell auszubilden.
3. Lorenz Werthmann (1858-1921, promovierter Theologe und Priester) gründete 1897 den Deutschen Caritasverband. Zusammen mit Vertretern der katholischen Sozialpolitik und des katholischen Verbändewesens hatte er die Idee entwickelt, die zahlreichen katholisch-caritativen Vereine, die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts gebildet hatten, in einer Organisation zu bündeln.
4. Das Barcamp Soziale Arbeit wird von den Diözesan-Caritasverbänden Aachen, Essen, Köln, Münster, Paderborn, Osnabrück, Limburg, Speyer, Mainz sowie dem DCV ausgerichtet und gesponsert. Die Soziale Arbeit steht im Fokus. Das Katholisch-Soziale Institut (KSI) in Siegburg und die Katholische Hochschule NRW sind Kooperationspartner.
Infos: https://sozialcamp.de
5. Depew, S.: BarCamp als Beitrag zur Organisationsentwicklung; #SozialCamp 2017, 2. September 2017, https://zeitzuteilen.blog/?s=barcamp
Windstöße der Veränderung
Gemeinsam einkaufen und organisieren
Die Expertise bleibt erhalten
Mehr Einrichtungen, mehr Mitarbeiter, mehr Betreute_ Zentralstatistik 2016
Es braucht eine Reform der Reform
Hinterlassen Sie einen Kommentar zum Thema
Danke für Ihren Kommentar!
Ups...
Ein Fehler ist aufgetreten. Bitte laden Sie die Seite erneut und wiederholen Sie den Vorgang.
{{Reply.Name}} antwortet
{{Reply.Text}}