Stolperstein Volljährigkeit
Jugendliche und junge Erwachsene, die in stationärer Erziehungshilfe erwachsen werden, müssen im Gegensatz zu anderen Gleichaltrigen frühzeitig auf eigenen Füßen stehen und die alleinige Verantwortung für ihr Leben übernehmen. Ihre Übergangspfade aus stationären Erziehungshilfen sind deutlich strikter gerahmt, als die Ablösung junger Erwachsener aus ihren Familien üblicherweise geschieht. Sie verbleiben meist ohne Rückhalt, nachdem sie die Hilfe verlassen haben. Diese "Care Leaver" würden aber eine besonders intensive Begleitung in dieser Lebensphase brauchen - nach individuellen Möglichkeiten und Ressourcen - mit dem Recht auf gleiche Bildungs- und Entwicklungschancen wie andere junge Erwachsene.
Besonderes Augenmerk wird in diesem Beitrag auf die Bedingungen für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge gelegt, die fast alle in stationäre Erziehungshilfen aufgenommen werden. Sie bilden nicht nur aufgrund ihrer Herkunft und ihrer Fluchterfahrungen eine besondere Gruppe unter den Care Leavern. Sondern sie erfahren zudem eine sehr rigide Ablösung aus dem Hilfekontext und sehen sich nach der Volljährigkeit insbesondere mit aufenthaltsrechtlichen Regularien konfrontiert. Somit weist ihr Übergang ins Erwachsenenleben zusätzliche Barrieren auf, welche die Chancenungleichheit junger Menschen in Erziehungshilfen unterstreichen.
Der Beitrag benennt einige Wegbereiter für gelingende Übergänge aus der stationären Erziehungshilfe in ein eigenständiges Leben. Dank verschiedener Projekte der Universität Hildesheim in Kooperation mit der Internationalen Gesellschaft für erzieherische Hilfen (IGfH) sowie des Bundesfachverbands unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (BumF) konnten mittlerweile die Lebenssituation von Care Leavern sowie erforderliche Weiterentwicklungen der Übergangspraxis in Fachdiskursen zugänglich gemacht werden.
Care Leaver - ein sehr heterogener Personenkreis
Der Begriff Care Leaver, ob mit oder ohne Fluchthintergrund, beschreibt eine sehr heterogene Gruppe junger Menschen unter 27, die aufgrund spezifischer biografischer Erfahrungen auf keinen oder nur wenig familiären Rückhalt auf ihrem Weg ins selbstständige Leben bauen können.
Zum Beispiel ist die unbegleitete Einreise minderjähriger Flüchtlinge Auslöser für die Inobhutnahme und anschließende Unterbringung und Betreuung der Kinder und Jugendlichen im Rahmen der Jugendhilfe. Sie kommen häufig im Alter zwischen 16 und 18 Jahren in Deutschland an und bringen einerseits bereits eine gewisse Reife und Selbstständigkeit mit. Andererseits befinden sie sich sprachlich und strukturell in einem völlig neuen Kontext und sind auf Unterstützung durch die Jugendhilfe angewiesen. Nicht zuletzt haben sie häufig belastende Erfahrungen im Herkunftsland und auf der Flucht nach Deutschland machen müssen. Die Trennung von Familienangehörigen und Freunden sowie die Erfahrungen während der Flucht zu bewältigen und Vertrauen wieder aufzubauen - all dies ist im Rahmen der Erziehungshilfe zu fördern. Dabei ist die Gruppe der jungen Flüchtlinge durch eine starke Heterogenität gekennzeichnet. Dies betrifft nicht nur ihre geografische Herkunft, sondern auch ihre unterschiedlichsten Erfahrungen in Herkunftsländern und auf der Flucht, ihren sozialen und kulturellen Hintergrund sowie ihre Bildungserfahrungen.
Kaum Erziehungshilfen nach Eintritt der Volljährigkeit
Spätestens mit 19?Jahren befinden sich kaum noch junge Menschen in stationären Hilfeformen.1 Dies widerspricht nicht zuletzt dem Kerngedanken des Kinder- und Jugendhilfegesetzes, welches mit dem § 41 SGB VIII eine Hilfe für junge Volljährige bis zum 21. Lebensjahr, bei Bedarf darüber hinaus, ausdrücklich ermöglicht.
Die vergleichsweise hohen Anforderungen an die Lebenskompetenzen junger Care Leaver stehen in starkem Kontrast zu den biografischen Vorerfahrungen und prekären Lebensverhältnissen, denen viele von ihnen entstammen.2 "Selbstständigkeit mit 18" wird in den Erziehungshilfen dennoch zum Normalfall erklärt. Dem Wissen über eine längere Jugendphase und über die Anforderungen des jungen Erwachsenenalters - einschließlich längerer Bildungswege - trägt diese Praxis keineswegs Rechnung. Bei jungen Flüchtlingen, die häufig erst mit 16 oder 17 Jahren einreisen, wird somit die wichtige Phase des Ankommens extrem verkürzt.
Schwieriger Start ins eigenständige Leben
Internationale Untersuchungen der vergangenen 30 Jahre zu Übergängen junger Erwachsener aus stationären Erziehungshilfen in ein eigenständiges Leben haben gezeigt, dass Care Leaver besonders vulnerabel im Hinblick auf ihre persönliche Entwicklung, die materielle Ausstattung und ihre soziale Unterstützung sind.
Zu Care Leavern mit Fluchterfahrung gibt es bis dato keine systematisierte Forschung. Eine aktuelle BumF-Untersuchung hat jedoch erste Ergebnisse zusammentragen können und bestätigt bereits vorliegende Befunde:
- Care Leaver mit und ohne Fluchthintergrund werden deutlich früher auf ein eigenständiges Leben verwiesen.
- Die fehlende Option zur Rückkehr in betreute Settings trägt dazu bei, dass sich Krisen in den ersten Erfahrungen mit eigenständigem Leben existenzieller auswirken und Care Leaver somit zum Beispiel besonders von Wohnungslosigkeit betroffen sind.
- Schlechtere Bildungschancen verschärfen die Gefahr unzureichender gesellschaftlicher Teilhabe. So erwerben deutlich weniger Care Leaver einen Schulabschluss als ihre Peers, die in ihren Herkunftsfamilien aufwachsen.3
- Zum Zeitpunkt des Übergangs haben Care Leaver in der Regel noch keine Ausbildungsabschlüsse erreicht. Die Einmündung in den Arbeitsmarkt ist oft noch nicht vollzogen, somit ist das Angewiesensein auf Transferleistungen auch nach der Erziehungshilfe häufig strukturell angelegt. Diese Lebensphase ist für Care Leaver besonders riskant.4
- Für junge Flüchtlinge hängt die Form der Transferleistung, ein Anspruch auf finanzielle Unterstützung während der Ausbildung, der Umfang der Gesundheitsversorgung und die Wahl des Wohnortes stark vom jeweiligen Aufenthaltstitel und den implizierten Beschränkungen ab.5
- Junge Flüchtlinge, die nach Beendigung der Jugendhilfe keinen gesicherten Aufenthaltsstatus haben, müssen in einigen Bundesländern direkt in eine Gemeinschaftsunterkunft umziehen. Diese Lebenssituation erschwert es ihnen zusätzlich, in einem geschützten Rahmen positive Bildungs- und Lebensperspektiven zu entwickeln. Auch der Übergang in Ausbildung und Arbeit ist bei ihnen deutlich fragiler.
Vor diesem Hintergrund bedarf es einer genauen Analyse und Weiterentwicklung der Übergangsbegleitung aus stationären Erziehungshilfen, welche nicht mit dem Auszug aus der Pflegefamilie oder Wohngruppe, der Erziehungsstelle oder dem Kinderdorf enden kann. Es braucht stattdessen eine gute Vorbereitung sowie eine stabile nachgehende Begleitung.6 Anhand vorliegender Forschungsergebnisse lassen sich folgende Beispiele als gute Voraussetzungen für einen gelingenden Übergang aus stationären Erziehungshilfen ins Erwachsenenleben identifizieren.7
Soziale Beziehungen und wichtige Wegbegleiter
Der Übergang verläuft dann besonders positiv, wenn Care Leaver Stabilität und Kontinuität im Hilfesystem und in ihren sozialen Beziehungen vorfinden und die Gelegenheit erhalten, während des Übergangsprozesses auf für sie wichtige Wegbegleiter(innen) zurückgreifen zu können.8 Das können ehemalige Pflegeeltern beziehungsweise Betreuer(innen) aus der Heimerziehung, Gleichaltrige, aber auch Personen aus der Herkunftsfamilie sein. Im Falle junger Flüchtlinge erweisen sich ehrenamtliche Vormünder oder Pat(inn)en regelmäßig als Vertrauenspersonen, die über den Eintritt der Volljährigkeit und die Dauer der Jugendhilfe hinaus unterstützen. Junge Erwachsene fühlen sich auf die Situation der Eigenständigkeit besser vorbereitet, wenn sie auch nach dem Hilfeende weiterhin auf eine Unterstützung durch ihre (ehemaligen) Pflegeeltern oder durch andere für sie wichtige Erwachsene vertrauen können.
Auch wenn die Herkunftsfamilie bei unbegleiteten Flüchtlingen oft weit weg und mitunter schwer zu erreichen ist oder der Verlust enger Familienmitglieder der Flucht vorausging, ist doch der Kontakt zur Familie und zu Vertrauten im In- oder Ausland ebenso wichtig. Eine Untersuchung des BumF zeigt deutlich, dass das soziale Umfeld und das Vorhandensein von Vertrauenspersonen über die Jugendhilfe hinaus, insbesondere angesichts des Fehlens familiären Rückhalts, zur Bedingung eines gelingenden Übergangs werden. Die Flüchtlingsberatungsstellen und Jugendmigrationsdienste nehmen eine zentrale Rolle ein - insbesondere hinsichtlich aufenthaltsrechtlicher Fragestellungen.
Wohnsituation von Care Leavern
In etlichen Ländern liegen Studien zur Wohnsituation der Care Leaver vor.9 Eine stabile und zufriedenstellende Wohnsituation bildet demzufolge eine Schlüsselkategorie für einen gelingenden Übergang.10 Diese Befunde unterstreichen, dass auch die Zuständigkeit für Care Leaver nicht mit dem Umzug in eine eigene Wohnung enden kann, denn viele Herausforderungen entstehen erst mit diesem Schritt. Unsichere Wohnverhältnisse und das Gefühl, nach Verlassen der stationären Hilfe nicht genügend Unterstützung zu erhalten, können einen positiven Verlauf im Übergang wieder gefährden. Somit ist eine verlässliche Begleitung auch nach dem Umzug in eine eigene Wohnung ein wichtiger Gelingensfaktor für die Übergangsbegleitung von Care Leavern.
Die steigende Tendenz, junge volljährige Flüchtlinge in Gemeinschaftsunterkünften für erwachsene Asylsuchende unterzubringen und zeitgleich hiermit die Jugendhilfe zu beenden, gefährdet weiterhin den Verlauf des Übergangs. Für Care Leaver nimmt diese Praxis den jungen Erwachsenen Möglichkeiten, ihre (berufliche) Zukunft selbstbestimmt zu bestreiten. Hinzu kommt das Risiko, dass jugendliche Flüchtlinge, die noch keinen Asylantrag gestellt haben oder trotz Inobhutnahme noch nicht bei der örtlichen Ausländerbehörde registriert wurden, bei Erreichen der Volljährigkeit im Rahmen der bundesweiten Verteilung erwachsener Asylsuchender nochmals in ein anderes Bundesland verteilt werden können. Dies kann unabhängig von ihrer Lebenssituation und der gesellschaftlichen Teilhabe am zeitweiligen Lebensort erfolgen. Jungen geflüchteten Care Leavern mit Jugendhilfebedarf werden somit ab dem 18. Geburtstag durch das Eingreifen ordnungsrechtlicher Akteure Rechte11 und Chancen im Übergang verwehrt.
Bildungschancen versus Erwerbsnotwendigkeit
Studien zeigen, dass positive Erfahrungen im Bildungssystem die Resilienz junger Menschen in Erziehungshilfen begünstigen.12 Die Ermutigung und Förderung durch Pädagog(inn)en, Lehrer(innen) und andere Akteure des Bildungssystems können die Bildungserfolge der jungen Menschen in stationären Erziehungshilfen langfristig begünstigen.13 Geringes Zutrauen von Lehrer(inne)n und Pädagog(inn)en hingegen kann Kinder und Jugendliche in stationären Erziehungshilfen im Erreichen von Bildungsabschlüssen und somit auch in ihrer persönlichen Entwicklung entscheidend behindern.
Der Zugang zum formalen Bildungssystem und seinen Förderungsinstrumentarien ist für junge Flüchtlinge stark durch den aufenthaltsrechtlichen Status beeinflusst. Das hiesige Bildungssystem trifft im Falle junger Flüchtlinge zwar meist auf eine hohe Motivation. Die zahlreichen Verpflichtungen, denen die Jugendlichen früh unterliegen, sind jedoch nicht immer leicht zu vereinen mit der Dauer und der Vergütung von Ausbildungen. So ist Migration häufig mit Verantwortung gegenüber der Familie im Herkunftsland und deren Erwartungen monetärer Art verbunden, und angefallene Kosten für die Schleusung müssen nicht selten im Nachhinein beglichen werden. Die Herausforderung, Schule und Ausbildung nach oft kurzer Zeit in Deutschland zu bewältigen, wird häufig durch notwendige Nebenjobs erschwert.
Fachübergreifender Austausch tut not
Angesichts zahlreicher neuer Jugendhilfeeinrichtungen zur Betreuung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge bedarf es eines intensiven Wissenstransfers und Good-Practice-Austauschs zwischen der Kinder- und Jugend- sowie der Flüchtlingshilfe - gerade auch zur Frage einer geeigneten Übergangsbegleitung junger Menschen ins Erwachsenenleben. Zugrunde liegen müssen dabei ein neues Verständnis von Jugend und dem jungen Erwachsenenalter sowie ein umfassenderer Begriff von Selbstständigkeit.
Eine Teilhabe an der Gesellschaft kann für junge Flüchtlinge nur dann gelingen, wenn die Jugendlichen entsprechend ihrem Reifegrad frühzeitig, nachhaltig und umfassend in die sie betreffenden Verfahren und Entscheidungen einbezogen werden. Dies bedeutet einerseits, dass der Erziehungsauftrag nicht hinter ausländerrechtlichen Erwägungen zurückstehen darf, und andererseits eine Berücksichtigung der Gelingensfaktoren im Übergang.14
Anmerkungen
1. Vgl. Fendrich, S.; Pothmann, J.; Tabel, A.: Monitor Hilfen zur Erziehung 2012. Dortmund u.a., 2012.
2. Vgl. Strahl, B.; Thomas, S.: Care Leavers. Aus stationären Erziehungshilfen in die "Selbstständigkeit". In: unsere jugend Heft 1/2013, S. 2-11.
3. Vgl. Mangold, K.; Rein, A.: Formale Bildung als Ressource für Care Leaver in Übergängen ins Erwachsensein? In: Forum Erziehungshilfen, 20. Jg. Heft 3/2014, S. 141-146.
4. Vgl. Köngeter, S.; Schröer, W.; Zeller, M.: Status passage: "Leaving Care" - Biographische Herausforderungen nach der Heimerziehung. Diskurs Kindheits- und Jugendforschung Heft 3/2012, S. 261-276.
5. Vgl. Paritätischer Gesamtverband: Der Zugang zu Berufsausbildung und zu den Leistungen der Ausbildungsförderung für junge Flüchtlinge und junge Neuzugewanderte. Handreichung. Paritätische Arbeitshilfe 13, 2015. Download: www.der-paritaetische.de , Suchwort: "Arbeitshilfe 13".
6. Sievers, B.; Thomas, S.; Zeller, M.: Jugendhilfe und dann? Zur Gestaltung der Übergänge junger Erwachsener aus stationären Erziehungshilfen. Ein Arbeitsbuch. Frankfurt, 2015. 7. Eine ausführliche Darstellung zu diesen Punkten bieten: Sievers, B. et al., a.a.O.
8. Vgl. Stein, M.; Wade, J.: Helping Care Leavers: Problems and Strategic Responses. Social Work Research and Development Unit. University of York, 2000.
9. Vgl. Stein, M.; Dixon, J.: Young people leaving care in Scotland. In: European Journal of Social Work Heft 4/2006, S. 407-423.
10. Vgl. Johnson, G.; Mendes, P.: Taking control and ,moving on‘: How young people turn around problematic transitions from out-of-home care. In: Social Work & Society Heft 1/2014 (www.socwork.net/sws/article/view/390/731).
11. Vgl. z.B. die UN-Kinderrechtskonvention, Art. 39 u. a., die eine Gleichbehandlung aller Kinder vorsieht. Wenn der Anspruch auf
Jugendhilfe - der grundsätzlich über das
18. Lebensjahr hinaus gilt, für junge Geflüchtete nicht gilt, ist der Gleichbehandlungsgrundsatz hierbei verletzt.
12. Vgl. Mangold, K.; Rein, A.: ebd.
13. Vgl. Biehal, N; Clayden, J.; Stein, M.; Wade, J.: Moving on: Young people and leaving care schemes. London, 1995.
14. Die Broschüre "Durchblick - Infos für deinen Weg aus der Jugendhilfe ins Erwachsenenleben" gibt Informationen und Tipps für Jugendliche und junge Erwachsene, die dabei sind, sich auf ein eigenverantwortliches Leben vorzubereiten. Kostenloser Download der von der Internationalen Gesellschaft für erzieherische Hilfen und der Stiftung Universität Hildesheim herausgegebenen Broschüre unter: www.careleaver-online.de
Die Botschaft der Liebe trägt Früchte
Hohe Fachlichkeit allein reicht nicht
Caritas kann zu nachhaltigem Konsum anregen
Bangemachen gilt nicht
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