Schule und Arbeitsplatz inklusive
Es fängt schon an mit dem Weg zur Arbeit. Oder zur Schule. Oder in das nächste Stadtviertel: Kein einziges öffentliches Verkehrsmittel in El Salvador ist bislang behindertengerecht. Für körperlich behinderte Menschen ist es deshalb kaum möglich, sich über weitere Strecken ohne eigenes Auto fortzubewegen. Zwar gibt es Regierungspläne, 90 barrierefreie Busse anzuschaffen. 90 von insgesamt 6500. Das sind 1,38 Prozent aller Busse. "Klar, das ist besser als nichts. Aber doch sehr wenig", seufzt Michael "Paco" Kleutgens, der sich seit mehr als zehn Jahren mit seiner Elternorganisation "Los Angelitos" ("Die Engelchen") für Kinder mit Behinderung in dem mittelamerikanischen Kleinstaat einsetzt.
Dass es nicht schneller vorangeht in Sachen Behindertenrechte in El Salvador liegt weniger am fehlenden politischen Willen, meint Kleutgens. In der Gesetzgebung ist El Salvador in vielen Bereichen sogar recht weit. So gehörte das Land zu den ersten Staaten, die die UN-Behindertenrechtskonvention unterzeichnet haben. Auf dem Papier hat es seitdem viele Verbesserungen gegeben. Es ist unter anderem gesetzlich vorgeschrieben, dass in jedem größeren Betrieb mindestens vier Prozent der Mitarbeiter(innen) Menschen mit Behinderung sein müssen. Das ist deutlich mehr, als man von einem Land erwarten würde, in dem 48 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze leben.
57 US-Dollar, um sich von der Pflichtquote freizukaufen
Andererseits ist Papier bekanntermaßen geduldig und die ökonomisch-politische Situation in El Salvador extrem angespannt. So hat jeder siebte Salvadorianer aus purer Not das Land bereits verlassen. Um die gesellschaftliche Wirklichkeit tatsächlich zu verändern, braucht es deshalb nicht nur Gesetze, das ist die Erfahrung von Eltern und Mitarbeiter(nne)n der "Angelitos", sondern auch Beharrlichkeit und stetigen Druck der gesellschaftlichen Basis. Zum Beispiel bei der Integration von Menschen mit?Behinderung im ersten Arbeitsmarkt. Denn fast alle Betriebe in El Salvador nutzen derzeit die Möglichkeit, sich von der gesetzlich vorgeschriebenen Pflichtquote freizukaufen. 57 US-Dollar kostet das jährlich. Für die Betriebe eine leicht zu verschmerzende Sanktion.
Doch es geht auch anders. Der 36-jährige Manuel Dubón ist dafür ein Beispiel. Der geistig behinderte Mann arbeitet seit einiger Zeit für eine Bäckereikette. In einer der Filialen begrüßt er die Kunden am Eingang, räumt die Tische ab und wischt den Flur. Möglich gemacht haben das die guten Kontakte der "Angelitos", die unter anderem Unternehmerfrühstücke veranstalten, um die Arbeitgeber über ihre Organisation zu informieren und sie zu motivieren, Menschen mit Behinderung einzustellen. Manuel Dubóns Vater Antonio, der noch neun weitere Kinder aufgezogen hat und sich im Vorstand der "Angelitos" engagiert, ist sehr erleichtert über den großen Schritt Richtung selbstbestimmtes Leben, den sein Sohn mit Antritt seiner Arbeitsstelle gemacht hat: "Wir werden älter und es wird immer schwerer für uns, all unsere Kinder zu unterstützen", sagt der 56-Jährige. Dass sein Sohn jetzt sein eigenes Geld verdiene, sei für ihn noch immer schwer zu glauben. "Als wir als "Angelitos" im Jahr 2004 mit unserer Arbeit begannen, da galten behinderte Kinder vielen noch als Schande, als Strafe Gottes. Oftmals kannten nicht einmal die Nachbarn unsere Kinder."
Behinderung ist in erster Linie ein soziales Problem
Das hat sich mit der Gründung von "Los Angelitos" geändert. Die Elternorganisation, der sich 800 Familien angeschlossen haben und die unter anderem seit vielen Jahren vom deutschen Entwicklungshilfeministerium unterstützt wird, ist aus einer Kriegsversehrten-Organisation hervorgegangen, die nach Ende des Bürgerkrieges 1992 gegründet worden war. Bedingt durch den Bürgerkrieg, der von 1980 bis 1992 andauerte, gibt es überdurchschnittlich viele Menschen mit Behinderung in El Salvador. Verlässliche Statistiken existieren nicht, Schätzungen gehen jedoch davon aus, dass 15 Prozent der Bevölkerung mit einer Behinderung leben.
"Los Angelitos" sehen Behindertenarbeit als Menschenrechtsarbeit. Als Kampf dagegen, dass die fundamentalen Rechte der Menschen mit Behinderung permanent ignoriert oder verletzt werden. Denn behindert werden die Menschen nicht nur durch körperliche oder geistige Beeinträchtigungen, sondern auch durch Hürden und Barrieren im Alltag. "Behinderung ist aus unserer Sicht in erster Linie ein soziales Problem", sagt Kleutgens, "erst in zweiter Linie ein medizinisches." Eintreten für ihre Rechte sollen die behinderten Menschen selbst oder aber ihre Eltern. Sie sitzen an runden Tischen der Regierung, führen Gespräche mit Unternehmern, gehen aber auch auf die Straße, wenn es nötig scheint. Sie zeigen sich - laut und deutlich. Mit der Organisation sind die behinderten Menschen vielerorts erstmals in dem mittelamerikanischen Land sichtbar geworden.
Zentrales Thema ist eine inklusive Schule
Neben der politischen Einflussnahme setzen die "Angelitos" auf die konkrete Hilfe für Menschen. Unter aktiver Einbeziehung der Eltern und dem unmittelbaren Umfeld sowie den lokalen Entscheidungsträgern wird mit einfachsten Mitteln die soziale Inklusion gefördert. Das reicht von der Physiotherapie über die Unterstützung von Lehrern und Vermittlung von behinderten Menschen in den Arbeitsmarkt bis hin zur Gestaltung von Freizeitaktivitäten.
Eines der zentralen Themen für die "Angelitos" ist derzeit die Verwirklichung der inklusiven Schule, der Unterrichtung von Kindern mit und ohne speziellen Förderbedarf in einem Klassenraum. Dabei existieren in El Salvador verglichen mit Deutschland Rahmenbedingungen, die förderlich sind, dieses Ziel zu erreichen. So gibt es nur ein äußerst schwach ausgebildetes Förderschulwesen mit landesweit gerade einmal 27 Sonderschulen, das beim Unterricht gezielt auf die jeweiligen Behinderungen eingeht. "Der Widerstand von Spezialistengruppen gegen die Inklusion ist deshalb geringer als beispielsweise in Deutschland", sagt Paco Kleutgens. Allerdings räumt er auch ein, dass "die komplette Inklusion eine Überforderung sein kann".
Vor allem für die Lehrer(innen). "Sie sind großenteils guten Willens, fürchten aber, den anderen Kindern nicht mehr gerecht werden zu können und wünschen sich deshalb, dass wir unsere Kinder mit Behinderung ständig begleiten", berichtet Kleutgens. Aber das wollen die "Angelitos" nicht leisten, weil sie den Staat nicht aus seiner Pflicht entlassen wollen. Eltern und Mitarbeiter(innen) werden sich aber weiterhin dafür einsetzen, dass der Staat den Lehrer(inne)n in den Regelschulen Integrationshelfer(innen) an die Seite stellt, die bei Bedarf unterstützen können.
Umweltpolitik muss Soziales berücksichtigen
Energiearmut macht krank
Wie man schnell mal zum Seelsorger wird
Energiewende ohne Verlierer?
Zusammenarbeiten
Die Wahlrechte erhalten
Hinterlassen Sie einen Kommentar zum Thema
Danke für Ihren Kommentar!
Ups...
Ein Fehler ist aufgetreten. Bitte laden Sie die Seite erneut und wiederholen Sie den Vorgang.
{{Reply.Name}} antwortet
{{Reply.Text}}