In gute Ausbildung zu investieren Hilft der Gesamtgesellschaft
Welche Folgen wird die Aufnahme der vielen Flüchtlinge haben? Was bedeutet sie für den Arbeitsmarkt, ein Feld, in dem es zur Konkurrenz zwischen Flüchtlingen und bereits hier lebenden Benachteiligten kommen kann? Gesicherte Antworten hat niemand: Noch wissen wir zu wenig über diejenigen, die zu uns gekommen sind, und über ihre Potenziale.
Zum Glück stellt sich die Herausforderung der Integration von einigen Hunderttausend zusätzlichen Erwerbstätigen in den Arbeitsmarkt in einer Zeit, in der sich dieser als äußerst robust erweist. Integration muss beginnen, sobald als Ergebnis eines rechtsstaatlichen Asylverfahrens die Anerkennung erfolgt ist. Viele von denen, deren Asylverfahren mit einem negativen Bescheid endete, werden bei uns bleiben, weil Gründe für eine Duldung ihres Aufenthaltes vorliegen. Auch bei ihnen sollte Integration beginnen, sobald dies abzusehen ist. Die Asylverfahren sollen deutlich beschleunigt werden. Doch auch die Schutzsuchenden, deren Verfahren sich aus welchen Gründen auch immer länger hinziehen, dürfen nicht dauerhaft vom Arbeitsmarkt ferngehalten werden.
Datenlage reicht nicht aus
Es gibt bisher keine repräsentativen Daten zu den Qualifikationen, die die Flüchtlinge mitbringen, die 2015 und 2016 zu uns gekommen sind. Wir haben ein Bild über die Asylsuchenden und Flüchtlinge, die 2013 nach Deutschland kamen und denen es gelang, in Deutschland eine Aufenthaltserlaubnis zu erhalten. Von ihnen verfügten 13 Prozent über ein abgeschlossenes Hochschulstudium, 24 Prozent über einen mittleren Bildungsabschluss und 58 Prozent hatten keine abgeschlossene Berufsausbildung. Aktuellere, nicht repräsentative Erhebungen zeichnen ein ähnliches Bild.1 Von den Asylantragsteller(inne)n des Jahres 2014 waren mehr als die Hälfte unter 24 Jahre alt, also noch im Schulalter oder in dem Alter, in dem üblicherweise eine Ausbildung absolviert wird. Das Bildungspotenzial ist folglich sehr hoch.2 Dies verweist auf Chancen, aber auch auf enorme Herausforderungen für unser Schul- und Ausbildungssystem. In einem Teil der Herkunftsländer ist die allgemeine Schulbildung schlecht. Syrien, eines der Hauptherkunftsländer, war 2011 einbezogen in internationale Schulleistungstests. Zwei Drittel der Schüler in Syrien, so der Bildungsökonom Ludger Wößmann, erreichen nicht die in diesen Tests definierte unterste Kompetenzstufe, können somit nur eingeschränkt lesen und schreiben und nur einfachste Rechenaufgaben lösen. Gegenüber deutschen Schülern gleichen Alters liegen sie vier bis fünf Jahre zurück.3 Auch mit einem im Herkunftsland erlangten Schulabschluss ist es somit ein weiter Weg, bis die Anforderungen, die sich hier in einer dualen Ausbildung stellen, bewältigt werden können. Damit zeigt sich für die Integration in den Arbeitsmarkt in Deutschland ein gravierendes Problem. So gut die allgemeine Arbeitsmarktlage derzeit ist, ein Fünftel der Menschen ohne Berufsausbildung ist arbeitslos. Je schlechter es gelingt, die hier bleibenden Schutzsuchenden auszubilden, desto größer ist die Gefahr, dass sich die Konkurrenz um Arbeitsplätze am unteren Ende der Berufsskala weiter verschärft.
Mindestlohn absenken? Dann drohen Verdrängungskämpfe
Gerade weil diese Gefahr besteht, wäre ein abgesenkter Mindestlohn für Flüchtlinge, wie im Herbst 2015 diskutiert, ein äußerst riskantes Unterfangen. Die Befürchtung "Die Ausländer nehmen den Deutschen den Job weg" - eine Befürchtung, die Zuwanderung in hoher Zahl ohnehin immer auslöst - würde im Niedriglohnsektor des Arbeitsmarktes durch eine diskriminierende Unterscheidung zwischen Flüchtlingen und anderen Erwerbstätigen zur Realität. Möglicherweise muss es Anpassungen am Mindestlohngesetz geben, um mehr Praktika und andere niederschwellige Zugänge zu Erfahrungen im Betrieb zu ermöglichen. Denn diese können Neuzugängen zum Arbeitsmarkt aus dem Kreis der Flüchtlinge helfen, ihre Sprachdefizite oder andere Einschränkungen zu überwinden, um danach eine Ausbildung beginnen oder eine reguläre Arbeit aufnehmen zu können. Allerdings sollten diese Anpassungen nicht in Form einer "Lex Flüchtlinge" erfolgen, sondern offen sein für alle, die Unterstützung beim Zugang zum Arbeitsmarkt benötigen.
Auf Ausbildung setzen statt auf direkte Beschäftigung
Um die Gefahr einer wachsenden Konkurrenz am unteren Ende der Lohnskala zu mindern, sollte Ausbildung Vorrang vor einer gering qualifizierten Beschäftigung haben. Das ist leichter gesagt als durchgesetzt. Es gibt Hinweise aus der Praxis, dass auch ein Teil der Flüchtlinge, die gute Voraussetzungen für eine Ausbildung mitbringen, eine direkte Beschäftigung ohne Qualifikation der Durststrecke einer Ausbildung vorzieht. Eine solche Entscheidung ist angesichts des Wunsches, sich hier einzurichten, und möglicherweise auch der moralischen Verpflichtung, andere Familienmitglieder zu unterstützen, verständlich. Aber sie ist langfristig sehr nachteilig.
Unverzichtbar ist, die mögliche Unterstützung zu leisten, damit möglichst viele Flüchtlinge die Voraussetzungen für eine Ausbildung erwerben. Dazu gehören Angebote des grundständigen Spracherwerbs und erforderlichenfalls auch Angebote zur Alphabetisierung. Berufs- und ausbildungsbegleitend ist eine weitere Sprachförderung erforderlich, die beim Erwerb der fachspezifischen Sprachkenntnisse unterstützt. Wer aus dem Herkunftsland nur eine Schulbildung mitbringt, die geringe Kompetenzen vermittelte, scheitert möglicherweise an den hohen Anforderungen einer hiesigen Ausbildung.
Hilfreich: Qualifizierung in Modulen und mit Begleitung
Daher brauchen wir neben den regulären Ausbildungswegen auch modulare Zugänge, die schrittweise und mittelfristig zu einem Abschluss führen und während dieses Weges schon Beschäftigungsperspektiven eröffnen. Eine begleitende Unterstützung während der Ausbildung kann dazu beitragen, dass dieser Weg auch durchgehalten werden kann und Ausbildungsabbrüche vermieden werden.
Bei der Anerkennung von Abschlüssen unterstützen
Diejenigen, die bereits vor ihrer Flucht eine Berufsausbildung abgeschlossen haben, brauchen Unterstützung bei der Bewertung und Anerkennung ihrer Abschlüsse, damit sie hier nicht unter Wert arbeiten. Da ihre Ausbildung nicht die Erfordernisse des deutschen Arbeitsmarktes berücksichtigen konnte, sind auch Angebote der nachholenden Berufsqualifizierung und Weiterbildung dringend erforderlich. Positiv ist, dass das geplante Integrationsgesetz vorsieht, dass Auszubildende nun für die gesamte Dauer einer Ausbildung eine Duldung erhalten sollen. Nur mit einem für die Dauer der Ausbildung gesicherten Aufenthalt haben sie auch eine Chance, einen Ausbildungsplatz zu finden. Ausbildende Betriebe scheuen es verständlicherweise, einen Ausbildungsvertrag abzuschließen, wenn stets die Gefahr droht, dass die Ausbildung abgebrochen werden muss. Wünschenswert wäre statt der Duldung eine Aufenthaltserlaubnis. Großzügigkeit ist hier auch im Interesse der Gesellschaft, die die Flüchtlinge aufnimmt, denn viele der Geduldeten werden bleiben.
Über Altersgrenzen muss neu nachgedacht werden
Für diejenigen, die ein Studium oder eine Ausbildung aufnehmen wollen, die über das Bundesausbildungsgesetz gefördert wird, können sich die dort bestimmten Altersgrenzen als Falle erweisen. Eine Ausbildung muss vor dem 30., ein Masterstudium vor dem 35. Geburtstag begonnen werden. Für Normalbiografien sind dies angemessene Fristen. Aber wer bedingt durch seine Flucht wertvolle Jahre verloren hat, muss auf großzügige Ausnahmeregeln setzen können. Erforderlich sind eine intensive Beratung und Vermittlung der Flüchtlinge in den Jobcentern. Dies darf nicht zulasten der Beratung und Förderung der Menschen gehen, die bereits heute in der Langzeitarbeitslosigkeit feststecken.
Ausbilden und Personal gewinnen - Beispiel Pflege
Wie gut die Integration in den Arbeitsmarkt gelingt, hängt nicht allein von der staatlichen Arbeitsmarktpolitik ab, sondern ganz wesentlich auch vom Verhalten der Unternehmen. Nach anfänglich recht optimistischen Äußerungen seitens der Wirtschaft über die Chancen, die Flüchtlinge bei der Bewältigung des Fachkräftemangels bieten können, werden nun die großen Herausforderungen bei der Integration deutlicher gesehen. Nur Unternehmen, die sich auf den mühsamen Weg machen, geflüchtete Menschen auszubilden, werden die Chancen wirklich nutzen können. Hier können sich auch Chancen für soziale Dienstleistungsträger eröffnen, Personal zu gewinnen, allerdings nur, wenn diese nicht auf den sprichwörtlichen syrischen Arzt spekulieren, sondern ausbilden.
Es gibt bereits positive Beispiele. So bildet das Pflege- und Förderzentrum St. Anna der Caritas in Gießen ehemalige unbegleitete minderjährige Flüchtlinge zu Pflegefachkräften aus (siehe dazu auch das Interview auf S. 16). Sprachkurse in speziellen Lerngruppen, die ganz auf deren Bedürfnisse ausgerichtet sind, und eine engmaschige Begleitung durch eine hierfür ausreichend freigestellte Praxisanleiterin haben zum Erfolg beigetragen. Diese und ähnliche Versuche könnten vervielfältigt werden. Bedarf ist da, Träger im Pflegebereich suchen händeringend nach Personal, auch im fernen Ausland. Prioritär sollte sein, die Menschen, die nun einmal zu uns gekommen sind, auszubilden, statt mit aufwendigen Akquisitionsmaßnahmen auf dem ganzen Globus Fachkräfte aus anderen Ländern abzuwerben, die dort dringend gebraucht werden. Je kreativer die Caritas hier ihre Potenziale nutzt, desto glaubwürdiger kann sie auch auf anderen Feldern für eine Politik der Integration werben.
Anmerkungen
1. Brücker, H.; Hauptmann, A.; Trübswetter, P.: Asyl- und Flüchtlingsmigration in die EU und nach Deutschland. In: Aktuelle Berichte 8/2015, Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, S. 8 f.
2. Brücker, H.; Hauptmann, A.; Vallizadeh, E.: Flüchtlinge und andere Migranten am deutschen Arbeitsmarkt: Der Stand im September 2015. In: Aktuelle Berichte 14/2015, Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, S. 4.
3. Wößmann, L.: Bildung als Schlüssel zur Integration. Nur eine realistische Flüchtlingspolitik wird Erfolg haben. In: ifo Schnelldienst, Nr. 1/2016, S. 22.
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