Nur wenn die Lösung passt, wird sie genutzt
Alltagstauglich und auch für Menschen mit Behinderung sollten sie sein: die sogenannten "Ambient Assisted Living"-Systeme (AAL; frei übersetzt: Unterstützungssysteme im Alltag). Deshalb hat Stift Tilbeck, Dienstleister in den Bereichen der Hilfen für Menschen mit Behinderung und für alte Menschen, im Jahr 2012 eine Projektstelle Technische Assistenz für AAL eingeführt. Das Unternehmen betreibt Einrichtungen und Dienste rund um Münster/Westfalen.
Das Ziel war, strategische Projekte zu AAL zu initiieren und konkrete Angebote und Anwendungen zu etablieren. Wichtigste Grundlage war der Aufbau eines umfassenden Wissensmanagements. Bei der Teilnahme am 6. AAL-Kongress im Jahr 2013 in Berlin wurde deutlich, dass AAL in erster Linie ein Forschungsfeld war, in welchem neue Technologien entwickelt und erprobt wurden.
Diese können zwar die gewünschte selbstständige Lebensführung begünstigen, schaffen es allerdings nur in sehr geringem Umfang in die praktische Anwendung und somit in die breit genutzte Alltagstauglichkeit.
Eine weitere Erkenntnis war, dass als Zielgruppe für AAL-Systeme nahezu ausschließlich ältere Menschen in den Blick genommen wurden. Menschen mit Behinderung standen nicht im Fokus. Für eine Nutzbarmachung in Stift Tilbeck hingegen war die "Übersetzung" auf die Fragen behinderter Menschen notwendig. Es gibt aber eine große Schnittmenge: Nicht eine Altersgrenze ist für die Anwendbarkeit relevant, sondern die Funktionsbeeinträchtigung.
Aus dieser Perspektive ist die internationale statistische ICD-10-Klassifikation für Körperfunktion und für Aktivitäten und Partizipation der Weltgesundheitsorganisation hilfreich. Hilfe, die über die Anwendung technischer Produkte möglich ist, wird in Bezug auf die jeweils benannten Beeinträchtigungen recherchiert. Erst diese Analyse weitet den Blick auf die vielen Möglichkeiten, die sich aus der Anwendung von technischen Unterstützungslösungen ergeben können.
Neben der Einordnung nach den ICD-10-Klassifikationen können die Ausgangsfragen auch verschiedenen Lebensbereichen zugeordnet werden. In Anlehnung an die Darstellung "Anwendungsfelder altersgerechter Assistenzsysteme mit Produktbeispielen"1 hat Stift Tilbeck die Lebensbereiche "Gesundheit und Pflege", "Sicherheit und Privatsphäre", "Haushalt und Versorgung" sowie "Kommunikation und soziales Umfeld" als übergeordnete Felder definiert. Diese sind Bestandteil eines eigens entwickelten Kommunikationskonzeptes, mit dessen Hilfe Probleme analysiert werden. Über diesen Weg kommt man zu individuell sinnhaften Lösungen auch bei komplexen Problemlagen. Oberstes Ziel ist es, dem persönlichen Bedarf des einzelnen Menschen gerecht zu werden.
Im gegenseitigen Austausch
Das Kommunikationskonzept hat sich bewährt. Im Kern geht es darum, dass ausgehend von den Nöten und Fragen des behinderten Menschen und unter Einbeziehung der Menschen aus seinem sozialen Umfeld die Lösung erarbeitet wird, die im konkreten Fall hilft. Der Leiter der Projektstelle Technische Assistenz moderiert und begleitet diesen Prozess. Die tagtägliche Anwendung der erarbeiteten Lösung findet letztlich nur dann statt, wenn diese akzeptiert ist. Und das wird sie nur, wenn sie gemeinsam erarbeitet wurde.
Die wichtigste Erfahrung lautet, dass der Mitarbeiter der Projektstelle seinerseits auf einen breiten Wissens- und Erfahrungsschatz zurückgreifen können muss. Für ihn steht derzeit die Beratung zu technischen Produkten und Systemen im Vordergrund. Dieses Beratungsangebot ist in einem neuen Arbeitsfeld aufgegangen: der Tilbecker Assistenz.2 Sie richtet sich - und hier wurde die ursprüngliche Ausgangsidee erweitert - auch an die Bürger(innen) aus der Region. In den vergangenen Monaten wurden verschiedene individuelle Lösungen, immer gemeinsam mit den Betroffenen, erarbeitet.
Beispiel 1: Handy-Uhr mit GPS-Funktion
Ein junger Mann, im Rollstuhl sitzend, suchte ein mobiles Gerät, mit dessen Hilfe er in einer Notsituation seine Wohngruppe anrufen kann. Im Beratungsgespräch wurden verschiedene technische Möglichkeiten besprochen. Die Idee eines Notrufhandys wurde schnell verworfen, da er sein bereits vorhandenes Handy auch nicht immer bei sich trägt und somit die Gefahr des Vergessens des Notrufhandys groß war. Die passgenaue Lösung für ihn als Uhrenträger war eine Handy-Uhr mit GPS-Funktion. Mit dieser Uhr kann er jetzt per Knopfdruck eine Freisprechverbindung aufbauen und mit der Wohngruppe telefonieren.
Beispiel 2: Mitarbeiter-Alarmierungssystem
In einer Werkstattgruppe zeigt ein Beschäftigter starke Aggressionen und greift die Mitarbeiter(innen) körperlich an. Benötigt wurde daher ein schnelles und einfaches Alarmierungssystem, mit dessen Hilfe die Mitarbeitenden sich in einer Notlage gegenseitig alarmieren können. Die anfängliche Idee eines Hausnotrufgerätes wurde verworfen, da die Einwählzeit zu lange dauert, wie auch der Notruf nur per Telefon angenommen werden konnte. Die passende Lösung war ein Funkgong-System, welches bei Betätigen eines Funkarmbandes eine laute Melodie in mehreren Räumen abspielt, so dass alle Mitarbeiter(innen) in Echtzeit darüber informiert werden, dass eine Notsituation vorliegt. Über unterschiedliche Melodien kann auch der jeweilige Arbeitsraum, in dem der Notfall eintritt, erkennbar gemacht werden.
Gezielt eingesetzt wird auch ein System zur automatischen Sturzerkennung in dem Haus für ältere Mitbürger(innen). Diese Einrichtung arbeitet nach dem Konzept der sogenannten Nullfixierung. Freiheitsentziehende Maßnahmen werden nicht angewandt. Die Pflegefachkräfte und
die weiteren Hausverantwortlichen sind auf der Suche nach Möglichkeiten, den Bewohner(inne)n sichere Alternativen zur Verfügung zu stellen. Installiert wurde eine Unterstützungslösung, die Notfälle
in den Bewohnerzimmern automatisch erkennt und das Fachpersonal über das Mitarbeiter-Telefon zeitnah informiert. Dieses Schutzsystem mit dem Namen "my.night.nurse" besteht aus Raumsensoren, Bettsensoren und Türkontakten. Diese werden je nach gewünschten Anforderungen unterschiedlich zusammengefügt. Das System kommt nur dort zum Einsatz, wo ein aktueller Bedarf besteht, wo Bewohner(in) und Betreuer(in) dem zustimmen und alle Beteiligten sich durch den Einsatz mehr Sicherheit erhoffen. Stift Tilbeck legt großen Wert darauf, dass Bewohner(innen) und Angehörige selbst entscheiden können, ob sie dieses System nutzen möchten oder nicht. Dieser Standpunkt findet sich auch in den Ethischen Leitsätzen zum Themenfeld "Ambient Assisted Living" wieder.
Eine Musterwohnung zeigtInteressierten, wie es geht
Ein strategisches Ziel ist es, den Bürger(inne)n in der Region Ideen und Lösungen für ein barrierefreies Leben vorzustellen. Dazu wurde im Jahr 2014 in Kooperation mit einem ortsansässigen Möbelhaus eine 60-Quadratmeter-Musterwohnung in den dortigen Ausstellungsräumen eröffnet. Interessierte können diese Wohnung während der Öffnungszeiten eigenständig besichtigen und sich dort viele Anregungen holen. Bei Raumgestaltung und Ausstattung der Musterwohnung hatten Betroffene mitgewirkt, so dass viele alltagspraktische Ideen aufgenommen wurden. So werden unterschiedliche AAL-Produkte wie Herdsensor, ein Sensorsystem zur Sturzerkennung und ein Notruftelefon vorgestellt, Ideen für ein barrierefreies Bad gezeigt und spezielle Möbel für Wohnzimmer und Küche angeboten.
Anmerkungen
1. Fachinger, U.; Koch, H.; Braeske, G.; Merda, M.; Henke, K.-D.; Troppens, S.: Ökonomische Potenziale altersgerechter Assistenzsysteme. Ergebnisse der "Studie zu Ökonomischen Potenzialen und neuartigen Geschäftsmodellen im Bereich Altersgerechter Assistenzsysteme". Vechta, 2012. Abrufbar unter: www.mtidw.de ("Grundsatzfragen", "Begleitforschung", S. 5.)
2. Weitere Information sind auf der Homepage www.stift-tilbeck-gmbh.de unter der Rubrik "Tilbecker Assistenz" zu finden.
Mit der Technik gelingen Alltag und Teilhabe
Wegmarken für die Caritaszukunft und Konflikt im Arbeitsrecht
Sieben häufig gestellte Fragen zum neuen Caritaspanel
Vielfalt auf der Agenda
Hinterlassen Sie einen Kommentar zum Thema
Danke für Ihren Kommentar!
Ups...
Ein Fehler ist aufgetreten. Bitte laden Sie die Seite erneut und wiederholen Sie den Vorgang.
{{Reply.Name}} antwortet
{{Reply.Text}}