Mit der Technik gelingen Alltag und Teilhabe
Der Einsatz moderner Technologien wie Smartphones und Tablet-PCs zur Pflege sozialer Kontakte und zur Informationsbeschaffung ist heute selbstverständlich. Die Automatisierung des eigenen Heims oder intelligente Kühlschränke, die mitteilen, dass Milch und Käse nachgekauft werden müssen, sind bereits realisierte Konzepte - die technischen Fortschritte begleiten und unterstützen den Menschen zunehmend im Alltag. Der damit oft verbundene Begriff Ambient Assisted Living (AAL) ist in aller Munde, und die innovativen technischen Entwicklungen dazu sind rasant.
Im Modellprojekt "Ambient Assisted Living-Modelle zur Verbesserung der gesellschaftlichen Teilhabe von Menschen mit Behinderung" des Bundesverbandes Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie (CBP) wird versucht, solche AAL-Systeme in der Behindertenhilfe zu aktivieren und zu etablieren. Die Verwendung von modernen Technologien ist in diesem Bereich noch nicht allzu weit verbreitet. Dies kann unter anderem an unzureichenden Kenntnissen über bereits existierende Produkte, mangelnder technischer und digitaler Infrastruktur vor Ort oder an einer fehlenden Finanzierungsgrundlage liegen. Das AAL-Projekt strebt demnach eine Art Kulturwandel in der Behindertenhilfe an. Für Menschen mit Behinderung sollen Zugänge zu solchen Systemen geschaffen und technische sowie rechtliche Hürden abgebaut werden.
Die technischen Assistenzsysteme sollen dazu beitragen, die Selbstständigkeit und insbesondere die soziale Teilhabe von Menschen mit komplexen Behinderungen zu fördern. Der Schwerpunkt des Technologieeinsatzes richtet sich auf die alltagsrelevanten Lebensbereiche Kommunikation, Mobilität und Wohnen. In der Praxis werden unterschiedliche Technologien von etwa 100 Menschen mit Behinderung erprobt und auf ihre Wirksamkeit hin überprüft. Am Projekt beteiligen sich bundesweit 16 Einrichtungen und Dienste der Behindertenhilfe und Psychiatrie sowie eine Privatperson.
Selbstbestimmt und unabhängig
Ambient Assisted Living bedeutet wörtlich übersetzt "umgebungsunterstütztes Leben", meint aber auch selbstbestimmtes Leben durch innovative Assistenzsysteme. Menschen werden durch eine assistierende Technik im Alltag unterstützt. Dies soll zu einer unabhängigen Lebensführung beitragen (siehe dazu auch neue caritas Heft 1/2014, S. 23 ff.).
AAL umfasst Konzepte, Produkte und Dienstleistungen, die neue Technologien und soziales Umfeld miteinander verbinden und verbessern mit dem Ziel, die Lebensqualität für Menschen in allen Lebensabschnitten zu erhöhen.1 Ein wichtiges Merkmal besteht in der starken Orientierung an den individuellen Bedürfnissen des Nutzers. Generell soll sich das System dem Individuum anpassen und nicht umgekehrt. Deshalb ist es bei der Entwicklung von Assistenzsystemen unerlässlich, die Zielgruppe voll miteinzubeziehen. Im Fall von Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung hat die Technologiebranche dies bislang kaum realisiert. Dies liegt sicherlich an dem dafür notwendigen Einsatz an Kompetenzen und Ressourcen.
Die Geräte, die bei alltäglichen Lebenssituationen derzeit assistiv eingesetzt werden, sind meist moderne Informations- und Kommunikationstechnologien wie Smartphones, Tablet-PCs und Apps2 sowie Sensortechnologie, die sich von technischen Reha- und Hilfsmitteln abgrenzen.
Die Einsatzmöglichkeiten von AAL-Systemen sind vielfältig und verfolgen im Sinne einer Steigerung der Selbstständigkeit, sozialen Teilhabe und Lebensqualität mehrere Ziele. Sie sollen
- die Kommunikation vereinfachen und soziale Kontakte fördern;
- an Termine und Ereignisse erinnern;
- bei der Strukturierung und Gestaltung des Tagesablaufs unterstützen;
- die Mobilität durch Navigationshilfe steigern;
- das Sicherheitsgefühl durch Notrufsysteme erhöhen;
- im pflegerischen und medizinischen Bereich unterstützen und entlasten;
- den Alltag erleichtern.
Bei der Entwicklung von assistiven Technologien werden verschiedene Ansätze verfolgt. Zum einen werden die Systeme als sogenannte Lifestyle-Produkte eingesetzt. Sie sollen Energie sparen sowie Komfort und persönliche Sicherheit erhöhen. Zum anderen gibt es aber auch im Bereich der Pflege und Gesundheitsfürsorge Technologien, die explizit zur Unterstützung von Menschen mit Beeinträchtigungen verwendet werden. Folglich werden die technischen Möglichkeiten unterschiedlichen Anwendungsfeldern3 zugeordnet.
- Der Bereich der Gesundheit und Pflege umfasst zum Beispiel Telemonitoring.?Es können Vitalmesswerte erfasst und an das medizinische Personal übertragen werden. Zudem wird an die Medikamenteneinnahme erinnert. Darüber hinaus sind Hausnotruf und Aktivitätscheck sowie elektronische Patientenakten hier enthalten.
- Sicherheit und Privatsphäre werden unter anderem durch die Vernetzung von Rauch- und Gasmeldern, An- und Abwesenheitssimulation mit zentraler Steuerung für Rollläden und Licht, Heizung, Warmwasser und Lüftung sowie einer videogestützten Gegensprechanlage gewährleistet. Sensoren tragen zur Sturzprävention bei.
- Im Bereich Haushalt und Versorgung lässt sich eine Hausautomatisierung unter dem Stichwort "Smart Home" zusammenfassen. Dies meint die Integration von Technologie und Diensten in der häuslichen Umgebung mit dem Ziel, die Sicherheit, den Komfort, die Kommunikation und die Energieeinsparung zu verbessern. Zu diesem Bereich zählten außerdem die Vernetzung von Haushaltsgeräten und Unterhaltungselektronik, der intelligente Kühlschrank und die Robotik4.
- Im Anwendungsfeld Kommunikation, das das soziale Umfeld einschließt, steigern soziale Netzwerke den Austausch mit anderen, die Freizeitgestaltung und Mobilität. Diese Kommunikationsplattformen dienen dabei als digitales "Schwarzes Brett". Über verschiedene Systeme können Dienstleistungen angeboten und in Anspruch genommen werden. Video-Bildtelefonie mit Angehörigen, Vernetzung mit Verwandten, mit Mitarbeitenden des Gesundheitssystems und der Kommune erleichtern die Kommunikation.
Herausforderungen und Chancen für die Nutzer
Für Menschen mit Behinderung kann die technische Hilfe eine Neuausgestaltung der Wohn- und Lebensformen sowie der Versorgungs- und Betreuungsstrukturen bedeuten. Darüber hinaus kann sie eine Chance für ein Mehr an Privatsphäre und für die Entfaltung von Intimität sein. Schließlich können vorhandene Fähigkeiten gestärkt werden. Der innovative Einsatz von Technik ist ein möglicher
Weg, vorhandene Abhängigkeitsverhältnisse in einzelnen Lebensbereichen weitestgehend aufzulösen und somit den Paradigmenwechsel von der Fürsorge zur Selbstbestimmung der behinderten Menschen zu fördern.5 Zur Umsetzung dieser Potenziale bedarf es jedoch mehr als des bloßen Einsatzes von technischen Systemen. Damit Menschen mit Behinderung gesellschaftliche Teilhabe erlangen, muss auch das soziale Umfeld eingebunden sein.
Den Vorteilen und Chancen von AAL-Technologien stehen aber auch noch einige Herausforderungen gegenüber. Bei Menschen mit starken Beeinträchtigungen besteht größtenteils kein selbstverständlicher Umgang mit neuen Technologien. Das liegt unter anderem am oftmals eingeschränkten Zugang zur digitalen und technisierten Welt und an möglichen Problemen in der Handhabung von Geräten und Anwendungen. Darüber hinaus liegt ein großes Problem in der Refinanzierung der AAL-Systeme, die, anders als bei den bestehenden Hilfsmitteln, bisher nicht von den Leistungsträgern übernommen wird. Zudem bestehen offene Fragen hinsichtlich des Datenschutzes und der Haftung. Da der Technologieeinsatz überwiegend an Datenerhebung, -austausch und -speicherung geknüpft ist, müssen Prinzipien der Datensparsamkeit sowie der Datenvermeidung geltend gemacht werden. Bislang lassen sich rechtliche Probleme nur dadurch lösen, dass eine Einverständniserklärung beziehungsweise Einwilligung nach umfassender Aufklärung des potenziellen Nutzers eingeholt wird.
Mit dem Einsatz assistiver Technologien gehen auch ethische Fragestellungen einher, die einer kritischen Auseinandersetzung bedürfen. Die Technik darf den Menschen weder überwachen noch kontrollieren. Es ist darauf zu achten, dass die Nutzung die Betroffenen nicht überfordert. Mögliche negative Konsequenzen wie Stigmatisierung, Isolation und Vereinsamung sind zu vermeiden.
Während in der Altenhilfe diverse AAL-Systeme bereits eingesetzt werden und Technologien für Senior(inn)en zur Steigerung der Lebensqualität und Verlängerung im Sinne der Gesundheitskontrolle und Pflegeassistenz ihre Anwendung finden, muss der alltägliche Technikeinsatz in der Behindertenhilfe noch vorangetrieben werden. Dabei können technische Assistenzsysteme schon im Kindesalter angewandt werden. Damit wäre eine Nutzung von Menschen mit Behinderung nicht nur auf einen Lebensabschnitt beschränkt. Im Folgenden werden drei Systeme vorgestellt, die unabhängig vom Alter unterstützend zu einer Verbesserung der Lebenssituation in den Bereichen Kommunikation, Mobilität und Wohnen beitragen können.
Das System "PAUL"
Die Förderung sozialer Kontakte mittels technischer Assistenzsysteme steht im Mittelpunkt bei den Entwicklungen zu AAL. Dazu ist es erforderlich, das soziale Umfeld beziehungsweise den Sozialraum miteinzubeziehen. Das System "PAUL" (Persönlicher Assistent für Unterstütztes Leben) bietet dafür eine multifunktionale technische Lösung für unterschiedliche Bedürfnisse an. Kommunikation soll durch Technik vereinfacht werden, indem soziale Netzwerke, Videobild-Telefonie und digitale "Schwarze Bretter" über moderne Geräte wie Tablet-PCs und Monitore genutzt werden. In Kooperation mit einem lokalen Supermarkt können die Nutzer(innen) einkaufen. Die Waren werden an den Dienstleistungsanbieter übermittelt und von diesem zum Kunden nach Hause geliefert.
Armwatch passt auf
Durch einen Mobilitätsassistenten, einen am Handgelenk tragbaren Minicomputer in Form einer Armbanduhr, soll die sichere Fortbewegung gefördert werden. Das Gerät zeigt dem Nutzer nicht nur das Datum und die Uhrzeit an, sondern bietet weitere Funktionen wie zum Beispiel Erinnerung an Termine und Ereignisse, Unterstützung in der Navigation oder auch das Absenden eines Notrufs. Es ist sogar eine Kontaktaufnahme zu mehreren Vertrauenspersonen möglich, deren Rufnummern in der Anwendung hinterlegt sind. Die technische Unterstützung als Orientierungs- und Navigationshilfe zu Orten erweitert nicht nur den eigenen Aktionsradius, sondern trägt auch zur mobilen Sicherheit bei.
Vergissmeinnicht
Sensoren in der Wohnung kommunizieren mit einer App auf dem Smartphone und erkennen je nach vorher definierten Einstellungen Aktivität beziehungsweise Nicht-Aktivität. Bei Abweichung wird ein Alarmsignal an die Angehörigen, den/die Betreuer(in) oder einen sozialen Dienst gesendet. Im Bereich der Behindertenhilfe können solche Systeme dazu beitragen, freiheitsentziehende Maßnahmen abzuschaffen. Die Menschen erhalten dadurch mehr Lebensqualität, indem Türen nicht mehr verschlossen bleiben müssen. Parallel dazu erhält das Betreuungspersonal die Sicherheit, in kritischen Situationen rechtzeitig informiert zu werden.
CBP berät Unternehmen und Menschen mit Behinderung
AAL ist nicht nur für den Senioren- und Gesundheitsbereich ein neues Paradigma im digitalen Zeitalter, sondern muss dies auch im Feld der Behindertenhilfe sein. Menschen mit Behinderung haben die gleichen Rechte wie alle Menschen und dürfen nicht von den technischen Chancen ausgeschlossen werden. Der Fachverband Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie bietet sich als Partner an, um Technologieunternehmen in Bezug auf die Anforderungen und Bedarfe von Menschen mit Behinderung zu beraten. Er unterstützt Menschen mit Behinderung, ihre Wünsche auf assistive Hilfen selbstbestimmt zu vertreten.
Anmerkungen
1. Bundesministerium für Bildung und Forschung: AAL. Altersgerechte Assistenzsysteme für ein gesundes und unabhängiges Leben. Ambient Assisted Living. Berlin, 2008. Abrufbar unter:www.portal-21.de/wp-content/uploads/2013/12/AAL-Faltblatt-2009.pdf
2. Eine App (Applikation) ist eine Software, die auf Smartphones, Tablet-PCs und anderen mobilen Geräten heruntergeladen und genutzt werden kann.
3. Fachinger, U.; Koch, H.; Braeske, G.; Merda, M.; Henke, K.-D.; Troppens, S.: Ökonomische Potenziale altersgerechter Assistenzsysteme. Ergebnisse der "Studie zu Ökonomischen Potenzialen und neuartigen Geschäftsmodellen im Bereich Altersgerechter Assistenzsysteme". Vechta, 2012. Abrufbar unter: www.mtidw.de ("Grundsatzfragen", "Begleitforschung", S. 6.)
4. Unter Robotik-Technologien lassen sich Servicerobotik wie zum Beispiel Staubsauger- und Rasenmäherroboter sowie Roboter mit sozio-emotionalen Funktionen, zum Beispiel für therapeutische Zwecke, zusammenfassen.
5. Vgl. Driller, E.; Karbach, U.; Stemmer, P.; Gaden, U.; Pfaff, H.; Schulz-Nieswandt, F.: Ambient Assisted Living. Technische Assistenz für Menschen mit Behinderung: Stand von Forschung und Innovation. Freiburg: Lambertus, 2009, S. 22.
Literatur
Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie e.V.: Technik hilft im Alltag! 2015. Abrufbar unter: www.cbp.caritas.de/90708.asp
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