Für eine flächendeckende Sozialplanung
Unter dem Schlagwort demografischer Wandel zusammengefasste Entwicklungen, oftmals mit den Attributen "voraussichtlich" und "zukünftig" versehen2, sind in Thüringen seit Jahren Realität. Dies hängt auch mit den Folgen der Wiedervereinigung zusammen. Die enormen (Ab-)Wanderungsbewegungen setzten Thüringen neben der generellen Alterung der Bevölkerung zusätzlich unter Druck. Auch wenn vor kurzem erstmals seit vielen Jahren wieder ein positiver Wanderungssaldo erreicht wurde, hinterlassen die rund 200.000 Menschen, die seit 1990 Thüringen den Rücken gekehrt haben, große Lücken. Die Folgen sind in gesellschaftlicher wie sozialer Hinsicht mit Blick auf ein funktionierendes Gemeinwesen gerade in ländlichen Räumen dramatisch. Während einige Städte entlang der Autobahn A4 selbst im Vergleich zu 1990 an Bevölkerung zugenommen haben3, verloren einige Landkreise bis 2013 zwischen 20 und 30 Prozent der Bevölkerung. Übertroffen wird diese Entwicklung einzig von der kreisfreien Stadt Suhl. Sie büßte seit 1990 mehr als ein Drittel ihrer Bevölkerung ein. Bis 2030, so die aktuellen Prognosen des Thüringer Landesamtes für Statistik, wird der Freistaat um weitere 300.000 Menschen schrumpfen. Dies entspricht einem knappen Sechstel der aktuellen Bevölkerungszahl (siehe Abb.).
Neben den Wanderungsbewegungen ist Thüringen sehr von strukturellen Veränderungen in der Bevölkerung betroffen. Zurückzuführen ist dies unter anderem auf den massiven Geburtenrückgang Anfang der 1990er Jahre sowie die anhaltend niedrige Geburtenrate. Im Ergebnis sank der Anteil der unter 18-Jährigen seit 1990 von gut einem Fünftel auf nur noch rund 14 Prozent. Spiegelbildlich dazu verdoppelte sich der Anteil der über 65-Jährigen nahezu auf knapp ein Viertel der Bevölkerung.
Vor diesem Hintergrund haben die in der Liga Thüringen organisierten Verbände, so auch die Caritasverbände für das Bistum Erfurt und für Ostthüringen, um die Jahrtausendwende begonnen, sich verstärkt mit den Konsequenzen des demografischen Wandels und den parallel dazu enger werdenden finanziellen Spielräumen auseinanderzusetzen.5 Die demografischen und sozialen Strukturen ändern sich nicht von heute auf morgen. Insofern galt es, diese Entwicklungen frühzeitig zu analysieren, um langfristige Handlungsansätze zu entwickeln. Dies setzte auch innerhalb der Verbände ein neues Denken und die Bereitschaft zu einem aktiven politischen Vorgehen voraus.
Immer drängender stellten sich Fragen, wie beispielsweise freien Trägern unter den skizzierten Bedingungen das notwendige Maß an Planungssicherheit gewährleistet werden kann. Welche Instrumente sind zu schaffen, um weiterhin insbesondere im ländlichen Raum eine bedarfsgerechte soziale Infrastruktur aufrechtzuerhalten? Wie bezieht man die Menschen als Expert(inn)en in eigener Sache ein? Wie kann man beispielsweise Kitas im ländlichen Raum zu zentralen sozialen Begegnungsstätten weiterentwickeln? Und die Gretchenfrage: Wie schaffen es die Liga-Verbände, all die skizzierten Fragen in partizipativen, ergebnisoffenen Prozessen gemeinsam mit der öffentlichen Seite zu bearbeiten und an diesen Prozessen adäquat beteiligt zu werden?
Vielfach mangele es nicht an Wissen ob der Notwendigkeit von Veränderungen, so die Analyse zum damaligen Zeitpunkt.6 Vielmehr herrsche ein eklatanter Mangel an Fähigkeiten, solche Prozesse zu organisieren und umzusetzen. Eine im Auftrag der Liga Thüringen von 2010 bis 2012 erstellte Machbarkeitsstudie lieferte wichtige Ansätze. Sie war auch ein Meilenstein auf dem Weg, die Landespolitik für die Ideen der Liga einzunehmen.7
Als eine zentrale Zukunftsstrategie entwickelten die Liga-Verbände die Vision einer integrierten, partizipativen, bedarfsgerechten und ergebnisoffenen Planung der sozialen Infrastruktur mit strategischer Ausrichtung. Mittels dieser flächendeckenden und politisch verantworteten Planung in Kommunen und Landkreisen sollte den Herausforderungen künftig besser begegnet und insbesondere die Beteiligung aller relevanten Akteure bei der Suche nach Lösungen sichergestellt werden.
Heute lässt sich feststellen: die Liga Thüringen ist mit ihren Bemühungen noch nicht am Ziel, aber doch ein gutes Stück vorangekommen. Dies ist nicht zuletzt auf das hartnäckige Werben der Liga-Verbände gegenüber der Landespolitik zurückzuführen.
In Thüringen beginnt die Sozialplanung
Die Basis der 2015 begonnenen Sozialplanung bildet ein aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds finanziertes Programm ("Armutspräventionsrichtlinie")8 unter Federführung des Thüringer Sozialministeriums. Alle 23 Thüringer Landkreise und kreisfreien Städte haben die Möglichkeit, für zunächst drei Jahre eine Förderung für Planungskoordinator(inn)en, also Sozialplanungsfachkräfte, zu beantragen. Ein Institut begleitet die kommunalen Planer(inn)en wissenschaftlich und qualifiziert sie. Auch die Liga Thüringen profitiert vom Förderprogramm. Seit Anfang 2015 werden im Kompetenzzentrum der Liga zwei Personalstellen anteilig gefördert, um die Träger und Einrichtungen in den Sozialplanungsprozessen vor Ort sowie bei Fragen der Angebotsentwicklung und strategischen Ausrichtung zu unterstützen.
Das Programm soll ermöglichen, Angebote vor Ort besser zu koordinieren und abzustimmen (Sozialplanung). Ziel ist, die Kompetenz lokaler Akteure im Bereich der Armutsprävention zu verbessern. Darüber hinaus wurden zunächst auf Kreisebene grundlegende Sozialdaten zusammengestellt. Diese stehen kostenfrei und allgemein zugänglich zur Verfügung, um auf dieser Basis planen zu können.9
Ansätze für die Kampagne der Caritas
Der Deutsche Caritasverband setzt sich in seiner Kampagne "Stadt, Land, Zukunft" mit ähnlichen Fragestellungen auseinander. Das zugehörige Impulspapier stellt neben inhaltlichen Forderungen insbesondere auf zentrale prozessuale Voraussetzungen ab. Betont werden die Notwendigkeit eines ergebnisoffenen Suchprozesses und insbesondere die Beteiligung der Menschen vor Ort: "Es muss den Menschen vor Ort seitens der staatlichen Akteure die Möglichkeit eröffnet werden, sich zu beteiligen und den Wandlungsprozess zu gestalten." Einer Analyse vorhandener Angebote folgend müssten Dienstleistungen flexibler angeboten, neu gedacht und miteinander verknüpft werden - eindeutig Ansätze von Sozialplanung.
Ausblick auf die Thüringer Situation
In Thüringen wurden mit der Sozialplanung erste Schritte eingeleitet. Die geschaffenen Strukturen müssen nun mit Leben gefüllt und die hohen Erwartungen an das Instrument Sozialplanung erfüllt werden.
Ohne Wasser in den Wein gießen zu wollen: Sozialplanung verändert weder die Rahmenbedingungen noch vereinfacht sie die Ausgangslage. Auch kann am Ende eines Sozialplanungsprozesses das Ergebnis stehen, dass einzelne Angebote nicht mehr bedarfsgerecht sind. Und das gilt es im Sinne einer transparenten Herangehensweise von Beginn an anzusprechen. Jedoch bietet die Sozialplanung Möglichkeiten, mit allen Beteiligten die soziale Daseinsvorsorge so zu entwickeln, dass sie auch im Jahr 2030 lebenswerte Sozialräume bereithält. Freie Träger, so auch die Einrichtungen der Caritas, sind neben ihrer Funktion als klassischer Dienstleister auch als Anwälte und Stimme der Klient(inn)en ebenso wie als Solidaritätsstifter für ein gemeinschaftliches Miteinander gefragt. Die Beteiligten benötigen einen langen Atem, Ressourcen, Kompetenzen und die Fähigkeit, Kompromisse einzugehen. Das setzt auch bei freien Trägern ein Umdenken hin zu einem aktiven und politischen Rollenverständnis voraus.
Werben für Planungsverständnis
Derzeit gilt es für die Liga Thüringen, auf allen Ebenen für ihr Planungsverständnis zu werben und die Prozesse wie skizziert aufzusetzen. Selbstverständlich ist Sozialplanung primär eine Aufgabe der öffentlichen Hand. Jedoch muss klar sein, dass sie nur erfolgreich umgesetzt werden kann, wenn sie auf breiter gesellschaftlicher Akzeptanz beruht und die Betroffenen sowie die Einrichtungen und Dienste einbezogen sind. Insofern müssen alle Beteiligten stets an die aus unserer Sicht zentralen Erfolgsfaktoren der Prozesse erinnert werden: Sie sind integriert, partizipativ, ergebnisoffen, bedarfsgerecht und unter Beteiligung der Klient(inn)en aufzusetzen. Auf dem Weg zu diesem Verständnis sind sowohl auf Landesebene wie auch in den Kommunen dicke Bretter zu bohren. Dennoch überwiegen die Chancen. Es gilt die erfreulichen Entwicklungen zu nutzen, mit Leben zu füllen und sich in die Prozesse vor Ort einzubringen.
Anmerkungen
1. Als freiwilliger Zusammenschluss der sechs Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege in Thüringen koordiniert und fördert die Liga Thüringen deren Zusammenarbeit und vertritt gegenüber der Landespolitik ihre Interessen.
2. Beispielsweise im Impulspapier des Deutschen Caritasverbandes "Zukunft auf dem Land". In: neue caritas Heft 22/2014, S.40 ff.
3. Gemeint sind damit die prosperierenden Städte Erfurt, Weimar und Jena.
4. Die Zahlen stammen vom Thüringer Landesamt für Statistik und sind in weiten Teilen abrufbar unter: www.statistik.thueringen.de/datenbank/tabauswahl.asp?auswahl=121&BEvas3=start Die Zahlen für 2030 beruhen auf den Ergebnissen der 12. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung.
5. Auch hierbei spielt die Rolle Thüringens als "neues" Bundesland eine wichtige Rolle. So wirken sich neben den zwangsläufig niedrigeren Zuwendungen aufgrund des Bevölkerungsrückgangs die Mittelrückgänge aus dem 2019 auslaufenden Solidarpakt II sowie den EU-Förderprogrammen aus. Die 2020 verbindlich einsetzende Schuldenbremse setzt weitere Grenzen.
6. So beschreibt auch das Impulspapier des DCV "Zukunft auf dem Land" zutreffend die Prozesse der Peripherisierung.
7. Die Liga-Machbarkeitsstudie ist abrufbar unter: www.liga-thueringen.de/index.php/liga-machbarkeitsstudie
8. Die Richtlinie und weiterführende Informationen stehen unter: www.liga-thueringen.de/index.php/koss
9. Der Thüringer-Online-Sozialstrukturatlas: https://statistikportal.thueringen.de/thonsa/SSDstart.php
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