Sind die Angebote der Caritas bekannt und erreichbar?
Studien zeigen, dass die Vermögens- und Einkommensungleichheit in Deutschland in den letzten Jahren zugenommen hat.1 Das Risiko, in Armut zu geraten, ist ungleich verteilt.2 Im Zusammenhang mit dem Thema Armut ist eine Diskussion in Gang gekommen, die um Begriffe wie Prekariat, prekäre Lebenslagen und neue Unterschicht kreist.
Die Kernbotschaft lautet: Menschen in prekären Lebenslagen sind von sozialer Ausgrenzung bedroht. Exklusion, basierend auf Einkommensarmut, wirkt dabei nicht nur in Richtung eines Ausschlusses von sozialer Teilhabe in Beruf oder Freizeit. Sie kann sich auch auf jene Angebote erstrecken, die dazu dienen sollen, die Exklusion oder deren Folgen zu beseitigen. Wer kein Geld für eine Fahrkarte hat, dem nutzt eine Schuldnerberatungsstelle am anderen Ende der Stadt wenig!
Dies führt unter Umständen dazu, dass potenzielle Nutzer sozialer Angebote diese nicht in Anspruch nehmen (können). Das Projekt ZAC (Zugangswege zu den Angeboten der Caritas) geht solchen Fragen seit Januar 2008 nach. Durchgeführt wurde das Projekt in der Region Bonn/Rhein-Sieg-Kreis unter Beteiligung der Caritas und den Fachverbänden Sozialdienst katholischer Frauen (SkF) und dem SKM - Katholischer Verband für soziale Dienste in Deutschland. Die praktische Phase des Projekts wurde im Dezember 2010 abgeschlossen. Einbezogen waren die Bereiche Allgemeine Sozialberatung, Ambulante Pflege, Suchthilfe, Erziehungsberatung, Ambulante erzieherische Hilfen.
Wie können Zugangswege verbessert werden?
An welchen Stellen können und müssen caritative Dienste die Zugangswege zu ihren Angeboten verbessern? Um diese Frage beantworten zu können, muss zunächst der Ist-Zustand überprüft und kritisch hinterfragt werden.
- Die Caritas ist Anwalt für die Armen und nimmt anwaltschaftliche Funktionen wahr. Um diese Funktion einlösen zu können, müssen die Angebote so ausgestaltet sein, dass sie bekannt sind und erreicht werden können.
- Inwieweit sind die Angebote noch zeitgemäß?
- Neben den Anforderungen von Finanzierungsträgern und Aufsichtsbehörden ist das Sozialwesen durch einen verschärften Wettbewerb zwischen den Einrichtungen begleitet. Wollen soziale Einrichtungen auch künftig erfolgreich am Markt bestehen und gleichzeitig die Qualität der Angebote weiter erhöhen, so ist die Beschäftigung mit der Verbesserung von Zugangswegen ein unverzichtbares Element der Angebotsentwicklung.
Um Maßnahmen zur Verbesserung von Zugangswegen erarbeiten zu können, ist eine empirische Analyse unverzichtbar. Die Datenerhebungen und -analysen im Projekt umfassten eine Strukturdatenanalyse sowie Zielgruppenbefragungen.
Strukturdaten- und Potenzialanalyse schaffen Klarheit
Auf der Basis von amtlichen Daten sowie vorhandener Studien wurde ermittelt, welche Rolle prekäre Lebenslagen in der Region spielen. Indikatoren dafür sind beispielsweise Daten zur Arbeitslosigkeit, Grundsicherung, zum Armutsrisiko, zu Löhnen und Einkommen. Im Anschluss wurden Daten erhoben, die sich auf ausgewählte Hilfebereiche bezogen, wie Hilfen zur Erziehung und Jugendgerichtshilfe.
Neben Organisationsdaten der beteiligten Einrichtungen (Standort, Zahl der Mitarbeitenden, Öffnungszeiten…) wurde eine Erhebung der Zugangswege von aktuellen Nutzern durchgeführt. Mit diesen Daten konnten die Nutzerstruktur sowie die genutzten Zugangsarten ermittelt werden. Durch eine Verknüpfung der Erkenntnisse wurde deutlich, ob der Standort von Angeboten mit dem beobachteten sozioökonomischen Problemdruck in einzelnen Gemeinden der Modellregion korrespondierte.
Die Konkurrenzanalyse gab Aufschluss darüber, wie viele Anbieter am Markt operieren und wo deren Standorte sind.
Die Nichtinanspruchnahme von Angeboten hängt nicht nur von objektiven Faktoren wie der Verfügbarkeit von Information ab, sondern auch von individuellen Ressourcen der potenziellen Nachfrager. Um Informationen sowohl über objektives Faktenwissen als auch über subjektives Erleben zu erhalten, bieten sich Zielgruppenbefragungen an. Es wurden neben den Nutzer(inne)n aber auch Mitarbeiter(innen) und Kooperationspartner befragt. Die Verknüpfung der unterschiedlichen Perspektiven brachte einen größeren Erkenntnisgewinn.
Auf der Basis von teilstandardisierten Leitfadeninterviews wurden etwas über hundert Gespräche mit aktuellen, ehemaligen und potenziellen Nutzern geführt. Des Weiteren haben sich knapp 140 Mitarbeiter(innen) der ausgewählten Dienste sowie 24 Kooperationspartner an einer schriftlichen Befragung beteiligt.
Kinderreiche Familien sind von Armut bedroht
nMit einer Armutsrisikoquote von circa zwölf Prozent weist die Region im Jahr 2007 zwar einen niedrigeren Wert aus als der nordrhein-westfälische Landesvergleich (14,6 Prozent)3, doch es wird deutlich, dass es auch in der vergleichsweise wohlhabenden Modellregion Bonn/ Rhein-Sieg-Kreis Armut und Notlagen gibt. Die Daten aus dem Rhein-Sieg-Kreis zeigen bekannte Fakten aus der sozialwissenschaftlichen Forschung: Besonders Kinder- und Jugendliche unter 18 Jahren sowie Haushalte mit drei und mehr Kindern sind von Armut bedroht. Für Personen unter 18 Jahren beläuft sich die Armutsrisikoquote im Jahr 2007 auf 18 Prozent und für Haushalte mit drei oder mehr Kindern auf circa 36 Prozent und ist damit mehr als dreimal so hoch wie der Kreisdurchschnitt.4
- Die konkreten Leistungen der Caritas sind im Vorfeld der Nutzung nur bedingt bekannt. Zwar ist der Begriff "Caritas" vielfach bekannt, nicht jedoch die Breite des Angebots.
- Nur selten wird bei den Nutzern der Dienste eine explizite "Caritaspräferenz" vor der Nutzung erkennbar. Wenn es jedoch zu einer Nutzung kommt, dann ist die Zufriedenheit überwiegend hoch und eine Bereitschaft zur Weiterempfehlung gegeben.
- Besonders die Nutzer der Allgemeinen Sozialberatung leben in prekären Lebenslagen. Das Einzugsgebiet der Dienste ist in der großen Mehrheit klein. In den Gemeinden des Rhein-Sieg-Kreises fehlen Beratungsangebote anderer (nicht kommunaler) Anbieter. Diese Erkenntnis wiegt schwer, da bis dato gerade in den Gemeinden des Rhein-Sieg-Kreises, wo ein besonderer Bedarf vermutet werden kann, Beratungsangebote anderer (nichtkommunaler) Anbieter fehlen.
- Es findet eine Vernetzung der einzelnen Arbeitsfelder untereinander statt. So können die Nutzer bei Bedarf an eine andere Einrichtung übergeleitet werden. Dies ist ein Ansatzpunkt zur Überwindung von Zugangsbarrieren zu den "passenden" Diensten. Er ist aber ausbaufähig.
In der Projektgruppe wurden sämtliche Daten und Ergebnisse bewertet und in der Folge auf fünf Dimensionen zentraler Veränderungs- und Handlungsbedarfe verdichtet:
- Angebot,
- Mitarbeiter(innen),
- Struktur und Prozess,
- Finanzierung,
- Kommunikation und PR.
Im Projekt wurden Schwerpunkte gesetzt und Arbeitspakete erarbeitet.
Das Angebot, die Mitarbeiter, die Struktur
Zentrale Fragen, um ein Konzept für dezentrale Angebote zu entwickeln, lauten: Wie können Menschen in Regionen erreicht werden, in denen kein Angebot vorgehalten, aber ein hoher Bedarf vermutet wird?
Wer sind die potenziellen und relevanten Kooperationspartner vor Ort? Hierüber müssen die Mitarbeiter Bescheid wissen, die Datenlage muss verbessert werden.
Welche verbandsinternen und externen Schnittstellen gibt es? Wie kann gewährleistet werden, dass die Mitarbeiter(innen) die Breite der verbandlichen Angebote kennen und mit Blick auf die für die Nutzer passenden Leistungen ausschöpfen?
Das Projekt ZAC bot auch Raum, um von einer Metaebene aus die eigene Arbeit in einem größeren Sozialraum empirisch zu analysieren und zu reflektieren. Eine solche Metareflexion der eigenen Arbeit ist hilfreich und unverzichtbar, um die Angebotsentwicklung vor Ort sowohl aus Sicht der sozialen Organisation als auch der Nutzer zukunftsfähig zu machen.
Die durch empirische Erkenntnisse gestützte Diskussion führte zu einer bereichsübergreifenden Sensibilisierung für Probleme von Menschen in prekären Lebenslagen sowie für Chancen und Grenzen von Sozialraumanalysen. Unabhängig von konkreten Maßnahmen wurde so bereits ein Beitrag für die künftige Angebotsentwicklung geleistet.
Die Analyse hat sich gelohnt
Ein Großteil der Ergebnisse ist auch für andere verbandliche Aufgaben nutzbar. Zu nennen sind dabei die kommunale und regionale Lobby- und Gremienarbeit, die verbandliche Strategieentwicklung sowie die Unterstützung anderer Projekte.
Das Ziel von ZAC war es nicht, Patentlösungen für die Verbesserung von Zugangswegen zu caritativen Angeboten zu erarbeiten, die für jede Einrichtung der Caritas gleichermaßen gelten. Aufgrund regionaler Gegebenheiten weichen die konkreten Problemlagen voneinander ab, Lösungen müssen vor Ort gefunden werden. Gleichwohl können Hilfestellungen für Analyse und Verbesserung von Zugangswegen gegeben werden. Im Sommer 2011 soll ein umfassender Projektbericht publiziert werden. Eine (Zwischen-)
Bilanz nach zwei Jahren ZAC zeigt:
- Die Analyse von Zugangswegen und -hindernissen lohnt sich. Auch gut aufgestellte Anbieter sozialer Dienste können damit Verbesserungspotenziale erschließen und praktische Anregungen erhalten.
- Besonders hervorzuheben ist der Nutzen der Strukturdatenanalyse. Mit dieser können mit vergleichsweise wenig Aufwand fundierte und praxisrelevante Erkenntnisse gewonnen werden.
- Die Analyse von Zugangswegen kann prinzipiell auch auf "eigene Faust" erfolgen. ZAC hat jedoch gezeigt, dass es fruchtbarer ist, wenn sich mehrere Träger einer Region zusammenschließen und "gemeinsam nachdenken".
Anmerkungen
1. Vgl. Grabka, Markus; Frick, Joachim R.: Arm wird ärmer, reich bleibt reich, und die Mitte schrumpft. In: neue caritas Heft 19/2009, S. 9-15.
2. Geißler, Rainer: Die Sozialstruktur Deutschlands. Bonn, 2009, S. 252 ff.
3. Vgl. Martens, Rudolf: Unter unseren Verhältnissen. Der erste Armutsatlas für Regionen in Deutschland. Der Paritätische Gesamtverband (Hrsg.), Berlin, 2009, S. 22 f.
4. Vgl. Rinklake, Thomas; Löwenhaupt, Stefan: Familien im Rhein-Sieg-Kreis. Siegburg, 2009. Arbeiterwohlfahrt Kreisverband Bonn/Rhein-Sieg e.V., Caritasverband Rhein-Sieg e.V., Diakonisches Werk des Kirchenkreises An Sieg und Rhein, Der Paritätische Kreisgruppe Rhein-Sieg-Kreis (Hrsg.), S. 60.