Gewinnbringer Ehrenamt
Wir leben in turbulenten Zeiten. Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat uns auf bisher unvorstellbare Weise deutlich gemacht, wie anfällig unser Gesellschaftssystem ist und wozu der Turbokapitalismus mit seiner grenzenlosen Gier und seinem Egoismus führen kann. Nachdem die Staaten und damit deren Bürger die Zocker in den „systemrelevanten“ Banken mit kaum fassbaren Milliardenbeträgen gerettet haben, scheint das Casino wieder eröffnet zu sein. Schon werden wieder Renditen von bis zu 25 Prozent versprochen. Neben diesen allgegenwärtigen Wirtschaftsthemen gibt es aber noch eine andere, stillere und somit weniger beachtete Wirklichkeit. 36 Prozent der ab 14-Jährigen engagieren sich in Deutschland ehrenamtlich. Das sind mehr als 23,4 Millionen Menschen.1 Sie übernehmen vielfältige Funktionen zum Beispiel in Hilfsorganisationen, Sportvereinen, Kirchen und Sozialverbänden, im Umwelt- und Naturschutz, in Menschenrechtsgruppen oder in den Stadt- und Gemeinderäten. Angesichts dieser Zahl hat ehrenamtliches beziehungsweise freiwilliges Engagement auch eine erhebliche wirtschaftliche Bedeutung.
Quantitative und qualitative Erhebung
Wie groß ist die „Rendite“ des bürgerschaftlichen Engagements (bE), wie lässt sie sich messen? Dieser Frage ging im Jahr 2008 die Katholische Stiftungsfachhochschule München im Auftrag des bayerischen Staatsministeriums für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen nach. Sie erstellte ein Gutachten2 zum Wert des bürgerschaftlichen Engagements in Bayern. Ziel dieses Gutachtens war es, bürgerschaftliches Engagement möglichst ganzheitlich zu bewerten, das heißt einerseits den unmittelbaren ökonomischen, also monetär quantifizierbaren Nutzen des bürgerschaftlichen Engagements zu ermitteln und andererseits die monetär nicht eindeutig quantifizierbaren mittelbaren sozialen Wirkungen zu untersuchen. Die Untersuchungsregionen waren der Landkreis Cham – exemplarisch für einen Flächenlandkreis – sowie die kreisfreie Stadt Würzburg, exemplarisch für eine Stadt. Der Wert des bürgerschaftlichen Engagements wurde anhand der folgenden Methoden ermittelt:
Kosten-Nutzen-Analyse
Die Kosten-Nutzen-Analyse ist eine
Weiterentwicklung der traditionellen Wirtschaftlichkeitsrechnung. Der entscheidende Unterschied zwischen beiden Methoden besteht darin, dass die Kosten-Nutzen-Analyse auch mittelbare, sogenannte externe Effekte und qualitative Folgen (wie zum Beispiel Gesundheitsschäden) erfasst. Wirtschaftlichkeit ist dann gegeben, wenn eine Verbesserung gegenüber dem Anfangszustand erwirkt wird und der Nutzen die Kosten übersteigt.
Nutzwertanalyse
Die Nutzwertanalyse ist als Verfahren besonders zur Evaluation der bürgerschaftlich erbrachten Werte geeignet und kann so zur Unterstützung von politi-schen Entscheidungen und Weichenstellungen beitragen. Sie erfasst den Nutzen, der nicht in monetären Größen bestimmbar ist, und ergänzt damit traditionelle Methoden der Wirtschaftlichkeitsanalyse. Teilnehmer(innen) an Workshops zur Nutzwertanalyse kamen aus verschiedenen bürgerschaftlich engagierten Zielgruppen. Gemeinsam mit ihnen wurden die Nutzwirkungen bürgerschaftlichen Engagements über Haupt- und Unterkriterien gewichtet und bewertet.
Ausgewählte Felder des Engagements
Exemplarisch für die vielfältigen ehrenamtlichen Betätigungsfelder wurden folgende Bereiche für die Erhebung von Daten ausgewählt:
- Freiwilligenagentur/Koordinierungsstellen,
- Selbsthilfegruppen,
- Mütter- und Familienzentren,
- Migration,
- Senioren,
- Jugendhilfe,
- Freiwillige Feuerwehr.
Zur Ermittlung der durch ehrenamtlich/ freiwillig tätige Kräfte erzielten Wertschöpfung dienten Daten von sozialen Einrichtungen, Kommunen und den bürgerschaftlich Engagierten selbst sowie Fragebögen, Expertenbefragungen und mehrere Workshops.
Unmittelbarer Nutzen
Die Erhebung ergab für die sieben exemplarischen Untersuchungsfelder als unmittelbare monetäre Wertschöpfungen im Jahr die in der Abbildung wiedergegebenen Daten. Die erkennbaren starken Unterschiede erwuchsen – neben der fast doppelt so hohen Rücklaufquote der Fragebögen in der Stadt – aus den unterschiedlichen geografischen, politischen, demografischen und kommunikativen Gegebenheiten in einem großflächigen Landkreis gegenüber einer Stadt mit hoher Bevölkerungsdichte.
Probleme ergaben sich bei der Untersuchung der Mütter- und Familienzentren, da hier der Rücklauf sehr gering war. Hauptamtlich Mitarbeitende, die sich um die Bearbeitung der Fragebögen in den verschiedenen Bereichen kümmerten, spielten eine große Rolle. Erhebliche Unsicherheiten ergaben sich auch bei der Aufgabe, den freiwilligen Einsatz nach Stunden mit einem entsprechend angenommenen Stundenlohn zu dokumentieren. Wiederholt wurde das Wort „unbezahlbar“ vermerkt. Es scheint daher naheliegend, dass der Nutzen und damit die Wertschöpfung eher unterbewertet sind.
Mittelbare Wirkungen
Bei der Untersuchung der mittelbaren Effekte bürgerschaftlichen Engagements ergab sich das Dilemma, dass viele der positiven Effekte breit gestreut sind und über sehr lange Zeiträume wirken.3 Es geht dabei um die Frage: „Was wäre anders, wenn bürgerschaftliches Engagement nicht geleistet würde?“ Mittelbare Effekte lassen sich nie auf eine Gruppe von Menschen oder auf eine Institution begrenzen – die soziale Interaktion in Verbindung mit dem sozialen Geflecht ist überaus dynamisch und komplex. Veränderungen in einem Bereich wirken auch in andere Bereiche hinein. So mag zum Beispiel bürgerschaftliches Engagement im Bereich der Integration von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund die Schulabbrecherquote reduzieren, was nach Jahren den örtlichen Handwerksbetrieben bei der Auswahl von Lehrlingen zugutekommt. Wählte man nur einen kurzen Betrachtungszeitraum, fiele ein solcher mittelbarer Effekt kaum ins Gewicht. Auf der anderen Seite wird mit zunehmender Beobachtungsdauer der Ursache-Wirkungs-Nachweis immer schwieriger.4
Beispiel für komplexe Wirkungen: Familienzentren
Wie schwer es ist, den mittelbaren Wert bürgerschaftlichen Engagements zu beziffern, zeigt auch das folgende Beispiel aus einem der sieben Untersuchungsfelder des Gutachtens: Mütter- und Familienzentren arbeiten familienunterstützend und bedürfnisorientiert, sie entlasten Mütter oder Väter in ihrer Erziehungsarbeit und stärken sie in ihrer Erziehungskompetenz. Die Zentren sind weitgehend vom Handeln bürgerschaftlich engagierter Menschen getragen, die in ihrer Freizeit zahlreiche Hilfsangebote und Veranstaltungen vorbereiten und durchführen.
Durch mangelnde Entlastung entwickeln besonders Mütter Befindlichkeitsstörungen und Krankheitssymptome, die den Alltag erheblich beeinträchtigen.5 Die präventiven Hilfsangebote der Mütter- und Familienzentren leisten einen wichtigen Beitrag, um den möglicherweise eintretenden Zusammenbruch einer überlasteten Mutter – mit all seinen leidvollen Folgen für die Familie – zu verhindern. Die Alternative zu solcher Präventionsarbeit sind Versuche, gescheiterte oder überlastete Systeme wieder zu stabilisieren. Dabei entstehen hohe Kosten. So kostet zum Beispiel eine einzige Mutter-Kind-Kur im Durchschnitt 2880 Euro.6 Ein Nachweis darüber, wie viele Mutter-Kind-Kuren dank präventiver Angebote des Mütter- und Familienzentrums „eingespart“ werden, ist aber unmöglich.
In Expertenbefragungen und Workshops wurde dennoch versucht, die mittelbaren Effekte bürgerschaftlichen Engagements herauszuarbeiten. Mittelbare Effekte wurden dabei unter anderem wie folgt benannt:
- Werden Bürger(innen) im Rahmen von Projekten bürgerschaftlichen Engagements selbst aktiv, hat dies in der Regel positive Auswirkungen auf die Gemeinschaft. Das soziale Klima in den Kommunen würde ohne den Beitrag der Engagierten in Vereinen, Initiativen, Kirchen, Jugendgruppen, im Sport und in der Kultur kälter.
- Für den Staat verringert soziales Kapital (= bürgerschaftliches Engagement) soziale Kosten in dem Maße, wie Hilfeleistungen und Unterstützung im Rahmen nachbarschaftlicher Beziehungsnetzwerke erbracht werden. Umgekehrt steigen die Kosten für Unterstützung und Hilfeleistung in dem Maße, wie in modernen Gesellschaften im Zuge der Individualisierung und steigenden Mobilität Beziehungsnetze nicht mehr greifen.
- Die Kommunen können mit dem bürgerschaftlichen Engagement die Qualität und Akzeptanz ihres kommunalpolitischen Handelns verbessern.
- Gutes beziehungsweise schlechtes Image eines Landkreises oder einer Stadt steht und fällt mit vielfältigen Hilfen und Angeboten für die Bürger(innen) und wird so zu einem „Standortfaktor“ bürgerfreundlicher Kommunen.
- Menschen engagieren sich auch deshalb unentgeltlich, um für sich selbst Nutzen daraus zu ziehen. Dieser Nutzen zeigt sich zum Beispiel in der Freude am Helfen, im Knüpfen sozialer Kontakte, im Austausch und dem Herausfinden aus Isolation und Ausgrenzung.
- Stärkung von Selbstbewusstsein, Selbstbestätigung, Anerkennung sowie Erweiterung von Wissen und Kompetenz sind Erträge, die mündige Bürger(innen) ausmachen.
- Aktiv etwas für die Verbesserung von umwelt- und gesellschaftspolitischen Problemen tun zu wollen und zu können, ist das Gegenteil von Politikverdrossenheit.
Aus den oben genannten Erläuterungen heraus lässt sich zusammenfassend für den Bereich des mittelbaren Nutzens sagen: Bürgerschaftliches Engagement bereichert den Einzelnen und stärkt die Gesellschaft.
Welcher Betrag wird für Solidarität angesetzt?
Dass bürgerschaftliches Engagement wichtig und bedeutsam ist, wurde auch bisher von niemandem ernsthaft infrage gestellt. Mit ihrem Gutachten ist es der Katholischen Stiftungsfachhochschule München jedoch gelungen, dies auch mit Zahlen zu belegen. Allein der unmittelbare monetäre Nutzen beträgt der Untersuchung zufolge das rund Sechs- bis Siebenfache der aufgewendeten Mittel.
Im Hinblick auf den mittelbaren Nutzen beleuchtet das Gutachten erneut das Dilemma aller sozialen Arbeit: Welchen finanziellen Wert hat ein mündiger Bürger? Mit welchem Betrag verbucht man sozialen Frieden, Solidarität, menschliche Wärme oder kulturelle Vielfalt in den Büchern? Hierauf wird sich vermutlich niemals eine eindeutige Antwort finden lassen. Von der Wirtschaft entliehene Methoden zur Wertermittlung stoßen hier an ihre natürlichen Grenzen.
Eines lässt sich aber aus dem Gutachten mit Sicherheit herauslesen: Bürgerschaftliches Engagement ist systemrelevant, nachhaltig und erbringt eine ausgezeichnete Rendite – ohne Risiko. Eine klare Kaufempfehlung.
Anmerkungen
1. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Freiwilliges Engagement in Deutschland 1999–2004. 2005, S. 3
2. Download-Möglichkeit: www.wir-fuer-uns.de/landesnetzwerk/gutachten_gkwh.pdf
3. Schönig, Werner: Was bringt Soziale Arbeit? Kosten-Nutzen-Analysen in der Sozialwirtschaft. In: Blätter der Wohlfahrtspflege, 6/2005, Baden-Baden, S. 215–216.
4. Ebd.
5. Vgl. Collatz, Jürgen u. a.: Mütterspezifische Belastungen – Gesundheitsstörungen – Krankheit. Gesundheitsforum für Mütter und Kinder. Band 1. Berlin, 1998.
6. Durchschnittliche Kosten einer Mutter-Kind-Kur (ein Kind) im Jahr 2009 laut Auskunft der AOK Bayern, Direktion Bad Tölz.