Die Existenzsicherung wird privatisiert
Inzwischen muss man leider kaum noch erklären, was eine Tafel ist. Tafeln sind vielerorts gleichermaßen bekannte wie (scheinbar) selbstverständliche existenzunterstützende Angebote geworden. Trotz der vielen Unterschiede zwischen den Tafeltypen überwiegen jedoch die Gemeinsamkeiten. Deshalb ist es angemessen, von Tafeln als einer "Signatur" der Gegenwartsgesellschaft zu sprechen, weil sich die mit Tafeln verbundenen Teilphänomene letztlich zu einer übergreifenden Zeitdiagnose verbinden lassen. Wir alle sind Zeugen, wie sich gegenwärtig unsere kollektive Idee sozialer Gerechtigkeit, unser handlungsleitendes Menschenbild sowie unsere gesellschaftlich vorrätigen, solidarischen Praktiken auflösen. Vor diesem Hintergrund sind Tafeln der ewig unfertige Prototyp einer neuen dystopischen (also fiktiven, ins Negative gekippten) Gesellschaftsform.
Grundzüge des Diskurses über Tafeln
Tafeln sind - trotz oder wegen der Vielzahl möglicher Meinungsbilder - ein ambivalent beurteiltes Phänomen. In der öffentlichen und wissenschaftlichen Rezeption lassen sich noch immer Lücken und Verzerrungen feststellen. Vor der Jahrtausendwende erschienen lediglich zwei subjektive Aufsätze aus der Perspektive von Tafelaktiven zum Thema.1 Das simple Prinzip der Tafelarbeit sowie die Debatte über bürgerschaftliches Engagement führte in den Medien zu einer einseitig positiven Berichterstattung. Auch die von Konstantin von Normann veröffentlichte Dissertation zur Evolution der Tafeln analysiert lediglich deren Erfolgsfaktoren, ohne die Existenz der Tafeln an sich kritisch zu hinterfragen.2
Der enorme Anstieg der Nachfrage nach den Lebensmitteln der Tafeln führte infolge der Zusammenlegung der Arbeitslosen- und Sozialhilfe (ALG II) im Jahr 2005 dazu, dass auch die gesellschaftliche Funktion und Bedeutung des "Systems Tafel" zunehmend kritisch hinterfragt wurden. Steigende Armut und sinkende sozialstaatliche Leistungen ließen den Verdacht aufkommen, dass die Schlangen vor den Ausgabestellen Ausdruck sozialpolitischer Versäumnisse sind und das Engagement der Tafelhelfer(innen) die sozialen Einschnitte lediglich abfedert, ohne die Armut nachhaltig zu bekämpfen.
In jüngster Zeit wurden Tafeln - begleitet auch von einem deutlichen Umbruch in der Art der Medienberichterstattung - eher unter soziopolitischen Aspekten analysiert. Die Sozialreportage "Fast ganz unten"3 zeigte die vielfältigen Paradoxien des Tafelsystems auf. Die gesellschaftliche Bedeutung der Tafeln wurde systemkritisch hinterfragt, es kam zu einem Paradigmenwechsel in der Wahrnehmung der Tafeln. Deutlich wurde aber auch, dass Kritik an Tafeln meist unerwünscht ist, da sich die Selbstkonzepte der freiwilligen Helfer(innen) dadurch einer (meist als unnötig empfundenen) Belastungsprobe ausgesetzt sehen.4 Der Sammelband "Tafeln in Deutschland"5 vereinte Beiträge aus dem organisationsstrukturellen, ernährungswissenschaftlichen, politisch-gesellschaftlichen und historischen Kontext und spiegelte somit die zunehmende thematische Differenzierung des Tafelthemas wider.
Seit es auch kritische Veröffentlichungen zu Tafeln gibt, hat sich der Diskurs über Tafeln und vor allem über deren sozialpolitische Funktion erkennbar ausdifferenziert. Im Kontext dieses Diskurses gibt es mittlerweile eine erstaunliche Meinungsvielfalt. Das Spektrum reicht von der Kritik an der Strategie der Lidl-Pfandautomaten6 bis hin zur Warnung vor der "Vertafelung der Gesellschaft"7. Eine explizit kritische Tonart haben Publikationen, die die Rolle der Tafeln für den Abbau des Sozialstaates8 und die damit verbundene Renaissance des Almosenwesens9 oder die Instrumentalisierung der Helfer anklagen.10
Systemkritische Positionen
Die von mir vertretene Kritik an Tafeln bedarf einer nivellierenden Rahmung: Weder bin ich an einer Abschaffung der Tafeln interessiert noch kritisiere ich konkrete Personen oder Tafeln. Meine Kritik ist System- beziehungsweise Ideologiekritik. Zu unterscheiden sind dabei erstens die Tafeln vor Ort: Hier leisten Menschen pragmatisch und engagiert Soforthilfe. Zweitens das "System" der Tafeln in Deutschland: Das fast flächendeckende Netzwerk von Ausgabestellen hat das Potenzial, auch (sozialpolitisch) zweckentfremdet zu werden. Und drittens die Interessenvertretungen der Tafeln: Hier geht es um machtpolitische Abgrenzungen innerhalb der Wohlfahrtsverbände. Insgesamt möchte ich betonen, dass die Anerkennung pragmatischer Leistungen von Tafeln und Helfer(inne)n genauso notwendig ist wie die Aufklärung über Seiteneffekte des "Systems" der Tafeln.11
Überflüssiges soll umverteilt werden
Die (ideologische) Entwicklung der Tafeln ist nicht selbstoptimierend: Die Tafeln basieren auf der Idee, Ökologie und Soziales zu verbinden, indem das Überflüssige der Warengesellschaft dort umverteilt wird, wo es benötigt wird. Statt aber lediglich den Überfluss umzuverteilen, versuchen viele Tafeln gegenwärtig, Fehlendes zu ersetzen - eine Strategie, die grenzenlos ist und die neue (Sekundär-)Märkte, Scheinwelten und letztlich Parallelwelten entstehen lässt, weil sich Tafeln dabei von ihrem Ursprung abkoppeln.
Tafeln sind typischer Ausdruck von Systembildung: Sie haben längst die Gründungsphase hinter sich gelassen und sich verstetigt.12 Die Tafelbewegung bedient den Markt der bürgerlichen Barmherzigkeit und privaten Mildtätigkeit. Hoffentlich unintendiert ersetzt sie dabei schleichend lang erkämpfte Bürgerrechte. Die Verstetigung und irreversible Systembildung führt dazu, dass sich Tafeln immer weniger durch Alternativen ersetzen lassen beziehungsweise dass immer seltener überhaupt ernsthaft über Alternativen nachgedacht wird - aus meiner Sicht der eigentliche Skandal. Es geht immer mehr um Eigeninteressen der (vordergründig engagierten) Tafelbetreiber und -träger, um knappe Ressourcen (wie Aufmerksamkeit oder Spenden) sowie um Monopole im Markt einer entstaatlichten, auf Freiwilligkeit beruhenden "Hilfeindustrie".
Tafeln können nichts garantieren. Was sie anbieten können, ist erfolgreiche Armutsbewältigung. Was sie nicht leisten können, ist ein nachhaltiger Beitrag zur strukturellen Armutsbekämpfung. Tafeln sind letztlich ein Freiwilligensystem, das auch wieder verschwinden kann oder zumindest nur noch stark eingeschränkt leistungsfähig wird. Worin liegt der Unterschied zwischen einem privaten Almosensystem und rechtsstaatlicher Absicherung? Dem Sozialstaatsgedanken liegt die Überzeugung und Garantie zugrunde, dass jedem Bürger und jeder Bürgerin die existenzsichernde Teilhabe an materiellen und geistigen Gütern ermöglicht und eine angemessene Mindestsicherheit zur Führung eines selbstbestimmten Lebens in Würde und Selbstachtung gewährleistet wird. Beides kann von den Tafeln nicht garantiert werden. Insgesamt besteht die Gefahr, dass langfristig die Anerkennung als gleichberechtigte Bürger(innen) für einen Teil der Bevölkerung gefährdet wird.
Tafeln sind Ausdruck der Privatisierung von Existenzsicherung: Das "System Tafel" zeigt beispielhaft, wie es zur Übernahme von (Teil-)Verantwortlichkeiten für Leistungen der Existenzsicherung durch Privatpersonen kommen kann. Die Ökonomisierung des Sozialen zeigt sich auch darin, wie die ehrenamtlichen Helfer(innen) vonseiten der politisch Verantwortlichen motiviert werden (zum Beispiel Schirmherrschaften). Die Helfer(innen) werden Teil eines Systems, das freiwillig Gemeinwohl produziert und dabei nach primär ökonomischen Prinzipien arbeitet. Dabei lassen sie sich vom (neoliberalen) Zeitgeist instrumentalisieren. Als Bürger(in) ist es sinnvoll, sich sozial zu engagieren. Letztlich tragen die Helfer(innen) jedoch ungewollt Mitverantwortung am schleichenden Umbau des Sozialstaates, der Tafeln und ähnliche Angebote als konstituierenden Faktor einbaut. In diesem System tritt letztlich Willkür an die Stelle von Garantien.13 Barmherziges Handeln ist vom (richtigen) Verhalten des Bittstellers abhängig, während Rechte personen- und situationsunabhängig sind. Das ist der Kern der Kritik.
Tafeln inszenieren Solidarität: Solidarität setzt nach der von mir bevorzugten Definition des Begriffs ein spiegelbildliches Zusammengehörigkeitsgefühl der solidarischen Gruppen voraus. Dieses ist bei Tafeln aber nicht vorhanden. Solidarität ist eine Haltung der gegenseitigen Verbundenheit und Unterstützung zwischen gleichgestellten oder gleichgesinnten Personen oder Gruppen.
Die Hilfe, die bei Tafeln geleistet wird, kann deshalb im engeren Sinne nicht solidarisch sein. Bei Tafeln stehen sich (meist) Personen mit unterschiedlicher sozialer Stellung gegenüber. Die Begegnung der Menschen bei Tafeln ist nicht symmetrisch. Die unterschiedlichen Gesten des Gebens und Nehmens sind verbunden mit Macht- und Demutserfahrungen. Als pragmatische Hilfseinrichtungen greifen Tafeln vor Ort ein. Immer aber besteht die Gefahr, dass die Hilfe zum Selbstzweck für die Helfenden wird und die eigentlichen Adressat(inn)en aus dem Blick verliert. Die Hilfe bei Tafeln ist eine Art "Solidarität mit Payback-Funktion" für die Helfenden.
Ein Diskurs ist notwendig
Die Zukunft der Tafeln liegt nicht in der immer besseren Verteilung von Warenströmen. Die Zukunft der Tafeln liegt dort, wo sich ein Konsens über Werte und Ziele für eine zukünftige Gesellschaft herausbildet und wo Politik wieder näher an der sozialen Wirklichkeit ist. Es sollte ein Konsens darüber sein, ob Tafeln den Sozialstaat im Kern substituieren oder ihn komplementär ergänzen.
Man kann und muss zu Tafeln unterschiedlicher Meinung sein (dürfen)! Ein sinnstiftender Diskurs muss vor allem zwei Eigenschaften haben: Ergebnisoffenheit und die Fähigkeit, alle relevanten Akteur(inn)e(n) zu integrieren. Notwendig ist ein "geregelter Streit" über relevante Zukunftsfragen unserer Gesellschaft. Im Rahmen dieses erst in Ansätzen erkennbaren Diskurses gibt es eine (bislang kaum offenkundige) Allianz von Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbänden, Kirchen, Erwerbsloseninitiativen sowie NGOs. Was noch fehlt, sind gemeinsame Leitbilder, Forderungen und Handlungsstrategien. Die Forschungsgruppe "Tafel-Monitor"14 hat sich zum Ziel gesetzt, dem Diskurs die notwendige empirische Basis zu verschaffen (siehe dazu auch den Beitrag in nc 06 2010, Seite 20). Denn nach wie vor bestehen mehr Forschungslücken zu Tafeln als gesicherte und interessensunabhängige Erkenntnisse.15
Anmerkungen
1. Schäfer, Vera: "Deutsche Tafeln": ein pro-bono-Projekt von McKinsey und Company. In: Forschungsjournal NSB, 3/1999, S. 68-74. Werth, Sabine: Die Tafeln in Deutschland. In: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegung, 2/1998, S. 68-73.
2. Norman, Konstantin von: Die Evolution der Tafeln : Eine Studie über die Entwicklung caritativer Nonprofit-Organisationen zur Verminderung von Ernährungsarmut in Deutschland. Bad Neuenahr, 2003.
3. Selke, Stefan: Fast ganz unten : Wie man in Deutschland durch die Hilfe von Lebensmitteltafeln satt wird. Münster, 2008.
4. Selke, Stefan: Es ist angerichtet! Tafeln in Deutschland. Kritik an der Verselbständigung einer Bewegung. In: Online-Magazin Telepolis, 2009. URL: www.heise.de/tp/r4/artikel/30/30562/1.html
5. Selke, Stefan (Hrsg.): Tafeln in Deutschland. Aspekte einer sozialen Bewegung zwischen Nahrungsmittelumverteilung und Armutsintervention. Wiesbaden, 2009.
6. Ebd.
7. Hartmann, Dieter: Mit der sozialen Frage kehrt die Barmherzigkeit zurück : Gegen die Vertafelung der Gesellschaft. In: Selke, Stefan (Hrsg.): Tafeln in Deutschland. Wiesbaden 2009, S. 263-272.
8. Rohrmann, Eckhard: Tafeln und der Abbau des Sozialstaates. In: Selke, Stefan (Hrsg.): Tafeln in Deutschland, S. 137-156.
9. Segbers, Franz: Von sozialpolitischer Armutsbekämpfung zurück zur Armenfürsorge : Die Rückkehr der Sozialen Frage und die Aktualität von Johann Hinrich Wichern. In: Sozialismus, 6/2008, S. 8-12.
10. Molling, Luise: Die Tafeln und der bürgergesellschaftliche Diskurs aus gouvernementalistischer Perspektive. In: Selke, Stefan (Hrsg.): Tafeln in Deutschland, S. 157-172.
11. Siehe Selke 2008 sowie Selke: Tafeln in Deutschland, 2009, a.a.O.
12. Molling, Luise: Die Berliner Tafel zwischen Sozialstaatsabbau und neuer Armenfürsorge. In: Selke (Hrsg.): Tafeln in Deutschland, S. 175-196.
13. An dieser Stelle verweise ich nur auf die sogenannte "Sloterdijk-Debatte", auch bekannt unter dem Slogan "Klassenkampf von oben".
14. Ein Zusammenschluss von Katja Maar, Professorin für Pädagogik an der Hochschule Esslingen und Stefan Selke, Professor an der Hochschule Furtwangen University sowie der Politikwissenschaftlerin Luise Molling, Berlin.
15. Eine ergebnisoffene Arbeitstagung mit möglichst vielen Akteuren zu "Tafeln & Co." soll vom 22. bis 24. Oktober 2010 in Furtwangen stattfinden. Information: www.tafelforum.de., Menüpunkt "Symposion ’10".