Wie Eltern und Kinder im Heim Familienleben lernen
Schon bei seiner Gründung 1966 beschritt der Caritasverband Frankfurt mit dem Haus Thomas fortschrittliche Wege: Es war eine der ersten heilpädagogischen Einrichtungen für männliche Jugendliche, die sich nicht für die geschlossene Form entschied. Anfang der 1980er Jahre öffnete sie sich für die Elternarbeit: Die Herkunftsfamilie wurde in die pädagogische Arbeit einbezogen. Der nächste Schritt ergab sich aus einem eklatanten Personalmangel: Die Kinder wurden probeweise am Wochenende nach Hause geschickt. Was zunächst als Provisorium gedacht war, entwickelte sich zum pädagogischen Konzept: Anfang der 1990er Jahre stellte das Haus ganz auf heilpädagogische Wochengruppen um, in die von 1996 an auch Mädchen aufgenommen wurden.
Den Traum von der intakten Familie träumen alle
Die Besonderheit: Eltern und Kinder sind verpflichtet, die Wochenenden und einen Teil der Ferien miteinander zu verbringen. So sollen die Familienbindung erhalten, Entwicklungen in der Familie angeregt und ihre Ressourcen gestärkt werden. Zwei Drittel der Eltern nahmen an den Gesprächen in der Gruppe teil. Nach eineinhalb bis zwei Jahren konnten zwei Drittel der Kinder in ihre Familien zurückkehren. "Alle Eltern wollen gute Eltern sein", ist Heimleiter Ferdinand Reiff überzeugt. "Nicht alle können es." Der Diplom-Psychologe hat auch noch kein Kind getroffen, das nicht in seiner Familie leben wollte. Im Gegenteil: Fast alle Heimkinder hegen den Traum von einem intakten Familienleben. Das Frankfurter Jugendamt stellte aber fest, dass aus immer mehr Familien ganze Geschwistergruppen im Heim leben. Alle wollten am Wochenende nach Hause. Aber nicht alle Familien sind so, dass die Kinder allmählich reintegriert werden könnten, weil ihnen die Probleme über den Kopf wachsen: Arbeitslosigkeit, Schulden, Migration, Gewalt- und Missbrauchserfahrungen, geringe Bildung, Flucht in die Sucht. Dennoch fand das Jugendamt, dass es weder der Entwicklung der Kinder noch der Gesamtentwicklung der Familie zuträglich sei, die Kinder einfach aus ihrer Familie herauszunehmen. Abgesehen davon, dass es ausgesprochen teuer ist, mehrere Kinder einer Familie im Heim unterzubringen. Da könnte es doch sinnvoller sein, gleich die ganze Familie stationär aufzunehmen, so die Idee. Damit war das Konzept der stationären Familienbetreuung als zweite Säule im Haus Thomas geboren. Sie wird auf der Grundlage des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG) finanziert, mit dem Ziel, die Erziehungsbedingungen in der Herkunftsfamilie so weit zu verbessern, dass die Eltern ihre Kinder wieder selbst erziehen können. Pro Kind wird mit einem Betreuungsumfang von einer halben Stelle kalkuliert, was pro Kind und Tag im Schnitt 105 Euro kostet. Pro Familie sind zwei Betreuer vorgesehen.
Eine Fachkraft ist immer anwesend
"Als ich eingezogen bin, dachte ich, es sind überall Kameras installiert", beschreibt Amanda, wie sie genannt werden will, ihr anfängliches Lebensgefühl. Bei der Hausarbeit mal ganz leger in Unterhose und T-Shirt rumzulaufen, wie sie es liebt, kann sie sich hier nicht erlauben. Denn in ihrer 147-Quadratmeter-Wohnung, die sie mit ihren drei Kindern (13/15/17) bewohnt, ist immer eine Fachkraft anwesend. Diese hat sogar ein eigenes Büro in der Wohnung. In der Nacht steht für alle Fälle immer eine Rufbereitschaft zur Verfügung. Natürlich geht es hier nicht um Bespitzelung. Amanda ist glücklich, dass sie Tochter Lea (Name geändert), ihre Jüngste, wieder bei sich hat. "Die Familie gehört zusammen", bekräftigt die Frau. Lea war ihr weggenommen worden, weil die 37-Jährige nicht in der Lage war, sich um sie zu kümmern. Vor ihrem Einzug ins Haus Thomas hatte sie mit zugezogenen Vorhängen in ihrer Hochhauswohnung vegetiert und wäre am liebsten vom Balkon gesprungen. Sich um die Zahnspange der Tochter zu kümmern, war schon ein Ding der Unmöglichkeit. "Die Kinder passten auf mich auf statt ich auf sie."
Amanda und ihre Kinder sind eine von elf Familien mit insgesamt 25 Kindern zwischen null und 17 Jahren, die im Haus Thomas zurzeit ein vorübergehendes Zuhause gefunden haben. Nur in einer sind beide Elternteile dabei, also Vater und Mutter. Alle anderen Eltern sind alleinerziehend, darunter auch ein Vater sowie eine Mutter mit fünf Kindern. Der Frankfurter Caritasverband als Träger hat für sie zwei ehemals von den amerikanischen Streitkräften bewohnte Häuser angemietet. Die Wohnungen sind so geschnitten, dass für besonders große Familien zwei nebeneinanderliegende Wohnungen zusammengelegt werden können.
Wochenpläne für einen Alltag mit Struktur
Die 13 Mitarbeiter(innen) des Hauses verstehen sich als multiprofessionelles Gesamtteam aus Sozialarbeitern und -pädagogen, Heimerziehern und einer Psychologin. Ihr Einsatz orientiert sich flexibel am Bedarf der Familie. Braucht die eine Hilfe beim Wecken und Schulfertigmachen der Kinder, wird die andere unterstützt bei Behördengängen, der Suche nach Therapieplätzen, bei der Ernährung oder bei Schulkontakten. Es kann sein, dass die Mutter das Essen kocht, während die Betreuerin sich um die Hausaufgaben der Kinder kümmert. Mit den Familien werden Wochenpläne erarbeitet, die dem Alltag eine verbindliche Struktur geben. So lassen sich viele kleine Schritte lernen. Afet (Name geändert) zum Beispiel kann sich ihrem neunjährigen Sohn gegenüber schon viel besser durchsetzen. "Er hat überhaupt nicht auf mich gehört", erklärt die hübsche Frau mit der leisen Stimme, die schon als Kind "nie was sagen" durfte. Das Jugendamt drohte, ihr das Kind wegzunehmen. Die 30-jährige türkischstämmige Mutter dreier Kinder, die weder eine Ausbildung noch einen Beruf hat, hat ein Martyrium hinter sich. In Hamburg geboren, haben die Eltern sie mit 18 in eine arrangierte Ehe in der Türkei gezwungen. Die Eltern sind inzwischen geschieden, ebenso wie sie selbst. Neun Jahre hatte sie ausgehalten, immer wieder wurde sie von ihrem Mann in Anwesenheit der Kinder geschlagen, bis sie ihre Koffer packte und mit den Kindern von Frauenhaus zu Frauenhaus zog, quer durch die Republik. Sosehr sie sich auch Mühe gab, ihren Kindern eine gedeihliche Entwicklung zu ermöglichen: Die verschüchterte Frau war maßlos überfordert. Im Haus Thomas findet sie Unterstützung.
Auch die Hausgemeinschaften werden in den Lernprozess einbezogen. "Wir verstehen sie als einen Lernraum, wo die Familien Erfahrungen miteinander machen, wo Freundschaften und Feindschaften entstehen und wo sie gegenseitige Unterstützung erfahren", erklärt die Leiterin der sozialpädagogischen Familienbetreuung, Diplom-Psychologin Margarita Chatzilouka. Sie hat das Konzept mit entwickelt. Wöchentliche Treffen jeweils für Kinder und Eltern helfen beim Zusammenleben. Das Elterntraining umfasst auch Schuldnerberatung oder einen Erste-Hilfe-Kurs. Und so manche alleinerziehende Mutter erfährt zum ersten Mal das Glück, ohne Kinder ihre Stadt zu erkunden und ein Café zu besuchen.
Wie kommen Familien ins Heim?
Die Familien, die an dem Programm teilnehmen, werden vom Jugendamt vorgeschlagen. Ihrem Umzug in das Haus Thomas geht eine gründliche Diagnosephase voraus, zu der die Mitarbeiter(innen) von Haus Thomas in die alte Wohnung kommen. Drei Monate lang prüfen beide Seiten, ob sie zueinander passen. Können die Familien die dauernde Anwesenheit einer fremden Person in ihrer Wohnung ertragen? Ist eine positive Entwicklung der Familie absehbar? Welche Stärken hat sie? Wie ist sie geworden, wie sie ist? "Die Familien sollen schon vorher erleben, wie wir arbeiten", erklärt Chatzilouka. An kleinen Projekten lässt sich viel erkennen: Wird mit der einen Familie vereinbart, den verwahrlosten Haushalt in Ordnung zu bringen, verpflichtet sich eine andere, regelmäßig etwas mit den Kindern zu unternehmen. "Es ist auch schon schiefgegangen", räumt die Diplom-Psychologin freimütig ein. Seit der Einführung der stationären Familienbetreuung im Jahr 1996 wurden 62 Familien mit 144 Kindern betreut. 17 Familien wurden bisher nicht aufgenommen. Etwa eine sehr junge Mutter, deren Kind, das sie unbedingt wiederhaben wollte, in einer Pflegefamilie lebte. Aber die Versorgung klappte überhaupt nicht, das Kind wurde ein ganzes Wochenende lang nicht gewickelt. "Wir konnten es nicht verantworten, das Kind wieder in die Obhut der Mutter zu geben, auch mit sozialpädagogischer Begleitung nicht." Bei einigen Familien hingegen wurden so viele Stärken diagnostiziert, dass ihnen zugetraut wurde, mit kleinen Hilfestellungen auch alleine klarzukommen.
Spätestens nach zwei Jahren ist Schluss
Die sozialpädagogische Familienbetreuung soll nicht zum Dauerzustand werden. Das würde nach Meinung der Fachleute in die Stagnation führen und jede Entwicklung der Familie zur eigenständigen Lebensbewältigung verhindern. "Eine permanente stationäre Familienbetreuung als Alternative zur Obdachlosigkeit ist auf keinen Fall sinnvoll", sagt Margarita Chatzilouka. Nach spätestens zwei Jahren soll Schluss sein. Bei Amanda ist es so weit. Sie hat inzwischen gelernt, dass sie der Boss ist in der Familie. Sie hat Lust, nach ihrem Umzug in die eigene Wohnung in einer Bäckerei zu arbeiten. Ab und zu werden ihre Betreuerinnen noch nach dem Rechten sehen. "Sie haben mir das Leben und das Lachen zurückgegeben."