Präzisere Kriterien für die Pflegebedürftigkeit
Fachleute für das Sozialversicherungssystem erkennt man daran, dass sie ohne langes Nachdenken erklären können, was unter dem "Geburtsfehler" der Pflegeversicherung zu verstehen ist: Die Politik hat vor fünfzehn Jahren aus finanziellen Gründen eine aus damaliger Sicht zweckmäßige Entscheidung getroffen und die Leistungen der Pflegeversicherung nur auf Verrichtungen des alltäglichen Lebens ausgerichtet. Damit galten nur Menschen als pflegebedürftig im Sinne des Sozialgesetzbuches - Elftes Buch (SGB XI), die körperliche Einschränkungen hatten. Wer darüber hinaus Hilfen und Unterstützung im Sinne von Begleitung, Aufsicht, sozialer Kommunikation und sozialer Teilhabe benötigte, ging bis vor kurzem leer aus. Besonders hart traf diese Beschränkung die Menschen mit demenziellen Erkrankungen und ihre Angehörigen. Obwohl sie sehr viel Zeit für Unterstützung und Begleitung benötigten, erhielten sie keine oder wenig Leistungen aus der Pflegeversicherung, solange sie nicht zusätzlich körperlich eingeschränkt waren.
Die Pflegereform im Jahr 2007 ging andere Wege: Demenziell erkrankte Menschen wurden im neuen Gesetz sowohl bei der häuslichen Pflege als auch in stationären Einrichtungen besonders berücksichtigt. Einen Wermutstropfen hatte dieser Fortschritt jedoch: In mehreren Paragrafen musste ein neues Feststellungs- und Verteilungsverfahren geregelt werden. Wie dieses Verfahren praktisch umgesetzt werden soll, wird heute - nach zwei Jahren - immer noch ausprobiert.
Bisher hoher Aufwand für etwas mehr Geld
So erhielt der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK) die Aufgabe, die Art, den Umfang und die Dauer der Hilfebedürftigkeit festzustellen.1 Die Personengruppe musste neu definiert werden: "Dies sind 1. Pflegebedürftige der Pflegestufen I, II und III sowie 2. Personen, die einen Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung haben, der nicht das Ausmaß der Pflegestufe I erreicht, mit demenzbedingten Fähigkeitsstörungen, geistigen Behinderungen oder psychischen Erkrankungen, bei denen der Medizinische Dienst der Krankenversicherung im Rahmen der Begutachtung nach § 18 als Folge der Krankheit oder Behinderung Auswirkungen auf die Aktivitäten des täglichen Lebens festgestellt hat, die dauerhaft zu einer erheblichen Einschränkung der Alltagskompetenz geführt haben."2
Schließlich wurde festgelegt, welche Leistungen diese Personengruppe erhalten soll: "Versicherte, die die Voraussetzungen des § 45a erfüllen, können je nach Umfang des erheblichen allgemeinen Betreuungsbedarfs zusätzliche Betreuungsleistungen in Anspruch nehmen."3 Nach Satz 1 werden folgende Sätze eingefügt: "Die Kosten hierfür werden ersetzt, höchstens jedoch 100 Euro monatlich (Grundbetrag) oder 200 Euro monatlich (erhöhter Betrag). Die Höhe des jeweiligen Anspruchs nach Satz 2 wird von der Pflegekasse auf Empfehlung des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung im Einzelfall festgelegt und dem Versicherten mitgeteilt."4
Weiter heißt es, "Richtlinien über einheitliche Maßstäbe zur Bewertung des Hilfebedarfs aufgrund der Schädigungen und Fähigkeitsstörungen in den in § 45a Abs. 2 Nr. 1 bis 13 aufgeführten Bereichen" seien auf Bundesebene zu beschließen durch: den Spitzenverband Bund der Pflegekassen - unter Beteiligung des Medizinischen Dienstes des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen -; den Verband der privaten Krankenversicherung; die kommunalen Spitzenverbände auf Bundesebene und die "maßgeblichen Organisationen für die Wahrnehmung der Interessen und der Selbsthilfe der pflegebedürftigen und behinderten Menschen". Es handelt sich um Richtlinien für die Empfehlung des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung zur Bemessung der jeweiligen Höhe des Betreuungsbetrages; § 17 Abs. 2 gelte entsprechend.5
Der ganze Aufwand ist also dafür da, dass Menschen, bei denen das "Vorliegen einer erheblich eingeschränkten Alltagskompetenz" festgestellt wurde, 100 Euro monatlich oder einen erhöhten Betrag von 200 Euro bekommen. Im Pflegeheim kann eine zusätzliche Stelle für 25 demenziell erkrankte Menschen geschaffen werden. Der Gesetzgeber hat den Menschen, die er bei Einführung der Pflegeversicherung vorsätzlich vergessen hatte, etwas Gutes tun wollen. Angekommen ist diese Wohltat wegen der komplizierten Regelungen jedoch noch lange nicht bei allen.
Künftig ist Pflegebedürftigkeit besser darstellbar
Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit hat es einen Fortschritt gegeben, der eine gerechtere Verteilung von Geldern der Pflegeversicherung ermöglichen und gleichzeitig den beschriebenen Aufwand erheblich vermindern könnte: Mehrere Forschungsgruppen und ein Beirat für die Überprüfung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs haben in den vergangenen zwei Jahren ein Begutachtungsverfahren beziehungsweise -instrument entwickelt.6
Es ist der heute gültigen Begutachtungspraxis inhaltlich weit überlegen: Das Verfahren beruht auf einer theoretisch gesicherten Begriffserklärung und -ableitung. Die einzelnen Fragen (die sogenannten Items) und Module sind begründet, logisch und nachvollziehbar, ebenso die Einschätzungsvorgaben, Skalen und Abstufungen. Das Konstrukt "Pflegebedürftigkeit", das mit diesem Instrument abgebildet wird, entspricht somit den heutigen fachlichen Vorstellungen. Damit bringt das neue Instrument alle Voraussetzungen mit, den sozialwissenschaftlichen Gütekriterien zu entsprechen.
Am 29. Januar dieses Jahres wurden die Ergebnisse dieser Arbeit bei einer Pressekonferenz in Berlin vorgestellt. Pflegebedürftigkeit nach diesen neuen Überlegungen ist die gesundheitlich bedingte Beeinträchtigung der Selbstständigkeit: Diese macht personale Hilfen in acht Bereichen (Modulen, s. Kasten in neue caritas Heft 10/2009, S. 20) erforderlich. Das wichtige Merkmal des Instruments ist die Konzentration auf die Aktivitäten und Fähigkeiten, die für die Ermittlung des Grads der Selbstständigkeit relevant sind.
Im Gegensatz zur bisherigen Begutachtungspraxis wird auf das Zeitmaß (Wie viel Zeit braucht eine Pflege-/Unterstützungsperson, um eine bestimmte Verrichtung als Anleitung, Unterstützung oder Übernahme der Handlung zu vollziehen?) ganz verzichtet. Der Grad des Pflegebedarfs wird nach folgenden Abstufungen eingeteilt: geringe - erhebliche - schwere - schwerste Beeinträchtigung sowie "besondere Bedarfskonstellation".
Wirklicher Hilfebedarf wird festgestellt
Welche Folgen hat dieses neue Verfahren für das System der Pflege? Ein Beispiel: Frau Meier stellt für ihren Ehemann - für den sie als rechtliche Betreuerin eingesetzt ist - einen Antrag an die Pflegeversicherung. Herr Meier ist demenziell erkrankt. Nach dem bisherigen und noch gültigen Begutachtungsverfahren erhält er mit hoher Wahrscheinlichkeit höchstens einen Betrag an Geld oder Sachleistungen (zum Beispiel ein Pflegedienst kommt und übernimmt einige Pflegehandlungen) entsprechend Pflegestufe I. Nach dem neuen Verfahren hingegen konzentriert sich der/die Begutachter(in) auf den Grad an Selbstständigkeit bei Aktivitäten im Lebensalltag, bei der Krankheitsbewältigung sowie bei der Gestaltung von Lebensbereichen und der Teilnahme am Gemeinschaftsleben: Herr Meier mit seinen kognitiven Beeinträchtigungen und psychischen Störungen wird "gerechter" beurteilt.
Seine Frau muss ihm bei vielen Verrichtungen des täglichen Lebens gar nicht direkt helfen. Aber sie muss fast immer in seiner Nähe sein, um ihn zu erinnern: Zwar kann er Speisen selbst zerkleinern und zum Mund führen, aber er vergisst häufig, dass er beim Essen ist. Herr Meier kann sich auch selbst etwas zum Trinken aus dem Kühlschrank holen - aber ließe man ihn dabei allein, käme er nicht wirklich zum Trinken: Er kennt kein Durstgefühl mehr oder vergisst es schnell.
Wegen all dieser Einschränkung der Selbstständigkeit, die personale Hilfe erfordert, wird Herrn Meier durch das neue Begutachtungsinstrument wahrscheinlich ein höherer Bedarfsgrad zugesprochen. Das ist der erste Effekt des neuen Verfahrens: Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen und psychischen Störungen werden entsprechend dem realen Unterstützungs- und Pflegebedarf eingeschätzt. Das hat allerdings auch zur Folge, dass Personen, die ausschließlich körperliche Beeinträchtigungen aufweisen, seltener in die höchste Bedarfsgruppe kommen.
Erfreuliches Fazit: Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff und das neue Begutachtungsinstrument erweitern die Gruppe der anspruchsberechtigten Personen und beheben damit den "Geburtsfehler" der Pflegeversicherung.
Zahl der Pflegebedürftigen steigt schlagartig an
In diesem erfreulichen Fazit steckt jedoch ein politisch brisantes Ergebnis: Mit dem neuen Begutachtungsinstrument sind mehr Menschen als bisher pflegebedürftig. Die jüngste Pflegestatistik gibt rund 2,16 Millionen Leistungsbezieher(innen) an, davon 1,45 Millionen im ambulanten und 0,71 Millionen im stationären Bereich. Wenn nach vorsichtigen Schätzungen insgesamt 400.000 mehr Leistungsbezieher hinzukommen, wird die Pflegeversicherung einen erheblichen Mehraufwand zu verkraften haben.
Mit einer Ausweitung der Anzahl pflegebedürftiger Menschen ist es noch nicht getan. Wie bei Herrn Meier wird bei einigen Leistungsbezieher(inne)n der Bedarfsgrad steigen. Die Bezieher der ambulanten Leistungen zum Beispiel sind in folgender Weise auf die Pflegestufen verteilt: Pflegestufe I - 804.628 (59,2 Prozent); Pflegestufe II - 426.855 (31,4 Prozent) und Pflegestufe III - 126.718 (9,3 Prozent).7 Bliebe es bei dieser Einteilung in drei Pflegestufen, würden sich diese Relationen erheblich nach oben verschieben. Auch noch so vorsichtige Schätzungen lassen unter diesen Bedingungen eine politisch kaum tragbare Ausgabenausweitung der Pflegekassen erwarten.
Die Bundesgesundheitsministerin hat im Oktober 2008 dem Beirat für die Überprüfung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs einen neuen Auftrag erteilt: Der Beirat soll zusammen mit den beteiligten Forscher(inne)n Vorschläge für die praktische Umsetzung vorlegen. Dazu gehört auch, Ideen zu entwickeln, wie Ausgabenbegrenzung und Ausweitung der Pflegebedürftigkeit gleichzeitig zu verwirklichen sind. Eine mögliche Lösung - die das neue Begutachtungsinstrument geradezu fordert - ist eine neue und mehrstufige Verteilung der Leistungssätze.
Grenzen des Instruments bei Eingliederungs-Bedarfen
Ein Hinweis auf die Auswirkungen des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs und des neuen Begutachtungsinstruments auf die Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung darf hier nicht fehlen: Als das neue Verfahren entwickelt und von den Fachleuten fast enthusiastisch begrüßt wurde, keimte vor allem bei den Leistungsträgern kurz die Hoffnung auf, dieses Verfahren auch zur Feststellung des Hilfe- oder Teilhabebedarfs für die Eingliederungshilfe für behinderte Menschen nach SGB XII nutzen zu können. Es bedurfte einiger Widerstände, um zu klären, dass ein solches umfassendes Verfahren aus grundsätzlichen Erwägungen nicht möglich ist, solange die verschiedenen Leistungsgesetze ihre eigenen Definitionen und Kriterien für den Bedarf und die Anspruchsberechtigung haben. Dem steht jedoch nicht entgegen, dass das Verfahren in das Assessment für andere Leistungstatbestände einbezogen wird.
Auch für die Erfassung des Teilhabebedarfs nach SGB IX und/oder SGB XII ist das Verfahren als Teil eines umfassenden Allokationsprozesses8 verwendbar. Wenn man sich auf Kriterien wie Überprüfbarkeit, Transparenz, sozialwissenschaftliche Gütekriterien (Objektivität, Zuverlässigkeit und Gültigkeit des Verfahrens), Personorientierung, angemessene Beteiligung des Antragstellers einigen wird, ist auch das neue Begutachtungsinstrument in der Eingliederungshilfe sinnvoll anwendbar. Diese Aussage muss aber immer mit folgenden Voraussetzungen verbunden werden: (1) Das neue Begutachtungsinstrument ist ein Verfahren, das ergänzt werden muss, weil es das Konstrukt "Pflegebedürftigkeit" und nicht das Konstrukt "Teilhabebedürftigkeit" repräsentiert. (2) Wie alle anderen Instrumente zur Ermittlung des Hilfe- oder Teilhabebedarfs kann auch das neue Verfahren nur eine der Grundlagen im Allokationsprozess sein, bei dem es um die Aushandlung und Vereinbarung des individuellen Bedarfs und die daraus folgende Leistung für den/die Antragssteller(in) geht. Es gibt keinen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Punktwerten, die sich aus der Begutachtung ergeben, und den in Fachleistungsstunden oder in Geld zu definierenden Leistungen.
Abgrenzungsproblem Pflege- versus Teilhabebedarf
Groß sind die Überschneidungen zwischen dem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff und dem Begriff der Teilhabe, der bisher auf die Rehabilitation beschränkt war. Durch diese Teilhabeorientierung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs ist das Abgrenzungsproblem zur Eingliederungshilfe für behinderte Menschen verschärft worden. Dabei muss gelten: Selbstbestimmte, chancengerechte Teilhabe ist auch im Blick auf pflegebedürftige Menschen ein handlungsleitendes Prinzip. Die Eingliederungshilfe für behinderte Menschen wird jedoch von einer teilhabeorientierten Pflege weder ersetzt, noch ist sie eine bloße Ergänzung zur Pflegeleistung. Bei der Eingliederungshilfe steht die Befähigung zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und am Arbeitsleben im Vordergrund. Hier geht es um eigenständige Leistungen, die von einem erweiterten Pflegebedürftigkeitsbegriff unberührt bleiben müssen.
Persönliches Budget als geeignetes Bindeglied
Eine Lösung des Abgrenzungsproblems wäre das Persönliche Budget: Es ist die sinnvollste Lösung für eine teilhabeorientierte Leistung der Pflegeversicherung für Menschen, die gleichzeitig Anspruch auf Eingliederungshilfeleistungen haben. Für viele Menschen mit Behinderung, die auch einen Pflegebedarf haben, sind die Pflegeversicherungsleistungen - in Umkehrung dessen, was häufig dargestellt wird9 - eine Ergänzung zu den Teilhabeleistungen. Damit die Teilhabeorientierung der Pflegeversicherungsleistung verwirklicht werden kann, sind beide Leistungen möglichst als Komplexleistung zu gewähren.
Zu erwarten ist, dass die jetzige Regierung die erforderliche politische Herkulesarbeit nicht mehr bewältigen wird, die auf den Gesetzgeber zukommt, wenn alle hier beschriebenen Fragen beantwortet und die daraus folgenden Aufgaben in Angriff genommen werden. Es ist zu hoffen, dass nach der Bundestagswahl im Herbst 2009 die neue Regierung sehr schnell die Vorleistungen aufgreift und zu einem Ergebnis führt, das den pflegebedürftigen Menschen und ihren Angehörigen wirklich zugute kommt.
Anmerkungen
1. "Im Rahmen dieser Prüfungen hat der Medizinische Dienst durch eine Untersuchung des Antragstellers die Einschränkungen bei den Verrichtungen im Sinne des § 14 Abs. 4 festzustellen sowie Art, Umfang und voraussichtliche Dauer der Hilfebedürftigkeit und das Vorliegen einer erheblich eingeschränkten Alltagskompetenz nach § 45a zu ermitteln." '
2. Bundesgesetzblatt Jg. 2008 Teil I Nr. 20 vom 30. Mai 2008: Gesetz zur strukturellen Weiterentwicklung der Pflegeversicherung (Pflege-Weiterentwicklungsgesetz), S. 877.
3. Ebd.
4. Bundesgesetzblatt, S. 883.
5. Ebd.
6. Beiratsbericht veröffentlicht unter www.bmg.bund.de; siehe Pressemitteilung vom 29. Januar 2009.
7. Stand: 31. Dezember 2007.
8. Prozess der Zuordnung beziehungsweise Abgrenzung der Leistungsverpflichtungen der unterschiedlichen Leistungsträger gegenüber dem/der Antragsteller(in).
9. Dass Eingliederungshilfe meist als nachrangige Ergänzung zur Pflegeleistung betrachtet wird, ist nicht fachlich begründet, sondern wird fälschlich aus der Nachrangigkeit der Sozialhilfe geschlossen.