Die persönliche Aufarbeitung optimal unterstützen
"Der Petitionsausschuss sieht und erkennt erlittenes Unrecht und Leid, das Kindern und Jugendlichen in verschiedenen Kinder- und Erziehungsheimen in der alten Bundesrepublik in der Zeit zwischen 1945 und 1970 widerfahren ist, und bedauert das zutiefst." Dies ist der zentrale Satz der Empfehlung des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestags im November 2008 zur Petition ehemaliger Heimkinder. Mit diesem Beschluss wurde das Schicksal von Menschen, die in der Nachkriegszeit in verschiedenen Formen der Heimunterbringung Demütigungen und Leid erfahren hatten, erstmals offiziell durch ein Organ des Deutschen Bundestages gewürdigt.
Der Satz macht bei genauerer Betrachtung aber auch deutlich, dass eine Reihe von Fragen zur Heimerziehung in der Nachkriegszeit offen sind. Insbesondere ist das Ausmaß der unakzeptablen Praxis ungeklärt. Damit verbunden sind Fragen nach den Rechtsgrundlagen und der Praxis der Heimerziehung, nach den Regelungen der Heimaufsicht und ihrer tatsächlichen Wahrnehmung sowie den gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und gesundheitlichen Folgen der Heimerziehungspraxis. Mit diesen und weiteren Fragen setzt sich der "Runde Tisch Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren" auseinander, der vom Deutschen Bundestag eingesetzt worden ist und am 17. Februar dieses Jahres seine Arbeit aufgenommen hat.
Mitglieder des Runden Tisches sind Vertreter(innen) der beiden großen christlichen Kirchen und ihrer Wohlfahrtsverbände, der Landesjugendämter, des Petitionsausschusses, der freien Wohlfahrts- pflege, der Bundesländer, der Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen, des Bundesministeriums für Familien, Senioren, Frauen und Jugend, der kommunalen Spitzenverbände, des Deutschen Instituts für Jugendhilfe und Familienrecht, des Bundesverbandes für Erziehungshilfe - AFET, des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge sowie drei ehemalige Heimkinder als Vertreter(innen) der Betroffenen.
Die Vorsitzende des Runden Tisches ist die ehemalige Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer. Ihre Charakterisierung des Runden Tisches als "kleine Wahrheitskommission" macht schnell deutlich, dass es sich beim Runden Tisch nicht um ein behördenähnliches oder gerichtliches Verfahren handelt. Für Vollmer ist eine vertrauensvolle Atmosphäre bei der Arbeit des Runden Tisches zwingend notwendig, um zu tragfähigen Ergebnissen zu kommen.
Auf der Homepage des Runden Tisches www.rundertisch-heimerziehung.de wird seit Juni 2009 über die Ziele, die Mitglieder und die Arbeit des Runden Tisches und seiner Geschäftsstelle informiert. Außerdem unterhält der Runde Tisch eine Info- und Beratungsstelle, die als Anlaufstelle für ehemalige Heimkinder dient. Sie befasst sich mit den persönlichen Anliegen von ehemaligen Heimkindern, bietet telefonisch und persönlich Gespräche an und vermittelt Unterstützungsangebote.
Damaliges und heutiges Recht thematisieren
Der Runde Tisch Heimerziehung tritt bis Ende 2010 zu insgesamt zehn zweitägigen Sitzungen zusammen. Die Sitzungen im Jahr 2009 werden der Bestandsaufnahme dienen und die Ergebnisse des Petitionsausschusses, die damaligen und heutigen rechtlichen Rahmenbedingungen, die öffentlichen Träger als Einrichtungsträger und Aufsichtsinstitutionen (inklusive Vormundschaftsgerichte) und Ergebnisse der bisherigen Aufarbeitungen im kirchlichen Bereich thematisieren. Im Januar 2010 sollen ein Zwischenbericht des Runden Tisches verabschiedet und anschließend mögliche Lösungsvorschläge entwickelt werden.
Bisher haben drei Sitzungen des Runden Tisches stattgefunden. Dabei wurde deutlich, dass es in den alten Bundesländern bereits vielfältige Schritte der Aufarbeitung gibt, etwa in Form eines Runden Tisches (Schleswig-Holstein), mehrerer wissenschaftlicher Studien (Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz) oder durch Anträge im Landtag (Niedersachsen). Erste Annäherungen an die statistischen Daten lassen die Schätzung zu, dass zwischen 1942 und 1975 insgesamt rund 700.000 junge Menschen in Heimen untergebracht waren. Diese Heime waren zu knapp zwei Dritteln in kirchlicher Trägerschaft.
Sämtliche Akten und Unterlagen sichern
Der Runde Tisch hat die zuständigen Stellen der Länder und Kommunen aufgefordert, sämtliche Akten über die ehemaligen Heimkinder/Jugendlichen sowie sämtliche aus damaliger Zeit noch vorhandenen Unterlagen über die Kinder- und Jugendheime, mit denen sie zusammengearbeitet haben, zu sichern. Dieses Anliegen gilt auch für die Justizministerien, die Vormundschaftsgerichte und die freien Träger, die damals Kinder- und Jugendheime unterhielten. Die Deutsche Bischofskonferenz hat sich ihrerseits an die katholischen Träger gewandt und ebenfalls nachdrücklich für eine umfassende Aktensicherung und die Bereitschaft zum Dialog mit den Betroffenen geworben. Zu dieser Aufforderung hat es bereits zahlreiche positive Rückmeldungen verschiedenster zuständiger Stellen gegeben, so dass davon ausgegangen wird, dass das Anliegen auf breiter Basis berücksichtigt und umgesetzt wird.
Schwerpunkt der letzten Sitzung waren grundlegende juristische Fragen. In einer Anhörung von Experten aus verschiedenen Bundesministerien wurden die damaligen rechtlichen Grundlagen des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes (RJWG) - beziehungsweise ab 1961 des Jugendwohlfahrtsgesetzes (JWG) - und des Kindschafts- und Strafrechts dargestellt und diskutiert. Hinsichtlich der aktuellen Situation wurden rechtliche Grundlagen der Opferentschädigung und des Rentenrechts thematisiert. Offenbar bestand in den 50er und 60er Jahren für jedes Kind in der Heimerziehung zu jeder Zeit eine durchgehende Verantwortungskette (Eltern, staatliche Fürsorge, Vormundschaftsgericht, Erziehungsbehörde [Jugendamt], Heimträger, Heimleitung, Personal). Es gab aber kaum Leitlinien, wie diese Verantwortung konkret wahrgenommen werden sollte. Die Anhörungen ergaben, dass geltende Entschädigungsregelungen im Falle ehemaliger Heimkinder wegen fehlender Voraussetzungen in der Regel nicht angewendet werden können. Eine der Voraussetzungen ist, dass ein dauerhafter gesundheitlicher Schaden nachgewiesen werden kann, der in einem ursächlichen Zusammenhang mit einem vorsätzlichen körperlichen Angriff steht. Ebenso wird eine zusätzliche Rentenleistung für Arbeiten während des Heimaufenthalts in der Regel nicht möglich sein, da diese an das Vorliegen von Beschäftigungsverhältnissen und tatsächlich geleisteten Beitragszahlungen geknüpft ist.
Die Betroffenen bei der Aufklärung unterstützen
Die Vertreter(innen) kirchlicher Institutionen am Runden Tisch (Deutsche Bischofskonferenz, Deutscher Caritasverband, Kirchenamt der EKD und Diakonisches Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD)) beteiligen sich ergebnisoffen an den Beratungen. Für die katholische Seite hat der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Robert Zollitsch, in einem Beitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15. Juni 2009 klargestellt: "Wir setzen uns mit aller Kraft für größtmögliche Transparenz ein bezüglich der Heimerziehung in Deutschland in der Nachkriegszeit und bieten den Betroffenen unsere Unterstützung bei der Aufklärung an." Zollitsch hat darüber hinaus angekündigt, sich mit Betroffenen, die in einem katholischen Heim untergebracht waren, zu einem persönlichen Gespräch zu treffen und mit ihnen über ihre Geschichte in den jeweiligen Heimen und ihre jetzige Situation zu reden. Er sagte den Betroffenen aus ehemaligen katholischen Einrichtungen der Kinder- und Jugendfürsorge Unterstützung bei der persönlichen Aufarbeitung zu, etwa wenn eine therapeutische Behandlung nötig ist.
Die kirchlichen Organisationen im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe haben seit dem ersten Bekanntwerden der Vorwürfe ihre Mitgliedseinrichtungen wiederholt dazu aufgerufen, ehemalige Heimkinder bei der Aufarbeitung ihrer jeweiligen Lebensgeschichte so gut wie möglich zu unterstützen (vgl. neue caritas Heft 8/2009, S. 20ff). Dazu gehört insbesondere, dass ihnen - soweit das Material heute noch vorhanden ist - ihre Akten zur Einsicht überlassen werden. Verschiedene Einrichtungen stehen schon länger im Kontakt mit ehemaligen Heimkindern. Sie wurden darin bestärkt, die Verbindungen zwischen und zu den ehemaligen Heimbewohner(inne)n zu fördern. In vielen Einrichtungen bestehen - oft seit vielen Jahrzehnten - solche festen Ehemaligenkreise, oder es gibt Tage, an denen die Ehemaligen zusammenkommen.
Ausdruck der Haltung im katholischen und evangelischen Bereich zu den Vorwürfen ehemaliger Heimkinder ist auch die Unterstützung des Forschungsprojektes "Zur Entwicklung der konfessionellen Heimerziehung in der frühen Bundesrepublik" an der Universität Bochum. Dieses Forschungsprojekt ist ein eigenständiger Teil eines größeren, von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten zweijährigen Projektes.
Rolle des Vereins ehemaliger Heimkinder unklar
Die Arbeit des Runden Tisches Heimerziehung wird vom Verein ehemaliger Heimkinder e.V. (VeH) aufmerksam verfolgt. Der VeH tritt besonders im Vorfeld der Sitzungen an die Öffentlichkeit, um seinen Forderungen Nachruck zu verleihen. Es wird jedoch zunehmend unklarer, für wen der VeH tatsächlich spricht. Schätzungen über die Anzahl der Mitglieder des Vereins schwanken derzeit zwischen 150 und 300. Seine Forderung hinsichtlich eines Entschädigungsfonds in Höhe von 25 Milliarden Euro trifft bei vielen ehemaligen Heimkindern auf Unverständnis. Auch der massive Druck auf die Vorsitzende des Runden Tisches, zwei Rechtsvertreter des VeH zu den Beratungen hinzuzuziehen, wird von vielen Betroffenen abgelehnt, da dies mit der Konzeption der "kleinen Wahrheitskommission" unvereinbar wäre und zu ihrem Scheitern führen würde. Schließlich wird auch die verstärkte Zusammenarbeit des VeH mit der kirchenkritischen Giordano Bruno Stiftung von vielen ehemaligen Heimkindern mit Sorge betrachtet, da sie befürchten, dass ihre eigenen Anliegen Vehikel für die Anliegen der Stiftung werden könnten.
Der Runde Tisch Heimerziehung ist Ergebnis einer "Sternstunde" des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages, wie es Mitglieder des Petitionsausschusses bei ihrem jüngsten Jahresbericht im Deutschen Bundestag ausgedrückt haben. Er stellt den Versuch dar, in einer schwierigen Frage zu einer Lösung zu gelangen, die auf juristischem Wege offensichtlich nicht zu erreichen ist. Der Erfolg des Runden Tisches hängt maßgeblich von der Bereitschaft der beteiligten Institutionen, Verbände und Organisationen ab, an ihm mitzuwirken und sich nicht auf formaljuristische Standpunkte zurückzuziehen. Die Mitglieder des Runden Tisches - so lässt sich nach den ersten drei Sitzungen festhalten - engagieren sich unter Einsatz teils erheblicher eigener Ressourcen und signalisieren damit ihr Interesse, zu einer Lösung in der Auseinandersetzung beizutragen. Der Runde Tisch befindet sich damit auf einem guten Weg.