Kinder suchtkranker Eltern brauchen frühe Hilfen
Sind Eltern drogenabhängig, so hat dies Einfluss auf die Kindesentwicklung. Den Kindern werden notwendige körperliche Versorgung und emotionale Zuwendung vorenthalten. Die sozioemotionale und geistige Entwicklung wird verzögert, behindert oder gar dauerhaft zerstört. Die Kinder werden insgesamt in einer Weise beeinflusst und erzogen, dass sie selbst Drogengebraucher werden.1
Diese Einschätzung ist handlungsleitend für den Verein Jugendberatung und Jugendhilfe (JJ). Dieser ist als Jugend- und Suchthilfeverbund mit mehr als 30 verschiedenen Einrichtungen im Rhein-Main-Gebiet2 tätig. Er bietet Dienstleistungen in den Bereichen Suchthilfe, Gesundheitsförderung, Integrationshilfen sowie Jugend- und Familienhilfe an. Ziel des Vereins ist es, hilfebedürftigen, behinderten, gefährdeten oder psychisch kranken Menschen mit fachkundiger Beratung, Behandlung und Lebenshilfe beizustehen. Um diese Ziele zu erreichen, sind die Angebote untereinander zu einem differenzierten sozialen Dienstleistungsverbund vernetzt. Die enge Zusammenarbeit soll eine optimale Planung und Steuerung der personenzentrierten Hilfeleistungen ermöglichen.
Auch wenn es in Deutschland wenig verlässliche Daten über die genaue Anzahl vernachlässigter, misshandelter oder getöteter Kinder drogenabhängiger Eltern gibt, so ist klar: Kinder drogenabhängiger Eltern gehören zu einer Hochrisikogruppe. Prävention und frühzeitige Intervention zur Vermeidung von Vernachlässigung und Kindeswohlgefährdungen im frühen Lebensalter erfordern die Vernetzung von Kinder-, Jugend- und Suchthilfe. In-terdisziplinäre Kooperationsformen und Vernetzungsstrukturen müssen aufgebaut werden.
Säuglinge sind besonders gefährdet
Die Gefahr von Vernachlässigung und Kindeswohlgefährdung ist in den ersten fünf Lebensjahren am größten. Im ersten Lebensjahr sterben mehr Kinder durch Vernachlässigung und Misshandlung als in jedem späteren Alter, da Säuglinge besonders auf eine umfassende Versorgung und Betreuung angewiesen sind. "Ist diese unzureichend oder gar nicht gewährleistet, können akute Gefährdungssituationen sehr abrupt eintreten. Wenn eine Mutter, etwa aufgrund eines längeren Alkoholexzesses, einen Säugling nicht versorgt, führt dies sehr schnell zu einer lebensbedrohlichen Situation. Insofern finden sich gerade im Säuglings- und Kleinkindalter abrupte Übergänge von diskreten Hinweisen bis zu akuter Gefährdung. Die Planung von Hilfen muss in diesem Entwicklungsalter in einem extrem engen Zeitraster erfolgen, was in höheren Entwicklungsaltersstufen nur in hohen Gefährdungssituationen notwendig ist."3
Ohne Vernetzung gib es keinen Kinderschutz
In Folge der Vernachlässigungs- und Misshandlungsfälle von Kindern, bei denen die Kinder zu Tode kamen (unter anderem Kevin in Bremen)4, wurde offensichtlich: Kinderschutz für Kinder suchtbelastester Familien erfordert eine enge Verzahnung von Kinder-, Jugend- und Suchthilfe sowie dem Gesundheitssystem. Systematische Vernetzungsstrukturen und interdisziplinäre Kooperationen zur frühestmöglichen Unterstützung sowie zur Einleitung kindeswohlsichernder und präventiver Leistungen existieren in Deutschland aber zurzeit kaum. Für einen wirksamen und vorausblickenden Kinder- schutz ist dies jedoch eine notwendige Voraussetzung.
Die Caritas Suchthilfe (CaSu) und JJ haben in zwei Fachtagungen 2007 und 2008 zur Kindeswohlgefährdung und zur Umsetzung von Schutzkonzepten für die ambulante und stationäre Jugend- und Suchthilfe die fachlichen Notwendigkeiten mit Blick auf die Novellierung des § 8a Sozialgesetzbuch (SGB) VIII, Kinder- und Jugendhilfegesetz, diskutiert.5
Zentrales Ziel des von den Bundesländern Baden-Württemberg, Bayern, Thüringen und Rheinland-Pfalz sowie dem Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend geförderten Modellprojektes "Guter Start ins Kinderleben" ist es nun, systematische Kooperationen mit geregelten Absprachen und Verfahrenswegen zu erproben und zu etablieren. Hierzu gehört auch die frühe Förderung der Beziehungs- und Erziehungskompetenzen von Eltern.
Welche Hilfen für Kinder und suchtkranke Eltern gibt es?
Verfahrensanweisung zum Umgang mit möglichen Kindeswohlgefährdungen
Die Verfahrensanweisung (VA) hat zum Ziel, die Wahrnehmungs- und Handlungsfähigkeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei Kindeswohlgefährdung zu stärken. Die VA regelt das verbindliche Vorgehen bei einer möglichen Kindeswohlgefährdung in allen ambulanten und stationären Einrichtungen des Vereins. Mittels Checklisten wird das Gefährdungspotenzial eingeschätzt. Daraus ergeben sich Risiko-, aber auch Schutzfaktoren, von denen das weitere Vorgehen bei akuter und nicht akuter Kindeswohlgefährdung abhängig ist. Aufgrund der Analyse wird entschieden, ob das Jugendamt eingeschaltet wird. Der gesamte Vorgang wird schriftlich festgehalten.
Spezifische Schutzkonzepte
Darüber hinaus haben Einrichtungen aufgrund einer Vereinbarung nach § 8a Abs. 2 Sozialgesetzbuch (SGB) VIII zum Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung einrichtungsspezifische Schutzkonzepte mit entsprechenden Verfahrensanweisungen erstellt. Dazu zählt die Sozialpädagogische Familienhilfe des Vereins in Frankfurt. Sie führt für Suchtgefährdete, ehemals abhängige oder substituierte Eltern und deren Kinder Sozialpädagogische Familienhilfe nach § 31 SGB VIII durch und zwar im Auftrag und in Kooperation mit dem Jugendamt. Die Vernetzung mit den Suchthilfeeinrichtungen gewährleistet bei Bedarf schnelle, zusätzliche fachliche Hilfen für Eltern. Für die Kinder leistet die Familienhilfe individuelle gezielte Förderung und unterstützt die Eltern bei der Integration ihres Kindes in Kindergarten, Hort, Schule und Freizeitvereine. Die Integration gewährleistet Schutz vor Vernachlässigung und erleichtert das rechtzeitige Erkennen von Kindeswohlgefährdung. Ergeben sich Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefähr- dung, erfolgt eine Fallbewertung. Falls nötig wird ein individueller Schutzplan mit Vorschlägen erstellt, welche Hilfen erforderlich und geeignet sind, um die Gefährdung abzuwenden. Bei akuter Kindeswohlgefährdung erfolgt unverzügliche Kontaktaufnahme mit dem Jugendamt. Denn eine Inobhutnahme zum Schutz des Kindes nach § 42 SGB VIII ist Aufgabe des Jugendamtes.
Verzahnung von ambulanter Suchtberatung und Sozialpädagogischer Familienhilfe § 31 SGB VIII
Das Zentrum für Jugendberatung und Suchthilfe (ZJS) und die Sozialpädagogische Familienhilfe (SPFH) im Main-Taunus-Kreis (MTK) sind eng miteinander vernetzt. Beide Einrichtungen stehen unter einer Leitung. Die Verfahrensanweisung zum Umgang mit möglicher Kindeswohlgefährdung gilt für beide Einrichtungen gleichermaßen. Suchtberatung von Eltern in der Beratungsstelle hat von Beginn an einen Fokus auf das Kindeswohl und arbeitet bei der Hilfeplanung eng mit der Familienhilfe und dem zuständigen Jugendamt zusammen. Dies gewährleistet im Falle einer notwendigen Intervention bei Kindeswohlgefährdung frühe Verantwortungsübernahme und schnelles Handeln durch die Mitarbeiter(innen) beider Einrichtungen.
Therapiedorf Villa Lilly - stationäre Einrichtung der Sucht- und Jugendhilfe
Das Therapiedorf Villa Lilly in Bad Schwalbach ist eine stationäre Einrichtung der medizinischen Rehabilitation zur Behandlung drogenabhängiger Menschen. Sie nimmt seit 20 Jahren Eltern mit ihren Kindern im Vorschulalter auf. Beispielhaft wurde in dieser Einrichtung in Zusammenarbeit mit der zuständigen Jugendhilfebehörde eine Kinderbetreuungseinrichtung konzipiert, die die Vernetzung von Sucht- und Jugendhilfe unter einem Dach zur Folge hatte. So sind für die Betreuung der Kinder Fachkräfte (Erzieherinnen, Kinderkrankenschwestern) beschäftigt, die in das Fachteam der Suchtbehandlung integriert sind. Der interdisziplinäre Blick in Bezug auf Suchtbehandlung und Kindesentwicklung ist damit sichergestellt.
Die Verbindung von kognitivem und emotionalem Lernen wird in einem speziell für drogenabhängige Eltern entwickelten Elterntraining realisiert. Ziel ist neben der Förderung von Elternkompetenz die Entwicklung psychischer Sicherheit im Umgang mit den Kindern. Dabei wird in Rollenspielen, in Einzel- und Gruppenarbeit direkt Einfluss auf das Bindungsverhalten der Eltern genommen. Das Elterntraining erhielt 2005 einen Präventionspreis der Hessischen Landesstelle für Suchtfragen.
Auf der Grundlage des Elterntrainings ist das Kartenspiel "Alles Paletti" entstanden, das sich mit Fragen von Erziehung und zwischenmenschlichen Interaktionsmöglichkeiten beschäftigt. Das Spiel hilft Eltern, ihr Wissen zu vertiefen und viele bekannte Erziehungssituationen spielerisch zu erproben. (Bezug über JJ e-Mail: jj-ev@jj-ev.de, Kosten 15 Euro)
Netzwerk für drogenabhängige und schwangere Frauen
In Frankfurt am Main haben verschiedene Träger der Jugend- und Suchthilfe ein Netzwerk für drogenabhängige und schwangere Frauen mit Blick auf die besonders kritische Lebenslage und die Sorge um die Gesundheit von Mutter und Kind aufgebaut. Die Mitarbeiter(innen) beraten und unterstützen die Schwangeren. Sie sind auch nach der Geburt für die Familie da. Eine Kooperation mit den Familienhebammen des Stadtgesundheitsamtes der Stadt Frankfurt entsprechend dem Konzept "Frühe Hilfen - Prävention von Kindesvernachlässigung" sowie mit Kliniken mit Geburtsabteilungen, Kinderärzt(inn)e(n) wird angestrebt.
Eine einheitliche Sprache ist notwendig
Kinder durch eine wirksame Vernetzung von Hilfen des Gesundheitswesens und der Kinder- und Jugendhilfe früher und besser vor Gefährdungen zu schützen, ist ein zentrales Ziel des Nationalen Zentrums Frühe Hilfen (NZFH - www.fruehehilfen.de), das von der Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung (BZgA) und dem Deutschen Jugendinstitut(DJI) getragen wird. Zur Verwirklichung des Zieles wird die bessere Erreichbarkeit der Risikogruppen genannt.6 Aus Sicht der Suchthilfe geht es darum, die interdisziplinären Hilfen systematisch auszubauen und feste verbindliche Kooperationsstrukturen zwischen Sucht-, Kinder- und Jugendhilfe und dem Gesundheitswesen zu etablieren.
Selbsthilfe als wichtiger Baustein im Hilfesystem
Die Projektgruppe des Modellprojektes "Guter Start ins Kinderleben" weist darauf hin, dass die erforderliche Kooperation zwischen Gesundheits- und Jugendhilfe der Entwicklung einer gemeinsamen Sprache und Fachlichkeit zwischen den unterschiedlichen Berufsgruppen bedarf sowie der Entwicklung gemeinsamer Standards der Dokumentation. Die Perspektive des Kindes muss in den Mittelpunkt gestellt werden. Dies verlangt eine Kommunikation auf "Augenhöhe", vorurteilsfrei und auf Transparenz und Partizipation ausgerichtet.
Der Verweis auf die Angebote der Selbsthilfe darf in einem Artikel zu frühen Hilfen für Kinder suchtkranker Eltern nicht fehlen. Die bekannteste Selbsthilfeorganisation ist NACOA Deutschland, ein Verein zur Interessenvertretung für Kinder aus Suchtfamilien (www.nacoa.de). Auch wenn sich dieses Angebot an Kinder wendet, die in ihrer Entwicklung schon vorangeschritten sind, so sind es gleichwohl frühe Hilfen. Im Wissen um die heilsame Kraft sicherer Beziehungen wendet sich diese Gruppe direkt an betroffene Kinder und Jugendliche, um im Erfahrungsaustausch neue vertrauensvolle Beziehungen aufbauen zu können. Die Kraft dieser Gruppen liegt in dem Angebot, über Ängste und Nöte sprechen zu können, sich damit sicher und angenommen zu fühlen und gesundes Beziehungsverhalten zu erlernen.
Anmerkungen
1. Klein, Michael: Kinder drogenabhängiger Mütter. Regensburg : Roderer, 2006.
2. www.drogenberatung-jj.de
3. Modellprojekt "Guter Start ins Kinderleben", Abschlussbericht Pilotphase 2007, S.10.
4. Vgl. Bremische Bürgerschaft: Bericht des Untersuchungsausschusses vom 18.04.2007, Drucksache 16/1381, Download www.radiobremen.de/magazin/politik/fall_kevin/abschlussbericht.
5. Fachbeiträge unter: www.drogenberatung-jj.de
6. Vgl. Newsletter Zentrum frühe Hilfen (NZFH) August/Sept. 2008.