Potenziale für Versorgung entfesseln
Mit Hochdruck arbeitet das Bundesgesundheitsministerium (BMG) an einem Gesetz, das das Potenzial hat, ein echter Meilenstein für die Pflege zu werden: am Pflegekompetenzgesetz. Erste, vorläufige Eckpunkte hatte Bundesminister Karl Lauterbach den Verbänden auf den weihnachtlichen Gabentisch gelegt. Unter ihrer breiten Beteiligung - neben den Berufsverbänden der Pflege sind die Leistungserbringer, die Pflegekassen und die Vertretungen der Ärzteschaft mit am Tisch - sollen in Deutschland bislang ungenutzte Kompetenzen der Pflegefachkräfte gehoben und ihre Potenziale für die Versorgung buchstäblich entfesselt werden. Wahrscheinlich bedurfte es des Fachkräftemangels und der gegenwärtigen Krise des Gesundheitssystems, um der alten Erkenntnis zum Durchbruch zu verhelfen, dass Pflegekräfte in diesem Land durch ihre Ausbildung vieles können, was sie rechtlich aber nicht dürfen. Die Aufhebung der vielfachen Reglementierungen der Kompetenzen von Pflegefachkräften ist das erklärte Ziel dieses Gesetzes. Was ist nun in den Eckpunkten vorgesehen, und wie ist dies zu bewerten?
◆ Häusliche Krankenpflege (HKP): Pflegefachkräfte sollen künftig mehr Befugnisse im Rahmen der HKP erhalten mit der Perspektive, auf der Grundlage ihrer vorhandenen Kompetenzen eigenverantwortlich HKP-Verordnungen ausstellen zu können.
Vorsichtige erste Schritte zu einer Kompetenzerweiterung ist der Gesetzgeber mit der Blankoverordnung gegangen. Diese kam im Rahmen des Gesetzes zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung (GVWG), auf den letzten Metern der vergangenen Legislaturperiode verabschiedet, aufs Gleis. Mit einer Blankoverordnung können Pflegefachkräfte auf der Grundlage einer ärztlichen Indikation bestimmen, wie die entsprechende ärztlich verordnete Maßnahme nach Art und Häufigkeit umgesetzt werden soll. Um ein praktisches Beispiel zu geben: Hat die Ärztin eine Wunde festgestellt, können Pflegefachkräfte bestimmen, welches Wundmaterial zur Versorgung zu verwenden ist und wie häufig es gewechselt werden muss.
Noch kaum aber war die Möglichkeit zur Blankoverordnung gewonnen, war sie auch wieder zerronnen. Denn die Blankoverordnung wurde an die Voraussetzung geknüpft, dass Pflegefachkräfte, die sie nutzen wollen, eine spezifische Eignung aufweisen müssen. Dabei haben Pflegefachkräfte diese Eignung schon aufgrund ihrer Pflegeausbildung. Um beim Beispiel zu bleiben: Sehr häufig müssen ärztliche Verordnungen bezüglich Art und Häufigkeit der Wundversorgung angepasst oder korrigiert werden, um die Patient:innen optimal behandeln zu können. Gleiches gilt für Verbandswechsel oder die Verordnung von Hilfsmitteln wie etwa Inkontinenzmaterialien. Was jeweils für eine gute Versorgung erforderlich ist - und auf der Verordnung vermerkt sein muss - können Pflegefachkräfte meist besser beurteilen als Ärzt:innen. Die Anpassung von Verordnungen produziert überdies überflüssige Bürokratie, sowohl bei den Ärzt:innen als auch bei den Pflegekräften. Ergo: Das Erfordernis des Nachweises der Eignung für die Verordnung von HKP oder Hilfs- beziehungsweise Pflegehilfsmitteln muss mit dem Pflegekompetenzgesetz ersatzlos gestrichen werden. Dafür setzen sich die Caritas und die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) vehement ein.
◆ Pflegeprozesssteuerung: Das Pflegekompetenzgesetz möchte des Weiteren eine Kernaufgabe von Pflegekräften gesetzlich regeln: einen pflegegradunabhängigen Rechtsanspruch auf Pflegeprozesssteuerung. Sie ist die Grundlage der pflegerischen Versorgung und umfasst Zielvereinbarungsgespräche mit den pflegebedürftigen Menschen und ihren Angehörigen, das Erstellen eines Pflege- und Versorgungsplans und das Koordinieren mit den weiteren Leistungserbringenden wie zum Beispiel Ärzt:innen, Physiotherapeut:innen oder der Tagespflege. Hinzu kommt die Steuerung der Versorgungsprozesse gegebenenfalls über Fallbesprechungen, insbesondere bei jeder deutlichen Änderung des Gesundheitszustands. Es liegt auf der Hand, dass Pflegeprozesssteuerung somit konkret sowohl im SGB V im Kontext der HKP als auch im SGB XI verankert werden muss. Hierfür hat die BAGFW konkrete Umsetzungsvorschläge entwickelt. Wichtig ist, dass alle pflegebedürftigen Menschen einen solchen Rechtsanspruch einschließlich Erst- und Folgegesprächen erhalten - seien sie durch Pflegedienste versorgt oder ausschließlich, wie beim Gros der Pflegebedürftigen der Fall, durch ihre An- und Zugehörigen.
◆ Prävention: Dringend gilt es die Potenziale der Prävention und Rehabilitation zu heben, sowohl in der häuslichen als auch in der stationären Pflege. Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff - vor nunmehr bald zehn Jahren eingeführt - macht hier Vorgaben, die in der Praxis bei weitem noch nicht mit Leben gefüllt sind. Präventive Potenziale zu heben, betrifft dabei nicht nur die pflegebedürftigen Menschen, sondern auch ihre An- und Zugehörigen, die im Rahmen der Gesundheitserziehung ("Edukation") bezüglich der Pflege angeleitet, in ihren Pflegekompetenzen gestärkt sowie vor Überforderung geschützt werden müssen. Dieser Aspekt ist in den Eckpunkten unterbelichtet - Caritas und BAGFW setzen sich hier für die richtigen Weichenstellungen im Gesetz ein. Dazu gehört auch das Etablieren eines Rechtsanspruchs auf Pflegekurse für Angehörige und ehrenamtliche Pflegepersonen und auf die Schulung in der Häuslichkeit. Es darf nicht länger die Regel sein, dass man in der richtigen Pflegekasse sein muss, die zufällig einen Vertrag mit dem Pflegedienst geschlossen hat, um in den Genuss dieses Schulungs- und Kursangebots zu kommen. Caritas und BAGFW setzen sich vehement dafür ein, diesen Aspekt, der noch nicht Gegenstand der Eckpunkte ist, im Pflegekompetenzgesetz zu berücksichtigen.
◆ Ein echtes Highlight der Eckpunkte ist die in Aussicht gestellte eigenverantwortliche Ausübung von Heilkunde durch Pflegefachkräfte als Regelversorgung. Jahrelang wurde fruchtlos versucht, entsprechende Modellvorhaben nach § 63 Abs. 3 c und § 64 d SGB V umzusetzen. Sie scheiterten nicht zuletzt daran, dass stets unklar blieb, in welchen Bereichen Pflegefachkräfte, die im Rahmen dieser Modellvorhaben entsprechende zusätzliche Kompetenzen erworben haben, tatsächlich eingesetzt werden können.
Das BMG hat sich entschieden, die Modellvorhaben zur Heilkundeübertragung aufzuheben und Pflegefachkräften, die entsprechende Kompetenzen im Rahmen der Weiterqualifizierung erworben haben, zu erlauben, diese gleich in der Regelversorgung auszuüben. Versorgungstechnisch würde die Heilkundeübertragung es Pflegediensten künftig ermöglichen, Pflegefachkräfte mit einer Weiterqualifizierung als spezialisierte Pflegefachkräfte des Qualifikationsniveaus 4 (QN 4) einzusetzen: als Wundmanager:innen, Diabetesmanager:innen oder Schmerzmanager:innen. Ein solches Portfolio würde die ambulante und stationäre Versorgung und die interprofessionelle Zusammenarbeit der Gesundheitsfachberufe auf zukunftsfähige Füße stellen. Die erforderliche Zusatzausbildung der Pflegefachkräfte muss aus Sicht der Caritas über den Ausbildungsfonds refinanziert werden. Zur Umsetzung bedarf es zudem umfangreicher Änderungen im Beruferecht, im Leistungs- sowie im Leistungserbringungsrecht, für die die BAGFW konkrete Vorschläge unterbreitet hat.
◆ Advanced Practise Nursing (APN): Mit APN würden auch hierzulande Pflegefachkräfte künftig die erste Anlaufstation und das Rückgrat der medizinisch-pflegerischen Versorgung bilden, wie es in Ländern wie Kanada oder Schweden längst üblich ist: Dort werden Menschen mit stabilen chronischen Erkrankungen im Sinne eines Case-Managements durch Pflegefachkräfte mit erweiterter Heilkundebefugnis versorgt. Diese können aufgrund ihrer Kompetenzen entscheiden, ob im Bedarfsfall ärztliche oder andere Gesundheitsfachprofessionen zur Versorgung hinzugezogen werden müssen.
Mitwirkung an der Gesundheitsförderung
Ein weites Aufgabenfeld von Pflegefachkräften im Allgemeinen und APN im Besonderen liegt in Prävention, Gesundheitsförderung und der Stärkung der Gesundheitskompetenz aller Bürger:innen. Die Aufgabenübertragung würde das deutsche Gesundheitssystem, das zunehmend in die Krise gerät, zukunftsfähig aufstellen.
Das im Dezember 2023 in Kraft getretene Pflegestudiumstärkungsgesetz ermöglicht es hochschulisch ausgebildeten Pflegefachpersonen (Bachelor-Niveau), heilkundliche Aufgaben in der chronischen Wundversorgung, bei Diabetes und Demenz auszuführen. Künftige APN erwerben zusätzlich einen Berufsabschluss auf Master-Niveau, der sie zur eigenverantwortlichen und selbstständigen Heilkundeausübung befähigt und zur Führung von ärztlich oder pflegegeleiteten Einrichtungen berechtigt.
Ein solcher Umbau des Systems bedarf eines mehrjährigen und mehrstufigen Prozesses. Um ihn in Gang zu setzen, sehen die Eckpunkte vor, dass hochschulisch primärqualifizierte Pflegefachpersonen mit Bachelor-Abschluss die Möglichkeit erhalten, sich in den nächsten Jahren mittels eines Stipendienprogramms auch verstärkt im Ausland auf Master-Niveau zu qualifizieren. Entscheidend für die Praxis wird es sein, Klarheit über die Einsatzfelder der akademisch ausgebildeten Pflegefachkräfte zu schaffen und damit eine berufliche Perspektive für die Höherqualifizierung aufzuzeigen. Hier sehen die Eckpunkte vor, dass - im Rahmen des Personalbemessungsverfahrens in der Langzeitpflege in vollstationären Einrichtungen - hochschulisch qualifizierte Pflegefachkräfte über die geltenden Personalschlüssel hinaus beschäftigt werden können, wenn sie mit mindestens 50 Prozent ihrer Arbeitszeit in der direkten Pflege tätig sind.
Einen Gesetzentwurf zum Pflegekompetenzgesetz soll es bis zur Sommerpause geben. Damit wird eines der bedeutsamsten Gesetze der letzten Jahrzehnte auf den Weg gebracht, das der Pflege den Platz im deutschen Gesundheitssystem verschafft, der ihr angemessen, aber bislang versagt ist. Caritas und BAGFW werden den Bundesgesundheitsminister und das BMG auf dem Weg zu diesem Ziel weiterhin tatkräftig unterstützen.