Caritas-Vision für Europa nach der Wahl
In Deutschland war das Erschrecken nach der Europawahl groß über das Erstarken der AfD und anderer nationalistischer Parteien. Doch das Gesamtergebnis relativiert diesen Eindruck: Weiterhin halten die gemäßigten Parteien der Mitte eine stabile Mehrheit im Europäischen Parlament. Der Deutsche Caritasverband hatte sich im Vorfeld für ein friedliches, solidarisches und nachhaltiges Europa eingesetzt und zur Wahl aufgerufen. In der hitzigen Diskussion vor der Wahl ging es jedoch oft weniger um die Ausrichtung der europäischen Politik, sondern um die Zustimmung zur oder Ablehnung der EU als Ganzes. Gerade rechtspopulistische, nationalistische und antidemokratische Strömungen haben gegen die Zusammenarbeit auf europäischer Ebene Stimmung gemacht.
Der Deutsche Caritasverband ist dagegen überzeugt, dass die grenzüberschreitenden, komplexen Herausforderungen und sich überlappenden Krisen dieser Zeit nur gemeinsam bewältigt werden können. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine erinnert zudem daran, dass Frieden auch in Europa nicht selbstverständlich ist. Mit dem europäischen Netzwerk Caritas Europa arbeitet der Deutsche Caritasverband intensiv daran, das Friedensprojekt Europäische Union zu erhalten und nachhaltig zu stärken.
Im Rahmen seiner Kampagne "Frieden beginnt …" hat der DCV aktiv für eine verantwortungsvolle Teilnahme an der Europawahl geworben. Die Kontaktstelle Politik Europa des DCV hat neben einem politischen Forderungspapier auch einen Orientierungsrahmen gegen populistische, nationalistische und antidemokratische Forderungen veröffentlicht (beide Papiere sind abrufbar unter www.caritas.de/wahlen).
Rund 360 Millionen Menschen waren im Juni in der Europäischen Union zur Wahl aufgerufen, davon gut 60 Millionen allein in Deutschland.1 Über die Hälfte aller Wahlberechtigten ging zu den Urnen.
Die Berichterstattung in den deutschen Medien nach der Wahl war stark national geprägt und stellte vor allem den Erfolg der AfD in den ostdeutschen Bundesländern in den Mittelpunkt. Aus europäischer Perspektive ergibt sich ein deutlich differenzierteres Bild. Zwar konnte der rechte Rand des EU-Parlaments Abgeordnete hinzugewinnen, die proeuropäischen, gemäßigten Parteien halten jedoch weiterhin eine stabile Mehrheit.
Forderungen entscheidend für AfD-Wähler:innen
Doch auch in Deutschland ist es angebracht, die Wahlergebnisse genauer zu analysieren und vorgefertigte Annahmen zu hinterfragen. Beispielsweise gibt es eine klare Korrelation zwischen Wahlbeteiligung und Ergebnissen der AfD: In Bezirken mit hoher Wahlbeteiligung ist oftmals die AfD besonders stark.2 Eine Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen liefert Stoff zum Nachdenken: 66 Prozent aller Befragten nehmen an, die AfD werde gewählt, um anderen Parteien einen Denkzettel zu verpassen. 70 Prozent der AfD-Wähler:innen hingegen nennen die politischen Forderungen der AfD als Grund für ihre Wahlentscheidung.3 Auch die Caritas sollte sich in ihrer Nacharbeit der Europawahlen ehrlich mit gesellschaftlichen Entwicklungen auseinandersetzen und keine voreiligen Schlüsse ziehen.
Im EU-Parlament skizzierte die neu gewählte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen schon im Juli ihre Leitlinien4 für die nächsten fünf Jahre. Sie möchte an das in den vergangenen fünf Jahren Erreichte anknüpfen und kündigte an, sich auf die Umsetzung und Implementierung der vielen neuen EU-Regelungen fokussieren zu wollen - von den Regulierungen im digitalen Bereich über die Umsetzung des Migrations- und Asylpakts bis hin zur Europäischen Säule sozialer Rechte. In ihren Leitlinien sind daher wenig Hinweise auf neue große Legislativ-Akte zu finden, jedoch zahlreiche neue Strategien. Wichtig ist ihr, dass der Europäische Grüne Deal mit seinen zahlreichen Maßnahmen zum Schutz des Klimas, den die Caritas stark unterstützt, weitergeführt wird. Beispiele für caritasrelevante Initiativen, die von der Leyen ankündigt, sind:
◆ eine Überarbeitung des EU-Klimagesetzes, um das Emissionsreduktionsziel bis 2040 auf 90 Prozent festzusetzen, sowie ein Klima-Anpassungsplan;
◆ ein europäischer Aktionsplan für Cybersicherheit für Krankenhäuser und Gesundheitsdienstleister, eine Strategie für eine Europäische Daten-Union sowie eine Strategie zur Anwendung von KI
◆ eine Überarbeitung der europäischen Vergabeverordnung;
◆ eine EU-Strategie für Migration und Asyl und die Stärkung des europäischen Grenzmanagements sowie die Öffnung legaler Zuwanderungswege;
◆ ein neuer Aktionsplan zur Umsetzung der Europäischen Säule sozialer Rechte, eine europäische Anti-Armuts-Strategie und ein europäischer "Affordable Housing"-Plan sowie Investitionen in Wohnraum.
Zudem skizzierte sie erste Ideen, wie der EU-Haushalt ab 2028 aufgebaut sein soll: EU-Gelder sollen fokussierter und über weniger Programme umgesetzt werden. Pro Mitgliedstaat soll ein Gesamtplan für EU-Förderung aufgestellt werden. Zudem sollen EU-Gelder stärker an Rechtsstaatlichkeit geknüpft werden. Über humanitäre Hilfe wird in den Leitlinien wenig gesagt.
Der Deutsche Caritasverband hat eine Vision entwickelt, wie die Europäische Union aussehen soll: friedlich, solidarisch und mit einem sozialen und nachhaltigen Binnenmarkt. Daraus ergibt sich prioritärer Handlungsbedarf in folgenden Bereichen:
◆ Wirtschaftliche und soziale Unterschiede weltweit und innerhalb Europas müssen abgebaut und zivilgesellschaftliche Strukturen gestärkt werden. Die Europäische Kohäsionspolitik und insbesondere der ESF sind dafür eine unabdingbare Grundlage und müssen im Rahmen der anstehenden Haushaltsverhandlungen gestärkt werden. Dazu gehören eine radikale Vereinfachung aller EU-Fonds, der Abbau von Hindernissen im EU-Beihilfenrecht sowie eine Verpflichtung auf soziale und nachhaltige Kriterien im EU-Vergaberecht. Der Ausbau moderner digitaler Infrastruktur muss vorangetrieben und gesellschaftlich relevante Daten müssen stärker genutzt werden.
◆ Armut, soziale Ungleichheit und Benachteiligung in der EU müssen bekämpft werden. Dafür muss in der anlaufenden Legislaturperiode weiter an einem rechtsverbindlichen Rahmen für nationale Grundsicherungssysteme gearbeitet werden. Gute EU-Initiativen wie die Europäische Strategie für Pflege und Betreuung, die EU-Kinderrechtsstrategie oder die Europäische Garantie für Kinder müssen effizient und vollständig umgesetzt werden. Legale Migrationswege müssen ausgebaut und die positiven Erfahrungen aus der Anwendung des Temporären Schutzstatus für eine Neuausrichtung der EU-Asylpolitik genutzt werden.
◆ Der Europäische Grüne Deal muss konsequent und sozial gerecht umgesetzt werden. Dies beinhaltet auch eine ambitionierte Ausgestaltung von Energieeffizienzvorgaben sowie den europaweiten Ausbau des schienengebundenen öffentlichen Verkehrs. Die Klimakrise muss als Ursache humanitärer Krisen weltweit bekämpft werden. Finanzmittel der humanitären Hilfe müssen kontinuierlich und zweckungebunden bereitgestellt werden.
Der Deutsche Caritasverband wird sich mit seiner Kontaktstelle in Brüssel und gemeinsam mit Caritas Europa, der BAGFW und vielen weiteren Partnern in den nächsten Jahren für eine starke und sozial ausgestaltete Europäische Union einsetzen.
1. Eurostat-Daten zu Wahlberechtigten unter Kurzlink: https://tinyurl.com/nc17-24-wahlberechtigte
2. Für die Datenanalyse vergleiche die von der Tagesschau zusammengetragenen Analysen und Statistiken unter Kurzlink: https://tinyurl.com/nc17-24-wahlbeteiligung
3. Vgl. Analyse der Forschungsgruppe Wahlen für das ZDF, Kurzlink: https://tinyurl.com/nc-17-24-wahlentscheidung
4. Von der Leyen, U.: "Europe’s Choice. Political Guidelines for the next European Commission 2024-2029", Kurzlink: https://tinyurl.com/nc17-24-eu-leitlinien