Wellen, Wind und Wir-Gefühl
Ruben liebt das Meer. Immer wieder läuft er den Wellen entgegen und hält seine Nase in den Wind - gut eingepackt in Kapuze, Regenjacke und Gummistiefel.
Seine Mutter Sabine Starke lächelt und wirkt entspannt. Das Wochenende an der Ostsee tut ihr und den beiden vierjährigen Zwillingskindern gut. "Valerie versteht noch nicht, dass ihr Bruder das Down-Syndrom hat", sagt die Mutter, "aber natürlich merkt sie, dass er bestimmte Dinge nicht kann oder nicht so gut kann wie sie. Sie hilft ihm und hinterfragt das nicht weiter." Von fremden Menschen bekomme die Familie im Alltag dagegen oft zu hören: "Wie, das sind Zwillinge? Das kann doch gar nicht sein!" Die Kinder sind unterschiedlich groß und von der Entwicklung unterschiedlich weit.
Dominik Wystup hatte die Idee zu „Down & Mee(h)r“. Heute leitet er das Projekt. Geert Maciejewski
Dominik Wystup kennt das. Er leitet das Projekt Down & Mee(h)r der Caritas. "Es tut gut, sich hier nicht ständig erklären zu müssen. Hier sind wir als Familie normal und fallen nicht weiter auf." Seine Tochter Johanna-Dorothea, genannt JoDo, ist 13 und hat ebenfalls das Down-Syndrom.
Eine Eltern-Kind-Kur mit ihr brachte ihn auf die Idee für das Projekt Down & Mee(h)r, das er 2019 gestartet hat. Inzwischen gibt es Wochenenden für Frauen, Alleinerziehende und Familien sowie Familienurlaub und Themenwochenenden. Dominik Wystup entwickelte das Konzept gemeinsam mit Schwester Monika von der Behindertenseelsorge des Erzbistums Berlin - zunächst als private Initiative, seit diesem Jahr in Trägerschaft der Caritas. Zwar gibt es Sponsoren wie das Erzbistum Berlin und das Bonifatius-Werk, dennoch ist Down & Mee(h)r auch auf auf Spenden angewiesen.
"Fürs Familienwochenende zahlt jede Familie 20 Euro Kursgebühr plus Unterkunft und Verpflegung", erklärt der Projektleiter. "Natürlich deckt das unsere Kosten nicht."
60 Menschen sind diesmal angereist, die meisten aus Berlin. Ein Drittel von ihnen sind Kinder zwischen zwei und 18 Jahren alt. Nicht alle haben Down-Syndrom, es sind auch Geschwisterkinder mit "Normal-Syndrom" dabei, wie Dominik Wystup sagt.
Die Eltern können sich austauschen und sich gegenseitig Tipps geben – sie fühlen sich verbunden. Geert Maciejewski
"Einfach spitze, dass du da bist", wird beim gemeinsamen Eröffnungsabend gesungen. Erwachsene und Kinder sitzen im Kreis, manche haben ihre Kuscheltiere mitgebracht. Ein kleines Mädchen mit knallroter Brille geht herum und umarmt alle Anwesenden. "Kinder mit Down-Syndrom sind oft offener und unbefangener als andere", erklärt Dominik Wystup. "Aber es gibt auch bei ihnen ein breites Spektrum. Manche sind verschlossen und brauchen viel Ruhe. Und manchmal wechseln die Phasen einander schnell ab." Das erinnert ihn ans Meer: Mal ist es aufgewühlt, mal zieht es sich zurück. "Hier bei uns darf jeder sein, wie er will. Alles kann, nichts muss," sagt er. "Meine Aufgabe ist es, das zu organisieren. Der Rest passiert so, wie der liebe Gott es fügt."
Während am nächsten Tag die Kinder betreut werden, sitzen die Eltern zusammen und geben sich in Workshops gegenseitig Tipps, etwa zum Thema "Wutanfall des Kindes."
Lorenz, 13, sitzt im Schneidersitz auf der Tischtennisplatte und schmettert die Bälle lässig zum Betreuer Oliver rüber. Zack, schon landet ein Ball auf der Kante. Oliver hat keine Chance, ihn zu kontern. Lorenz ist außer sich vor Freude. "Ich habe Übung", sagt er, "zu Hause spiele ich oft Tischtennis.
Ein paar Meter weiter schallt es von der Rutschbahn auf dem Spielplatz: "Auf geht die wilde Fahrt!" Ein Mädchen schaukelt mit ihrem Kuscheltier. Im Sandkasten baut JoDo mit Betreuerin Johanna einen Tunnel.
Sechzehn ehrenamtliche Betreuer und Betreuerinnen sind für etwa 20 Kinder zuständig. Katja Heiden organisiert das Team. "Die Kinder spüren, dass wir es gut mit ihnen meinen und sind deshalb so herzlich zu uns", sagt sie. "Die bringen uns ganz viel Vertrauen entgegen. Wir können denen nichts vormachen und die können uns nichts vormachen. Das ist das Schöne, dass hier alles mit Ehrlichkeit und ganz viel Liebe abgeht.".
Einige Kinder mit Down-Syndrom sind besonders offen und unbefangen, andere brauchen mehr Ruhe.Geert Maciejewski
Wie zur Bestätigung ruft ein Kind: "Mann, ich will jetzt los!" Die Gruppe hat sich mit Bollerwagen, Eimern und Schaufelchen für den Strand gerüstet. Es geht durch einen kleinen Wald, wo es nach Kiefernadeln duftet. Man hört das Meer, noch bevor es hinter den Dünen auftaucht.
Die Kinder rennen sofort los, fangen an zu buddeln und stechen mit ihren Förmchen "Sandkuchen" aus. Die Erwachsenen machen es sich auf Decken gemütlich. Es gibt Kaffee, Tee, Kakao und Kekse. "Herrlich", finden Manuela Frenz und ihr Mann Henrik. Sie sind mit ihrem zehnjährigen Sohn Julius schon zum vierten Mal hier. "Wenn es den Eltern gut geht, geht es auch den Kindern gut", sagt Manuela. "Es ist hier wie im Urlaub, aber eben nicht so steif wie im Hotel."
Unter den Eltern sind über die Jahre Freundschaften gewachsen.
"Uns verbindet halt sehr viel", erzählt Dominik Wystup. "Wir müssen immer kämpfen, uns mit Ämtern, Kitas und Schulen herumschlagen. Man entwickelt eine gewisse Gelassenheit mit einem Down-Syndrom-Kind. Irgendwie sind hier alle cool."
Die Kinderbetreuerin Carolina Olomi findet, dass das Zusammensein eine besondere Magie hat.
Auf die Frage, wie es ihm gefallen hat, hält Lorenz den Daumen hoch. Er wird nächstes Jahr mit seiner Mutter Mechtild wiederkommen und freut sich jetzt schon aufs Tischtennisspielen und aufs Meer.
Text: Carmen Gräf