Wie nutzerorientiert ist die Onlineberatung?
Soziale Dienstleistungen sollen sich konsequent an den individuellen Bedarfen, Präferenzen und Wünschen der Adressat:innen ausrichten. Diese Forderung findet in Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit meist große Zustimmung. Doch so naheliegend der Wunsch sein mag, wo immer möglich standardisierte durch individuelle und passgenau zugeschnittene Angebotsformen zu ersetzen, werden im Fachdiskurs um das Konzept der Nutzerorientierung als Leitidee für die Soziale Arbeit durchaus unterschiedliche Auffassungen darüber vertreten, wie sich eine solche Praxis angesichts der spezifischen Bedingungen der Erbringung sozialer Dienstleistungen konkret umsetzen lässt und wo entsprechende Forderungen - auch aus fachlichen Gründen - an ihre Grenzen stoßen.1 Der Blick in die Praxis der Sozialen Arbeit macht schnell deutlich, dass es hier mit einer Nutzerorientierung oft nicht weit her ist. Die Feststellung trifft zu: "Was selbstverständlich erscheint, ist in der Realität die Ausnahme oder zentrale Herausforderung - insbesondere auch, da Nutzergruppen und ihre Bedarfe nicht statisch sind, sondern sich dynamisch entwickeln und verändern."2
Eindrücklich lässt sich dies auch und gerade am Beispiel der Onlineberatung zeigen. Dass die Telefonseelsorge im Jahr 1995 das wohl erste Onlineberatungsangebot in Deutschland etablierte, kann man durchaus als Innovation bezeichnen. Den Ratsuchenden wurden mit der Onlineberatung insbesondere per E-Mail, darüber hinaus aber auch per Chat und Foren sowie später per SMS und Messenger-Dienste neue Zugänge und Wege der Beratung eröffnet, mit denen die zunehmende Verbreitung neuer Formen der Kommunikation frühzeitig aufgegriffen und genutzt wurde. Mit wie viel Offenheit für Erfahrungen und Mut zur Improvisation die Telefonseelsorge damals vorgegangen ist, lassen die Erinnerungen von Birgit Knatz, einer Pionierin der Onlineberatung in Deutschland, erahnen: "Es war relativ abenteuerlich: längst nicht alle Beratenden hatten schon eigene PCs, geschweige denn einen E-Mail-Account. So wurden die eingegangenen Mails ausgedruckt, an die Berater und Beraterinnen geschickt und von ihnen handschriftlich beantwortet. Diese Texte wurden dann in den Dienststellen in die Antwortmail getippt."3
In den folgenden Jahren kam es zu einer zunehmenden Verbreitung der Onlineberatung sowie über die Entwicklung von Qualitätsstandards und Qualifizierungsangeboten zu einer fortschreitenden Professionalisierung. Hierzu trugen auch die Etablierung einer frei zugänglichen Zeitschrift für Onlineberatung und computervermittelte Kommunikation (www.e-beratungsjournal.net) sowie die Gründung der - wie sie heute heißt - "Deutschsprachigen Gesellschaft für psychosoziale Online-Beratung (DGOB)" bei.
Mit veränderten Anforderungen nicht Schritt gehalten
Allerdings blieb die Onlineberatung fast ausschließlich textbasiert, Videoberatung spielte lange Zeit kaum eine Rolle. Dies änderte sich erst mit der Coronapandemie, durch die diese innerhalb kürzester Zeit stark zunahm. Für viele Beratungsstellen war Videoberatung allerdings lediglich eine Notlösung, mit der sich die Erwartung verband, der "normalen" Beratung während der Pandemie zumindest so nahe wie möglich kommen zu können. So überrascht es nicht, dass viele Berater:innen nach der Pandemie so rasch wie möglich zur "Normalität" zurückgekehrt sind.
Abgesehen von der Tatsache, dass zwischen Video- und Face-to-Face-Beratung in Präsenz zwar in der Tat Gemeinsamkeiten, aber eben doch auch erhebliche Unterschiede bestehen, muss der Umstand, dass viele Beratungsstellen auf den Einstieg in die Videoberatung kaum vorbereitet waren, auch als Hinweis darauf gewertet werden, dass die Onlineberatung mit wesentlichen Entwicklungen der digitalen Transformation und
den sich verändernden Gewohnheiten und Anforderungen der Adressat:innen nicht Schritt gehalten hat.
Wir wechseln heute ständig zwischen den Kanälen
Die Art und Weise, wie Menschen kommunizieren, hat sich durch die Digitalisierung längst grundlegend verändert. Wir nutzen für unsere alltägliche Kommunikation in unterschiedlichen Kontexten immer selbstverständlicher auch digitale Kanäle und wechseln zwischen den Kommunikationsformen, je nachdem, was unseren Vorlieben, Gewohnheiten sowie Vorstellungen über die Angemessenheit in einem bestimmten Kontext entspricht und welche Möglichkeiten uns zur Verfügung stehen. Dieser Hybridisierung unserer alltäglichen Kommunikation, mit der die Grenzen zwischen analoger und digitaler Kommunikation mehr und mehr verschwimmen beziehungsweise mit der die Dichotomie zwischen analog und digital immer weniger dazu geeignet ist, die Art und Weise, wie immer mehr Menschen heute kommunizieren, angemessen zu erfassen, hat die Praxis der psychosozialen Beratung lange Zeit jedoch kaum Rechnung getragen.
Trotz einer fortschreitendenden Institutionalisierung der Onlineberatung ist diese in vielen Fällen dem Eindruck nach noch immer nicht wesentlich über den Status eines "Add-on", eines zusätzlichen Werkzeugs, hinausgekommen. Nach wie vor wird in vielen Beratungsstellen organisatorisch klar zwischen der klassischen Face-to-Face-Beratung in physischer Präsenz und der Onlineberatung unterschieden und darüber hinaus der Face-to-Face-Beratung auch eine größere Bedeutung zugesprochen. Hier wird der weit verbreitete Mythos der "Unmittelbarkeit im Face-to-Face-Kontakt" gegenüber medial vermittelten Beratungsformaten wirksam: "Diese Gegenüberstellung geht im fachlichen Diskurs dann nicht selten mit einer zumindest latenten Abwertung jener Beratungsformate einher, die mittels technischer Medien realisiert werden. Die nicht notwendige Kanalreduktion wird dabei häufig als Grund angeführt, weshalb die Beratung von Angesicht zu Angesicht auf der einen Seite der Telefonberatung, Mailberatung und Chatberatung auf der anderen Seite überlegen sei. Dies wird dem komplexen Gegenstandsfeld professioneller Beratung jedoch nicht gerecht und stellt sich bei näherer Betrachtung sogar als unzutreffend heraus."4
Ratsuchende müssen unter 21 Beratungsbereichen auswählen
Zudem kann bei vielen Onlineberatungsangeboten von einem einfachen und niedrigschwelligen Zugang aus Sicht der Nutzer:innen nur bedingt die Rede sein. Auch das Onlineberatungsangebot der Caritas macht hier keine Ausnahme.5 Aktuell ist die "Online-Beratung der Caritas" noch immer überwiegend auf die Beratung per Mail ausgerichtet, wobei in manchen Bereichen, etwa bei der Schuldnerberatung für junge Leute oder der Schwangerschaftsberatung, zu bestimmten Zeiten immerhin auch eine Chatberatung angeboten wird. Um das Angebot nutzen zu können, müssen die Nutzer:innen zunächst aus einer Liste mit 21 Beratungsbereichen den Bereich auswählen, in dem sie eine Frage stellen wollen. Bereits dieser erste Schritt dürfte angesichts oft komplexer Problemlagen für viele von ihnen eine gewisse Herausforderung darstellen, die im Widerspruch zu einer einfachen und intuitiven Nutzung steht. Im weiteren Verlauf müssen sich die Nutzer:innen dann anonym registrieren und ihre Postleitzahl angeben. Diese Anforderungen wiederum dürften bei vielen Nutzer:innen, auch wenn es dafür "gute Gründe" wie etwa datenschutzrechtliche Erfordernisse geben mag, zumindest Skepsis und Verunsicherung hervorrufen und nicht selten auch zum vorzeitigen Kontaktabbruch führen.6
Aus einer nutzerorientierten Perspektive besteht die zentrale Herausforderung für die psychosoziale Beratungspraxis zum einen darin, ein niederschwelliges und in Bezug auf digitale Kanäle einfach und intuitiv nutzbares Beratungsangebot vorzuhalten - zum anderen darin, der veränderten kommunikativen Praxis vieler Nutzer:innen konsequent dadurch Rechnung zu tragen, dass die bislang weitgehend getrennt angebotenen Formen der "Offlineberatung" und der Onlineberatung zusammengeführt werden und den Nutzer:innen ermöglicht wird, bei der Kontaktaufnahme wie auch während des Beratungsprozesses die von ihnen bevorzugten Kommunikationskanäle zu nutzen und gegebenenfalls zwischen diesen zu wechseln.
Diese Überlegungen sind keineswegs neu, sondern werden unter dem Stichwort "Blended Counseling" intensiv diskutiert. In der Praxis werden solche Konzepte bislang jedoch noch zu wenig umgesetzt. Die Gründe für diese Zurückhaltung sind vielfältig und reichen von fachlich-konzeptionellen Klärungsbedarfen, die nicht zuletzt auch Fragen des Umgangs mit den Bedürfnissen und Anforderungen unterschiedlicher Zielgruppen und mit dem eigenen Beratungsanspruch und -verständnis betreffen, über organisatorische, ressourcenbezogene und (datenschutz-)rechtliche Hürden bis zu der Herausforderung, eine angemessene Qualifizierung der Berater:innen sicherzustellen.7
Ist es der psychosozialen Beratungspraxis jedoch ein ernsthaftes Anliegen, sich den veränderten Anforderungen zu stellen, die aus der Hybridisierung unserer alltäglichen Kommunikation resultieren und die Ratsuchende mehr und mehr an eine Beratung stellen, wird sie rasch Wege finden müssen, diese Herausforderungen, so vielfältig diese auch sein mögen, zu bewältigen.
1. Vgl. Mairhofer, A.: Nutzerorientierung in der Sozialen Arbeit - Implikationen der Personenkonzepte Klient, Kunde und Bürger. Münster: Lit, 2014, S. 9.
2. Langer, A., Eurich, J.; Güntner, S.: Innovation Sozialer Dienstleistungen. Ein systematisierender Überblick auf Basis der EU-Forschungsplattform INNOSERV. Wiesbaden: Springer VS, 2018, S. 55.
3. Caritasverband Aschaffenburg e.V.: TelefonSeelsorge feiert 25 + 1 Jahre Online-Seelsorge. 2021. Verfügbar unter: www.ts-untermain.de/de/node/76 (Zugriff 5.7.2023).
4. Wenzel, J.: Mythos Unmittelbarkeit im Face-to-FaceKontakt - Weiterentwicklung von Beratung und Therapie durch gezielte methodische Nutzung der Medien. In: e-beratungsjournal.net Heft 1/2015, S. 36-54, hier S. 37, Kurzlink: https://t.ly/2H9OV (Zugriff 14.7.2023).
5. Deutscher Caritasverband e. V.: Die Online-Beratung der Caritas, www.caritas.de/hilfeundberatung/onlineberatung/onlineberatung (Zugriff 15. Juli 2023).
6. Vgl. dazu auch Weinhardt, M.: Offene Fragen an die Hilfeform Beratung im Spannungsfeld zwischen Digitalität und Digitalisierung. In: EthikJournal Ausgabe 1/2022, S. 8, Kurzlink: https://t.ly/o3iE_ (Zugriff 8.7.2023).
7. Vgl. Engelhardt, E. M.; Reindl, R.: Blended Counseling - Beratungsform der Zukunft? In: Resonanzen 2/2016, S. 130-144, Kurzlink: https://t.ly/tLFOt (Zugriff 15.6.2023).
Naher Osten: Menschlichkeit wagen
Attraktive Unternehmen können ihre Mitarbeitenden binden
Überzeugend auf Instagram und im Podcast
Berufsbegleitender Lehrgang: Gut vorbereitet für die Anerkennungsprüfung
Aus Pilotprojekten lernen
Wie die Caritas Spanien soziales Unternehmertum fördert
Hinterlassen Sie einen Kommentar zum Thema
Danke für Ihren Kommentar!
Ups...
Ein Fehler ist aufgetreten. Bitte laden Sie die Seite erneut und wiederholen Sie den Vorgang.
{{Reply.Name}} antwortet
{{Reply.Text}}