Mühsam, aber motivierend: die Arbeit an der Gemeinwohl-Bilanz
Am Anfang stand ein Organisationsentwicklungsprozess: Den vollzog von 2016 bis 2019 der Caritasverband für den südbadischen Landkreis Emmendingen. An seinem Ende stand eine Zukunftswerkstatt, um die Frage zu klären, was noch zu tun sei. Einhellig waren die Rückmeldungen sowohl von den Führungskräften als auch von den Mitarbeitenden: Der Verband solle ökologischer und nachhaltiger werden.
Im Anschluss bildete sich eine Arbeitsgruppe aus Mitarbeitenden der verschiedenen Tätigkeitsfelder des Verbandes (darunter zum Beispiel Soziale Dienste oder Hauswirtschaftsleitungen aus der stationären Pflege). Beim ersten Treffen im Mai 2020 gab sich die Gruppe den Namen "fön" - fair, ökologisch, nachhaltig. Man überlegte, dass einerseits konkrete Maßnahmen zu einer ökologischeren Ausrichtung des Verbandes erforderlich seien, andererseits wurde beschlossen, eine Bilanz im Rahmen der Gemeinwohl-Ökonomie (GWÖ) zu erstellen. So ging man von Beginn an zweigleisig vor: Es gab Einzelmaßnahmen, andererseits wurde an der Gemeinwohl-Bilanz gearbeitet. Zunächst schloss sich der Verband einer sogenannten "Peergroup" der GWÖ-Bewegung an - mit der Idee, die Bilanz im Austausch mit anderen Unternehmen zu entwickeln. Aufgrund der sehr unterschiedlichen Größe der beteiligten Organisationen erwies sich dies jedoch als nicht zielführend. Es wurde dann die Entscheidung getroffen, mit einer GWÖ-Beraterin einen eigenen Weg zu gehen. Hilfreich waren Zuschusszusagen des DiCV und des Zukunftsfonds der Erzdiözese Freiburg, die den Prozess mit insgesamt 14.000 Euro unterstützt haben. Mit dem Geld konnte ein Jahr lang eine 20-Prozent-Stelle finanziert werden, so dass die Ressourcen ausreichten, um die Bilanz zu erstellen.
Zunächst die Arbeitsbedingungen reflektieren
Das Herzstück der Gemeinwohl-Bilanz ist die Matrix. Auf der x-Achse finden sich die vier Werte der GWÖ (Menschenwürde; Solidarität und Gerechtigkeit; ökologische Nachhaltigkeit; Transparenz und Mitentscheidung), auf der y-Achse die Berührungsgruppen Lieferanten; Eigentümer und Finanzpartner; Mitarbeitende; Klient:innen und Mitunternehmen; gesellschaftliches Umfeld. So entstehen 20 inhaltlich zu beschreibende Felder.
Es lag nahe, dass die Gruppe "fön" mit den Mitarbeitenden beginnen wollte, denn sie bestand neben dem Geschäftsführer ausschließlich aus solchen. Es kam also zu einer Reflexion der Arbeitsbedingungen, was zeitweise das Gefühl einer "parallelen MAV" aufkommen ließ. Doch dank der souveränen Begleitung durch die Beraterin konnte die Motivation der Mitglieder aufrechterhalten und sogar noch gesteigert werden. So wurde die Arbeit des Caritasverbandes nach und nach anhand der Felder dokumentiert, wozu es einen langen Atem brauchte.
Die Schreib- und damit auch die Fleißarbeit fand von September 2021 bis Juni 2022 statt. Im Anschluss wurde die Bilanz beim Verein der Gemeinwohl-Ökonomie eingereicht. Nach zwei weiteren Monaten besuchten zwei Auditor:innen den Verband, um sie vor Ort zu überprüfen. Dabei führten sie Interviews mit Mitarbeitenden aus verschiedenen Tätigkeitsfeldern. Am Ende stand ein Ergebnis von 355 Punkten. Hierzu ist anzumerken, dass das System auch Minuspunkte kennt. Diese werden vergeben, wenn Organisationen umweltschädlich und nicht nachhaltig agieren. Die maximale Punktzahl liegt bei 1000. Mit 355 Punkten ist das erste Ergebnis für den Caritasverband Emmendingen also gut, mit noch viel Luft nach oben.1
Die Gemeinwohl-Bilanz ist ein ganzheitliches Instrument, um Unternehmen über die Handelsbilanz hinaus zu beschreiben. Ökologische Nachhaltigkeit bildet einen wichtigen Bestandteil, sie beschränkt sich aber nicht darauf. Die Ganzheitlichkeit führt zu einer hohen Motivation bei Führungskräften wie auch bei Mitarbeitenden, eine solche Bilanz zu erstellen. Zudem bietet sie Unternehmen die Möglichkeit, durch die Auditierung nachvollziehbar bewertet zu werden. Sie geht also über eine reine Berichterstattung hinaus. Das unterscheidet sie von anderen Instrumenten der immer wichtiger werdenden Nachhaltigkeitsberichterstattung.
Doch vom Beschreiben allein wird die Welt noch nicht besser. Zur Gemeinwohl-Bilanz gehört es auch, Ziele für die nächste Berichterstattung, die nach Ablauf von zwei Jahren fällig wird, zu formulieren. Das ist hilfreich, um sich als Verband kontinuierlich in Bezug auf die Werte der GWÖ zu verbessern - mühsam, aber auch motivierend.
Die Gemeinwohl-Bilanz ist auf dem Weg, ein anerkanntes Instrument im Rahmen der von der EU geforderten Nachhaltigkeitsberichterstattung zu werden. Wichtig ist, dass sich die Organisationen wirklich zugunsten der GWÖ-Werte verändern. Die Überprüfung dieser Berichterstattung sollte im Sinne einer fairen, ökologischen und nachhaltigen Weiterentwicklung nicht allein den Wirtschaftsprüfungsgesellschaften überlassen werden.
Gute Ergebnisse sollten den Unternehmen Vorteile bringen
Die Gemeinwohl-Bilanz ist ein seit über zehn Jahren entwickeltes Instrument, das mit nachprüfbaren Kriterien zu einer Bewertung kommt. In diesem Sinne sollte schon jetzt die Forderung aufgestellt werden, dass es nicht beim reinen Berichten bleiben sollte. Gute Ergebnisse in der Gemeinwohl-Bilanz sollten steuerliche Vorteile mit sich bringen, sie sollten bei Vergabeverfahren berücksichtigt werden und bei Finanzierungsverhandlungen eine Rolle spielen.
Der Caritasverband für den Landkreis Emmendingen beginnt derzeit, die gesteckten Ziele der ersten Bilanzierung umzusetzen. Die Mitglieder der Arbeitsgruppe "fön" gehen in alle Dienstgespräche, stellen die Bilanz vor und erfragen neue Ideen zur Weiterentwicklung des Verbandes. Ziel ist es, dass weitere Mitarbeitende in den Prozess der Weiterentwicklung im Sinne der GWÖ einbezogen werden. Auch ein "Werteforum" mit den Lieferanten ist geplant. Vor allem die externe Essensversorgung in der Pflegeeinrichtung mit 56 Plätzen entspricht nicht den Kriterien der GWÖ in Bezug auf die Lieferkette. Für die Großküche des Krankenhauses, die die Einrichtung beliefert, wäre eine Umstellung hin zu ökologischen und regionalen Produkten eine große Herausforderung.
Die Folgebilanzierung wird nicht weniger aufwendig sein als die erste Bilanz. So wird es Ressourcen brauchen, um zu einer Rezertifizierung zu kommen. Die 20-Prozent-Stelle für das Schreiben der Bilanz wird bestehen bleiben. Insgesamt sind für die erste Bilanz Kosten in Höhe von circa 20.000 Euro entstanden. Diese Summe wird auch für die Folgebilanz aufzubringen sein. Für die Handelsbilanz sind die Kosten jedoch wesentlich höher, da die Personalkosten für die Buchhaltung mitgerechnet werden müssen.
Es bleibt das Fazit, dass es sich gelohnt hat. Die Gemeinwohl-Bilanz bietet eine gute Grundlage für eine messbare Unternehmensentwicklung über die Handelsbilanz hinaus und für eine Zukunft, in der es sich gut leben und arbeiten lässt.
Attraktiv auch für Bewerber:innen
Nicht zu vergessen: Möglicherweise entscheiden sich in Zukunft Fachkräfte bewusst für gemeinwohlbilanzierte Unternehmen. Für ein neues Projekt zur Stärkung des Netzwerks in der Palliativversorgung hat der Caritasverband Emmendingen eine Stelle ausgeschrieben. Die vom Verband gewünschte Bewerberin hatte weitere Beschäftigungsoptionen. Dass der Verband im Rahmen der GWÖ zertifiziert ist, habe "den Ausschlag gegeben, zur Caritas zu kommen", so die Bewerberin.
Anmerkung
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