Geflüchtete Menschen mit Behinderung
Menschen mit Behinderung und Fluchtgeschichte gehören zu der Gruppe der besonders schutzbedürftigen geflüchteten Personen und haben ein Anrecht auf die notwendige medizinische Versorgung und Beratung. Höherrangiges Recht, wie beispielsweise die UN-Behindertenrechtskonvention oder die EU-Richtlinien, verpflichten staatliche Stellen, besonders schutzbedürftige geflüchtete Menschen zu identifizieren und bedarfsgerecht zu beraten und zu versorgen. Bisher ignoriert das deutsche Recht diese Vorgaben jedoch.1 Viele Behinderungen werden daher zu spät erkannt und es gibt keine verlässlichen Zahlen zum Anteil der geflüchteten Menschen mit einer Behinderung unter den Asylsuchenden in Deutschland. Erste Schätzungen durch die zivilgesellschaftliche Organisation Handicap International gehen derzeit von zehn bis 15 Prozent aus, wobei Traumatisierungen infolge von Flucht, Folter und Verfolgung nicht eingerechnet werden.2 Deshalb sind geflüchtete Menschen mit Behinderung durch vielfältige Barrieren von der gesellschaftlichen Teilhabe in Deutschland ausgeschlossen.
Für einen besseren Überblick über die Situation in den Fachdiensten des Deutschen Caritasverbandes wurde im Zeitraum vom 9. Juni 2019 bis 9. Juli 2019 eine Umfrage hinsichtlich der Beratung und Unterstützung von geflüchteten Personen mit Behinderung durchgeführt. Der Fragebogen richtete sich primär an Beratungsstellen und Einrichtungen im Bereich Flucht, Migration und Behinderung. Insgesamt haben 102 Einrichtungen und Dienste teilgenommen. Es gab Fragen zum Dienst, Fragen zum Beratungsangebot, Fragen zu den ratsuchenden geflüchteten Menschen mit Behinderung und Fragen zum Beratungsangebot.
Die Umfrageergebnisse zeigen, dass die Gruppe der geflüchteten Personen mit Behinderung in den Beratungsdiensten sehr heterogen ist. Sowohl junge als auch ältere Menschen, Männer und Frauen sowie Menschen mit verschiedenen Arten von Behinderungen kommen in die Beratungsstellen. In den letzten zwölf Monaten waren es circa 1360 Personen. Der größte Anteil der Personen wurde in den Flucht- und Migrationsstellen beraten, während die Behindertenhilfe und Teilhabeberatungsstellen selten die erste Anlaufstelle zu sein scheinen.
Viele kennen die Beratungsmöglichkeiten nicht
Problematisch ist die lange Zeitspanne, die vergeht, bis geflüchtete Personen mit Behinderung zum ersten Mal in den Unterstützungsstrukturen ankommen. Insbesondere in der Behindertenhilfe und der Migrationsberatung hat die Mehrzahl der Ratsuchenden einen anerkannten Schutzstatus. Das heißt, die Personen halten sich schon länger in Deutschland auf und erhalten Leistungen der gesetzlichen Krankenkassen. Personen, die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erhalten, sind dagegen in der Minderheit. Diesen stehen jedoch Leistungen nur bei akuten Erkrankungen und Schmerzzuständen zu. Alles, was darüber hinausgeht, muss in aufwendigen Verfahren beantragt werden. Oft kennen betroffene Personen die Beratungsmöglichkeiten nicht oder befürchten negative Auswirkungen auf ihren Aufenthaltstitel und bleiben zwischen den Systemen der Beratung, Unterstützung und Versorgung von Menschen mit Behinderung einerseits und Menschen mit Migrations- beziehungsweise Fluchterfahrung andererseits "unsichtbar".3
Insgesamt sehen über die Hälfte der Dienste neue Herausforderungen in der Arbeit mit geflüchteten Personen mit Behinderung. Insbesondere die Behindertenhilfe gibt an, vor Herausforderungen zu stehen (77,9 Prozent). Etwa 72 Prozent der Berater(innen) beklagen ein fehlendes Wissen zum Leistungsanspruch für geflüchtete Menschen mit Behinderung sowie 66 Prozent die restriktive Gesetzeslage, welche die Gesundheitsleistungen für Bezieher(innen) von Leistungen nach dem AsylbLG deutlich einschränkt. Zudem werden Sprachbarrieren als weitere Herausforderung genannt, da die wenigsten Dienste auf professionell geschulte Dolmetscher(innen) und Finanzierungsmöglichkeiten für Sprachmittlung zurückgreifen können.
Nur zehn Prozent der befragten Dienste verfügen über ein spezifisches Angebot für geflüchtete Personen mit Behinderung. Etwa 23 Prozent der Dienste versuchen mittels unterschiedlicher Methoden, wie etwa Flyern oder Internetangeboten, die Zielgruppe direkt anzusprechen. Dies verdeutlicht, dass geflüchtete Menschen mit Behinderung nach wie vor nicht als eigene Zielgruppe adressiert werden.
Damit die Zielgruppe besser erreicht werden kann, muss sichergestellt sein, dass Menschen, die nach Deutschland geflohen sind und noch nicht lange hier leben, bei Bedarf auf spezialisierte Angebote zugreifen können, die einen flexiblen Umgang mit Vielfalt kompetent beherrschen. Alter, Geschlecht, Migration und soziale Lage müssen berücksichtigt werden. Informationsmaterial muss zielgruppenspezifisch angepasst werden, denn der Großteil ist bisher nur in deutscher Sprache vorhanden und schwer zu finden. Neben der Präsenz im Alltag gilt es, das Thema Flucht und Behinderung auf den Websites der Beratungsdienste in verschiedenen Sprachen barrierefrei anzubieten.
Betroffene müssen in die Hilfestrukturen eingebunden werden
Ferner sollte die Behindertenhilfe mehr in die aufsuchende Arbeit miteinbezogen werden und direkt in den Erstaufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften auf ihre Angebote aufmerksam machen. Eine mögliche besondere Schutzbedürftigkeit geflüchteter Menschen sollte durch ein Expert(inn)en-Team noch vor der Asylantragstellung festgestellt werden, damit diese in der Anhörung und im weiteren Asylverfahren berücksichtigt werden kann.
Die betroffenen Personen selbst sollten befragt werden
Auch müssen mehr geflüchtete Menschen mit Behinderung in die Hilfestrukturen eingebunden werden. Es braucht mehr Peerberater(innen) mit Fluchthintergrund und einer Behinderung. In anderen Bereichen sollten weitere Stellen für Sonderbeauftrage für besonders schutzbedürftige Gruppen geschaffen werden, die sich im jeweiligen Bereich gut auskennen. Beispielsweise gibt es im Bundesministerium für Migration und Flüchtlinge (BAMF) speziell geschulte Entscheider(inne)n, die für Anhörungsverfahren bei besonders schutzbedürftigen Gruppen eingesetzt werden, wie etwa für unbegleitete Minderjährige. Sonderbeauftragte für Menschen mit Behinderung fehlen jedoch, da laut dem BAMF die Berücksichtigung von Behinderungen von Schutzsuchenden allen Mitarbeiter(inne)n des BAMFs obliegt.4
Es braucht mehr Zusammenarbeit
Um geflüchtete Menschen auch in behinderungsspezifischen Fragen unterstützen zu können, scheinen eine gezielte Weiterleitung sowie das Hinzuziehen von anderen Fachstellen mit spezialisierten Kenntnissen ein guter Weg. Dafür benötigt es eine gute Zusammenarbeit und Abstimmung zwischen den verschiedenen Akteuren. Erste lokale Netzwerke an der Schnittstelle Flucht und Behinderung in Deutschland gibt es beispielsweise in Frankfurt, Köln, Berlin, Hamburg und München. Dort wurden gute Erfahrungen gesammelt. Auch in der Umfrage zeigte sich, dass der größte Teil der Beratungsstellen bei Bedarf die ratsuchenden Personen an einen anderen Dienst weiterleitet. Dennoch findet kein reger Austausch zwischen den verschiedenen Unterstützungssystemen statt.
Trotz der langsamen Öffnung für das Thema kommen geflüchtete Menschen mit Behinderung in Deutschland bisher kaum zu Wort und werden in der Öffentlichkeit nicht gehört. Auch diese Umfrage spricht "zwar parteilich und solidarisch, [jedoch] nicht mit sondern über die Betroffenen".5 Für weitere Untersuchungen sollten deshalb auch die betroffenen Personen selbst befragt werden, die nicht nur in der Beratung "unsichtbar" bleiben, sondern auch in der öffentlichen Debatte selten zu Wort kommen. Nur so können individuelle Bedarfslagen und Einstellungen erhoben und damit auch nachhaltig die Beratungsstrukturen verbessert werden.6
Anmerkungen
1. Vgl. Gag, M.; Weiser, B.: Nicht weniger, sondern mehr Teilhabe-Zugang. In: neue caritas Heft 11/2019, S. 28 ff.
2. Schwalgin, S.; Wank, R.: Stellungnahme zum Thema Flüchtlinge mit Behinderung für das Deutsche Institut für Menschenrechte von Handicap International, 2017. https://www.netzwerk-iq.de/fileadmin/Redaktion/Downloads/Fachstelle_Einwanderung/TT8/Fachstelle_Einwanderung_8.Thementage_Stellungnahme_DIMR_Handicap_International_2017.pdf Abgerufen am 22.11.2019.
3. Köbsell, S.: Disabled asylum seekers?…They don’t really exist. In: Westphal, M.; Wansing, G. (Hrsg.): Migration, Flucht und Behinderung. Herausforderungen für Politik, Bildung und psychosoziale Dienste. Springer VS, 2019, S. 63-80.
4. Deutscher Bundestag: Drucksache 19/9419 19. Wahlperiode 15.4.2019. Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Ulla Jelpke, Sören Pellmann, Dr. André Hahn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. - Drucksache 19/8745. http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/094/1909419.pdf Abgerufen am 22.11.2019.
5. Köbsell, S.: A.a.O., S. 73.
6. Mehr dazu auch im Bericht zur Umfrage und einen Filmbeitrag unter: www.caritas.de/fuerprofis/fachthemen/gesundheit/gefluechtete-mit-behinderung
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