„Es wäre gut, wir bräuchten keine Tafelläden mehr“
Es sind über 20 Jahre seit der Gründung der ersten Tafel in Deutschland vergangen. Heute versorgen mehr als 900 Tafeln einkommensarme Menschen mit Lebensmitteln, die sonst weggeworfen würden. Ein sehr großer Teil der Tafeln befindet sich in kirchlicher Trägerschaft. Der Caritasverband der Diözese Rottenburg-Stuttgart betreibt acht Tafelläden in eigener Trägerschaft und viele weitere zusammen mit Kirchengemeinden oder anderen Wohlfahrtsverbänden.
Trotz der langen Zeit und trotz der Tatsache, dass viele Caritasverbände bundesweit an vielen Orten Träger von Tafelläden sind, reißt die Diskussion über die Notwendigkeit, den Nutzen und die Kritik an der Tafelarbeit auch innerhalb der Caritas nicht ab. Im Gegenteil: Im vergangenen Jahr hat sie anlässlich des 20-jährigen Bestehens unter anderem durch öffentlichkeitswirksame Aktionen des "Kritischen Aktionsbündnis 20 Jahre Tafeln" eher noch zugenommen.
Drei Grundfunktionen als Maßstab für Caritas-Handeln
Mit der üblichen Diskussion um das Pro und Contra der Tafelarbeit kommen wir als Caritas allerdings nicht weiter. Dies hat sich vielfach in der Vergangenheit gezeigt. Daher sollten wir uns bei der Suche nach geeigneten Kriterien zur Beurteilung dieses spezifischen Hilfeangebots auf unseren ganz eigenen Maßstab zurückbesinnen, der auf biblischer Überzeugung und der daraus abgeleiteten Katholischen Soziallehre gründet. Dieser Maßstab sind die drei Grundfunktionen des Caritas-Handelns - "Stiftung von Solidarität", "Anwaltschaftliches Handeln" und "Soziale Dienstleistung" -, die im Leitbild des Deutschen Caritasverbandes beschrieben sind. Sie haben sowohl einen jeweils eigenen Charakter, sind aber auch stark miteinander verwoben. Sie sind alle gleich wichtig und gewichtig. Keine Funktion ist bedeutsamer als die andere und keine darf auf Kosten einer anderen vernachlässigt werden. Daraus ergibt sich ein herausforderndes Spannungsfeld. Wir könnten den Versuch unternehmen, die Arbeit in den Caritas-Tafelläden an diesem Maßstab zu messen und sie an ihm orientiert weiterzuentwickeln.
Was bedeutet dieser Ansatz für die konkrete Tafelarbeit?
Eine solidaritätsstiftende Tafelarbeit orientiert sich am Menschen und seiner Persönlichkeit und fördert Beziehungen und Zuwendungen zwischen Mitarbeiter(inne)n und Nutzer(inne)n, über die trennende Ladentheke hinweg.1 Sie wird hauptsächlich durch bürgerschaftliches Engagement getragen und kann so Lernfelder für gesellschaftliche Verantwortung eröffnen.2 Die Ehrenamtlichen sind Bürger(innen) im Sozialraum und Multiplikator(inn)en in ihrem privaten Umfeld. Sie können glaubwürdig tätig werden. Dafür müssen sie allerdings gut ausgewählt und entsprechend geschult werden. Man muss beachten: Nicht jeder oder jede Ehrenamtliche ist für die Tafelarbeit geeignet. Darüber hinaus benötigen Ehrenamtliche für diese gesellschaftlich verantwortliche Aufgabe eine geistliche Begleitung, regelmäßige sozialpolitische Informationsveranstaltungen und fachliche Supervision3 Tafelarbeit im Sinne dieser Grundfunktion will Teilhabe-, Befähigungs- und Bildungsgerechtigkeit von benachteiligten Menschen in der Gesellschaft anstreben.4
"Anwaltschaftliches Handeln" ist nicht nur Aufgabe von Verbandsleitungen, sondern Aufgabe aller haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiter(innen) in der Caritas.5 Mitarbeiter(innen) einer anwaltschaftlichen Tafelarbeit können die individuelle Situation der Tafelnutzer(innen) erkennen, fragen diese nach dem persönlichen Befinden6 und leiten daraus das passende weitergehende Angebot an Beratung und Unterstützung zu sozialrechtlichen Fragen ab.7 Anwaltschaftliche Tafelarbeit will außerdem auf die Rechte, die Interessen und die prekäre Situation der Nutzer(innen) in der Öffentlichkeit aufmerksam machen. Sie fordert verbesserte Rahmenbedingungen in der Kommunalpolitik und Kommunalverwaltung ein - wenn möglich sogar darüber hinaus.8
Mit der Grundfunktion "Soziale Dienstleistung" ist nicht die dienstleistende Aufgabe der Tafel an sich gemeint, sondern die Bedingungen, unter denen diese Aufgabe erfüllt werden soll. Tafelarbeit im Sinne sozialer Dienstleistung ist stark an den Tafelnutzer(inne)n und deren Zufriedenheit orientiert9, will ihnen gegenüber offen und lernbereit sein.10 Durch gegenseitigen Respekt der Mitarbeiter(innen) und Nutzer(innen) wird die Menschenwürde geachtet.11 Tafelarbeit kann präventiv wirken, wenn sie mit anderen Angeboten innerhalb und außerhalb der Caritas sozialräumlich vernetzt ist.12 Im Sinne der Nutzer(innen) ist es wichtig, regelmäßig die Wirkung, den Nutzen und die Notwendigkeit des eigenen Tafelangebots kritisch zu überprüfen.13
Wie gelingt eine umfassende Armutsbekämpfung?
Kein Zweifel: Mit Tafeln allein lässt sich Armut nicht bekämpfen. Es wäre gut, wir bräuchten keine Tafelläden mehr. Weil aber die Caritas ihrer Verantwortung gegenüber notleidenden Menschen gerecht werden will, ist es gut und notlindernd, wenn sie Tafelläden betreibt. Nur wenn dabei die Grundfunktionen möglichst weitgehend umgesetzt werden und in einem ausgeglichenen Verhältnis zueinander stehen, kann diese Hilfeleistung nachhaltig sein, ganzheitlich wirken und hilfesuchende Menschen dabei unterstützen, dass sie irgendwann wieder ihr Leben eigenständig meistern können. Die drei Grundfunktionen sollten Maßstab bei jeglicher Hilfeleistung sein, auch außerhalb der Tafelläden.
Der Caritasverband der Diözese Rottenburg-Stuttgart hat einer verbandsinternen Umfrage zufolge das beschriebene Ziel in seiner Tafelarbeit noch nicht erreicht. Als Zwischenziel hat man sich verbandsintern für den Moment auf einen spannungsreichen Dreiklang geeinigt:
1. Es gibt in diesem Land bittere Not! Im Jahr 2012 waren 14,7 Prozent der Baden-Württemberger laut amtlicher Statistik armutsgefährdet. Der Grund dafür sind politische Entscheidungen, wie etwa der zu niedrig angesetzte Regelbedarf in der Grundsicherung. Daher gibt es im Moment keinen anderen verantwortungsvollen Weg, als die Tafelläden zu betreiben.
2. "Not sehen und handeln" ist die Basis der Tafelarbeit! Tafelläden ermöglichen armen Menschen, ihre Existenz abzusichern. Tafelarbeit muss aber mit weitergehender Hilfe und der Möglichkeit zur Begegnung verbunden werden, damit sie von individueller Barmherzigkeit zu gesellschaftlicher Gerechtigkeit führt.
3. Wir finden uns nicht damit ab, dass es Tafeln gibt! Mit unserer Arbeit als Caritas wollen wir Armut bekämpfen und nicht nur lindern. Wir fördern daher die kritische und sozialpolitische Diskussion und beziehen die haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiter(innen) dabei mit ein.
In diesem Jahr will der Deutsche Caritasverband gemeinsam mit den Diözesanverbänden die bestehenden Eckpunkte zur Arbeit in existenzunterstützenden Hilfen weiterentwickeln und dabei überlegen, wie eine caritasspezifische Tafelarbeit aussehen könnte. Hierbei könnte es hilfreich sein, den beschriebenen Maßstab der Caritas-Grundfunktionen stärker zu beachten.
Anmerkungen
1. Vgl. Krockauer, Rainer: Tafelangebote aus caritastheologischer Perspektive. Wiesbaden, 2010, S.165, 173. In: Selke, Stefan (Hrsg.): Kritik der Tafeln in Deutschland.
2. Vgl. DCV: Leitlinien für unternehmerisches Handeln der Caritas. In: neue caritas Heft 20/2008, S. 34, 36.
3. Vgl. www.caritas.de/cms/contents/
caritasde/medien/01122008eckpunkteleb2/
241114_081201_eckpunkte_lebensmittellaeden.pdf?d=a&f=pdf, S. 3; vgl. Hilpert, Konrad: Prinzip Anwaltschaftlichkeit. In: Lehner, Markus; Manderscheid, Michael (Hrsg.): Anwaltschaft und Dienstleistung. Freiburg, 2001, S. 93.
4. Vgl. DCV: Bedingungen für Solidarität. In: neue caritas Heft 20/2011, S. 36; vgl. Segbers, Franz: Pflaster auf eine Wunde, die zu groß ist. In: Eurich, Johannes u.a. (Hrsg.): Kirchen aktiv gegen Armut und Ausgrenzung. Stuttgart, 2011, S. 485.
5. Vgl. DCV: Positionspapier, 2000. S. 202. In: Lehner, Markus; Manderscheid, Michael (Hrsg.), 2001.
6. Vgl. DCV, ebd, S. 197.
7. Vgl. Hilpert, Konrad: Prinzip Anwaltschaftlichkeit. A.a.O., S. 86.
8. Vgl. Puschmann, Hellmut: Caritas als sozialer Dienstleister und Anwalt der Benachteiligten. Freiburg, 1999. In: Lehner; Manderscheid (Hrsg.), Freiburg, 2001, S.183.
9. Vgl. DCV, 2000, S. 205.
10. Vgl. John: Anwaltschaftlichkeit in der Rolle des sozialen Dienstleisters. In: Lehner, Markus; Manderscheid, Michael (Hrsg.),Freiburg, 2001, S.120.
11. Vgl. http://www.caritas.de/cms/contents/ caritasde/medien/dokumente/dcv-zentrale/leitbilddesdeutschen/leitbild_deutscher_caritasverband.pdf?d=a&f=pdf, S. 15.
12. Vgl. Krockauer, Rainer: A.a.O., S.169; vgl. DCV, 2008, S. 33, 36, 38.
13. Vgl. DCV: Positionspapier, 2000, S. 198.
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