Vernetzt im Quartier: Kirche findet Stadt
Muss Kirche denn die Stadt finden? Gehört sie etwa nicht seit Jahrhunderten zum städtischen Erscheinungsbild und zur städtischen Gesellschaft? Fast in jedem Dorf, in jeder Stadt überragt ein Kirchturm die Häuserzeilen - oft in Steinwurfnähe zum Rathaus.
Genau hier setzt das ökumenische Kooperationsprojekt "Kirche findet Stadt" (KfS) an. Es knüpft bei dieser Tradition der Kirchen an und bringt sie mit zwei aktuellen Entwicklungssträngen in Verbindung: einerseits mit den Antworten, die auf die sozioökonomischen, gesellschaftlichen und kulturellen Herausforderungen, vor denen die Städte und Dörfer stehen, gefunden werden müssen. Und andererseits mit den strukturellen Veränderungen, die die Kirchen seit einiger Zeit massiv erfasst haben.
Manche mögen in diesen Entwicklungen lediglich die Zunahme an Schwierigkeiten und Prozesse von Schrumpfung und Rückzug erkennen. KfS setzt hingegen auf die Potenziale und Chancen, die hierin liegen: In erster Linie ist Kirche - hier immer verstanden als Kirche(n) beider Konfessionen und als ein System mit vielen Dimensionen - zunächst einmal eine Gemeinschaft von Gläubigen und Mitgliedern. Sie ist eine Glaubensgemeinschaft und Gemeinde innerhalb der Bürgergemeinde. Kirche als Institution, als Pfarrgemeinde, als Trägerin der freien Wohlfahrtspflege und von Bildungsstätten und mit ihren vielen Organisationen verfügt über Gebäude, Strukturen und personelle Ressourcen. Dazu kommt ein großes Potenzial von aktivierbaren Menschen.
Neben der Glaubensverkündigung und -praxis hat Kirche auch die Funktion der "diakonia", des Dienstes am Menschen. Hier hat die verbandliche Caritas ihre Wurzeln. Mittlerweile hat sie sich jedoch zu einem hoch differenzierten System von vorwiegend beruflich organisierter (gemein)wohltätiger Arbeit entwickelt. Dadurch haben sich die einzelnen Funktionen von Kirche teilweise auch auseinanderbewegt - Verkündigung, Pastoral und der beruflich getragene Teil der Caritasarbeit. Zwar stehen auf beiden Seiten die Brückenköpfe noch: die Pfarrgemeinden mit ihrer Spannbreite an beruflichen und nicht beruflichen Strukturen und Akteuren auf der einen Seite - und auf der anderen Seite mit einem ähnlichen Facettenreichtum die verbandliche Caritas mit ihren Einrichtungen, Diensten, Fachorganisationen und ihren Mitarbeitenden.
Engagierte schlagen die Brücke
In der katholischen Kirche - parallele Entwicklungen finden sich in der evangelischen Kirche und ihrer verbandlichen Diakonie - sind im vergangenen Jahrzehnt viele Anstrengungen unternommen worden, diese teilweise brüchig gewordenen Brücken wieder begehbar zu machen und die Synergien, die aus einer intensiveren Zusammenarbeit erwachsen können, neu zu erschließen. Oft sind die Brückensegmente, über die man sich von beiden Seiten aufeinanderzubewegen kann, die Menschen: Engagierte, freiwillig und unbezahlt, sei es in den Pfarrgemeinden, sei es in den Diensten und Einrichtungen der Caritas. Vielerorts sind es auch die Verantwortlichen in den Gemeindeleitungen einerseits und den Verbandsleitungen andererseits, die die verschiedenen Funktionen ihrer Kirche beziehungsweise ihres Verbandes alle gleichermaßen ernst nehmen: Verkündigung, Gemeinschaft, Dienstleistung, Anwaltschaft und Solidaritätsstiftung.
In dieser Konsequenz verstehen sie ihre Gemeinde, ihren Verband, ihren Dienst, ihre Einrichtung als einen Teil des örtlichen Gemeinwesens -, also des jeweiligen Dorfes, der Nachbarschaft, des Stadtteils, der Stadt. Denn mit ihren Einrichtungen, ihren Institutionen, mit ihrer Arbeit gestalten sie den städtischen Raum und die städtische Gesellschaft mit. Sie sind vor Ort, in den Stadtteilen und Kommunen eine Stimme, sie sind Akteure im Gemeinwesen, Teil der lokalen Zivilgesellschaft. Sie sind Dienstleister und darüber auch Unternehmer und Arbeitgeber in der Sozialwirtschaft und oft auch Immobilieneigner und Bauherr.
Lokale Antworten auf globale Herausforderungen
Als Träger von Diensten und Einrichtungen der freien Wohlfahrtspflege haben die kirchlichen Verbände erkannt, dass die Anforderungen an sie und ihre Arbeit komplexer geworden sind. Globalisierung, Migration, demografischer und Strukturwandel, die Pluralisierung von Wertvorstellungen und Lebensformen, das Aufgehen der sozioökonomischen Schere und gesellschaftliche Segregationsprozesse sind globalen und nationalen Entwicklungen geschuldet. Ihre Folgen werden aber auf lokaler Ebene spürbar, und den damit verbundenen Problemen muss vor allem auch vor Ort begegnet werden.
Zugleich haben sich die ökonomischen Bedingungen der sozialen und gesundheitlichen Versorgung und damit die finanziellen Spielräume der Arbeit verändert, oft verengt. Wer für welche Risiken wie viel (Selbst-)Verantwortung zu übernehmen hat, diese Frage wurde in einem sich verändernden Sozialstaat neu gestellt. Die Antworten darauf sind Indiz für eine Neujustierung der Verantwortlichkeiten zwischen Staat, Bürgergesellschaft und jedem/jeder Einzelnen.
Den Einzelnen als Teil des Ganzen im Blick
Diese Veränderungen der Rahmenbedingungen und die Zunahme von komplexen Problemlagen haben einer fachlich-konzeptionellen Weiterentwicklung der Arbeit der freien Wohlfahrtspflege Vorschub geleistet. Mit dem Fachkonzept "Sozialraumorientierung" wird einerseits der Raum - der "Sozialraum", der Stadtteil, das Dorf - als Bezugs- und Handlungsrahmen für die soziale Arbeit in den Blick genommen. Zugleich gelten Handlungsprinzipien, die den Einzelfall in seiner Komplexität wahrzunehmen gestatten und ihn nicht auf eine "Problemlage" oder "Gruppe" - wie etwa Jugendlicher, Migrantin oder Behinderter - zu reduzieren. Der einzelne Mensch wird stets im Zusammenhang seines Lebensumfeldes und der seine Entfaltungsmöglichkeiten prägenden Faktoren gesehen.
Diesem Ansatz nach sind ein zielgruppenübergreifender Blick, eine bereichsübergreifende Kooperation und - ganz wesentlich - eine Perspektive gefragt, die den Willen, die Ressourcen und Potenziale der im Sozialraum Lebenden zum Ausgangspunkt nehmen. Es herrscht ein breiter Konsens, dass das Wohn- und Lebensumfeld der Menschen der Ort ist, an dem für die Umsetzung gesellschaftspolitischer Ziele die Weichen gestellt werden: beispielsweise für die Integration Zugewanderter, für Befähigung, für gleichberechtigte Teilhabe und Inklusion.
Sektorenübergreifende Zusammenarbeit
Dieser fachlich-konzeptionelle Ansatz ist nicht nur von der Sozialen Arbeit her gedacht worden, sondern er hat mit der Strategie integrierter Stadtentwicklung ein Pendant in den Disziplinen, die "Stadt" planerisch und baulich zu gestalten. Dies entspricht der Erkenntnis, dass Bauen nur so erfolgreich sein kann, wie es die Menschen miteinbezieht. Das heißt, dass verschiedene Sektoren - Stadt- und Sozialplanung, Wohlfahrtspflege, der Bildungssektor - möglichst unter Beteiligung der Bürger(innen) und der zivilgesellschaftlichen Organisationen gemeinsam die Entwicklungsperspektiven für Stadtteile und Dörfer finden. Ein wesentliches Element sind dabei Problemlösungsstrategien für benachteiligte Quartiere.
An diesen Schnittstellen zwischen Stadtentwicklungspolitik, der Arbeit der kirchlichen Wohlfahrtsverbände und der Rolle von Pfarrgemeinden in den Stadtteilen und Dörfern setzt die Strategie von KfS an: Sie geht von den Potenzialen und Ressourcen aus, die Kirche im oben ausgeführten Sinne als zivilgesellschaftliche Akteurin, Stimme, Mitgestalterin, Unterstützerin der Menschen vor Ort und zugleich als Partnerin und kritisches Gegenüber der Kommune und anderer staatlicher Organe in der Quartiersentwicklung hat. In beiden Kirchen und ihren Wohlfahrtsverbänden wird dies schon seit einiger Zeit diskutiert und vorangetrieben: Im evangelischen Bereich unter dem Begriff "Gemeinwesendiakonie" und im katholischen als "Sozialraumorientierung der Caritasarbeit" bildet der sozialräumliche Ansatz eine Strategie für die fachlich-konzeptionelle und fachpolitische Weiterentwicklung der eigenen Arbeit und Organisation.1
KfS lädt zur Nachahmung guter Beispiele ein
So war es konsequent, ein ökumenisches Projekt zu entwickeln, das beispielhafte Praxis vor Ort identifiziert und die verschiedenen Standorte miteinander in Austausch bringt. Die katholischen und evangelischen Akademien organisieren diesen Diskurs - auch mit der Wissenschaft. Zum Projektabschluss im März 2013 sollen Handlungsempfehlungen vorliegen.
Seit dem Start von KfS im Januar 2011 wurden Meilensteine gesetzt: Im Frühsommer 2011 reichten über 120 Standorte eine Interessenbekundung zur Projektbeteiligung ein. Daraus haben das Steuerungsgremium und der Expertenbeirat anhand eines differenzierten Kriterienkatalogs 36 Referenzstandorte als Leuchttürme ausgewählt. Zwölf dieser Standorte übernehmen in den drei Großregionen Nord, Mitte und Süd für die anderen Standorte und alle weiteren Projektinteressierten eine Vernetzungsfunktion. Sie haben sich im Dezember 2011 bei einer Veranstaltung mit Bundesminister Peter Ramsauer und den beiden Verbandspräsidenten von Caritas und Diakonie, Peter Neher und Johannes Stockmeier, im Bundesministerium für Bau, Verkehr und Stadtentwicklung präsentiert.
Dass es hier keineswegs um Symbolpolitik geht, wird deutlich, wenn man auf die Aktivitäten an den Standorten und die Kooperationen und Netzwerke schaut, in die die verbandlichen Träger vor Ort eingebunden sind. Dies macht Mut, dass eine strategische Partnerschaft unterschiedlicher Akteure und eine Stärkung der innerkirchlichen Zusammenarbeit im Sinne der Menschen vor Ort auch nachhaltig tragen werden.
Anmerkung
1. Vgl. www.gemeinwesendiakonie.de sowie das Diskussionspapier "Sozialraumorientierung in der Caritasarbeit". In: neue caritas Heft 8/2011, S. 36-43.