Menschen, die fliehen, wird es immer geben
Das neue EU-Positionspapier zum Thema Grenzkontrollen mit dem Namen "Border Package" soll die Migrationsbewegungen an den Grenzen dokumentieren. Das Papier vom 24. Februar 2008, welches "Frontex", der Europäischen Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen, eine stärkere Rolle verspricht und neue Technologie-Visionen einer totalen Bewegungskontrolle beinhaltet, lässt sich aber nicht nur als Beweis der Stärke des EU-Grenzregimes lesen. Es ist auch ein Beweis dafür, wie groß die Kräfte der Bewegungen der Migration sind. So scheint sich Migration selbst im zehnten Jahr nach dem EU-Vertrag von Amsterdam 19981 trotz aller Verschärfungen und trotz der Milliarden Euro, die mittlerweile in die Grenzsicherung gesteckt wurden, nicht wirklich aufhalten zu lassen. Das wissen eigentlich auch die EU-Strategen, weshalb auf EU-Ebene schon längst auch über andere Programmatiken nachgedacht wird. Was die Vorverlagerung und Militarisierung der Grenzkontrollen, wie sie das Positionspapier beinhaltet, jedoch auf jeden Fall mit sich bringt, sind unendliches Leid, Schrecken, Ausbeutung und Tod. Der französische Philosoph Etienne Balibar spricht in diesem Zusammenhang vom Krieg an den Grenzen. Dieser unerklärte Krieg findet mittlerweile nicht mehr nur an den konkreten Außengrenzen statt. Seit einigen Jahren sind mehr und mehr die Migrationsrouten in den Fokus der Kontrolle gerückt. Beispielsweise kreuzen die Schnellboote von "Frontex" vor der senegalesischen Küste. Europol will mit Hilfe von UN-Organisationen für 30 Millionen Euro Migrationskontrollstellen in ganz Afrika einrichten. Zu welchen alltäglichen Auswüchsen und zu welcher Verrohung diese Verpolizeilichung und Militarisierung der Grenzkontrollen führt, hat Pro Asyl erst jüngst wieder in einem Bericht zusammen mit griechischen Menschenrechtsorganisationen festgestellt.2
Auch uns, eine interdisziplinäre Forscher(innen)gruppe, haben die Ereignisse entlang der EU-Außengrenze zwischen der Türkei und Griechenland schon vor gut vier Jahren zu einem Forschungsprojekt veranlasst, das wir "Transit Migration" nannten (www.transitmigration.org). Es war Teil des Ausstellungsprojekts der Bundeskulturstiftung im Jahr 2004 in Köln mit dem Titel "Projekte der Migration". Der Titel war Programm: So ging es in unseren Recherchen zum europäischen Grenzregime in der Tat prioritär um die Projekte und Strategien der Migration, die wir in den Metropolen Südosteuropas in großer Zahl antreffen konnten. Doch bald mussten wir feststellen, dass wir die Brüsseler Grenzkontrollpolitik nur dann verstehen konnten, wenn wir uns deren Institutionen vor Ort anschauten. Wir mussten die Akteure in konkreten Situationen als Praktiker wahrnehmen, die tagein, tagaus mehr oder weniger mit den Kräften der Migration rangen und dabei höchst willkürlich, teils brutal, teils aber auch mit großer Empathie vorgingen.
Organisation des Transits
Auf der griechischen Insel Lesbos, die nahe der türkischen Küste liegt, hat die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl in den Jahren 2006/2007 in Auffanglagern brutale Menschrechtsverletzungen festgestellt. Was dabei oft übersehen wird: Die meisten Migrant(inn)en, die es in diese Lager schaffen und nicht sofort zurückgeschoben werden, werden nach drei Monaten aufgefordert, das Land innerhalb von zwei Wochen "freiwillig" zu verlassen. Dabei ist der Nebensatz interessant, der auf dem "Freilassungsdokument" steht, und zwar: "in eine Richtung Ihrer Wahl". Dies bedeutet, dass die Migrant(inn)en sich in eine der nächsten griechischen Metropolen aufmachen, um von dort aus weiterzuwandern. Der eine oder die andere wird dort aber auch möglicherweise ein kleines Auskommen auf dem griechischen informellen Arbeitsmarkt finden und bleiben. So überlegen sich auch die Migrant(inn)en selbst, ob es für sie vor dem Hintergrund der Dublin-Konvention3 vernünftig ist, bereits in Griechenland einen Asylantrag zu stellen.
Gegenüber von Lesbos liegt das kleine türkische Fischerdorf und Feriendomizil Ayvalik. Als wir im April 2004 in Ayvalik ankommen, interessiert uns aber weniger das touristische Treiben, sondern die irreguläre Migration und das dazugehörige Transportwesen - hier unter den Begriffen Schleuser und Schlepper bekannt. Davon konnten die Gastgeber auch aus nächster Nähe erzählen: "Ja, erst letzte Woche hat mir unsere Putzfrau wieder von einem Schiff erzählt, welches mit 23 Leuten ausfuhr und in der Nähe kenterte. Nur drei haben überlebt. Die Küstenwache macht sich keine Mühe mehr, die gesunkenen oder gestrandeten Schiffe zu bergen, es sind so viele", meinte der Gastgeber.
Illegales Transportgeschäft ist als Schafshandel bekannt
Wir konnten auch einen Mann treffen, der den Schafshandel ("Sheep Trade") - wie das illegale Transportgeschäft entlang der Küste genannt wird - aus eigener Erfahrung kennt: "Wir hier an der Küste sind da reingerutscht", sagt er. "Anfang der 90er Jahre fing alles an. Zunächst sehr klein und geheim, mittlerweile ist es ein großer Sektor. Am Anfang kamen sie alleine mit öffentlichen Verkehrsmitteln, dann wurden sie mit Kleinbussen gebracht, und schließlich kamen sie mit drei, vier großen Bussen, bis die Polizei es merkte. Heute werden sie in Lastwagen versteckt." Daher auch: "Sheep Trade" - sie werden zusammengepfercht wie die Schafe.
Er selbst wurde in dieses "Geschäft" involviert, als ihn eines Tages zwei junge Männer in seinem Hotel fragten, ob er ihnen "helfen" könne. Sie berichteten ihm, dass ihr Boot, mit welchem sie aus Istanbul hier heruntergefahren seien, von der Polizei beschlagnahmt worden sei. Doch sie hätten keine Zeit, da eine Gruppe von Migrant(inn)en in dem nahe gelegenen Wald auf ihre Weiterfahrt wartete. Sie baten ihn, etwas zu unternehmen, um ihr Boot freizubekommen. Er habe ihnen nicht geglaubt und wollte sich selbst überzeugen. Als er von den Jungs in den Wald geführt wurde, war er schockiert. Denn dort - es war Dezember und sehr kalt und regnerisch - warteten Frauen und Kinder seit Tagen schon ohne Feuer und Essen auf ihre Überfahrt. Aus Angst, aufzufallen, trauten sie sich nicht, ein Feuer anzumachen. Daraufhin beschloss er, aktiv zu werden und, falls nötig, ein Boot zu kaufen - natürlich nicht, ohne mit den beiden jungen Männern und ihrer Gruppe die Rückzahlung auszumachen. In der Tat stachen die zwei mit der Gruppe wenige Tage später in See, doch sie wurden kurz vor Lesbos festgenommen. Die zwei Jungs hielten dicht, doch sein Geld sah er nicht wieder. Erst jüngst hatte er einer anderen Gruppe aus Istanbul geholfen, 800 Migrant(inn)en auf einen Überseetanker zu bringen.
Andere Fischer erzählten uns ähnliche Schlepperbiografien. Die Fischer bilden das Schlusslicht eines großen dezentral organisierten Netzwerks, in dem auch mafiös organisierte Akteure arbeiten. Diese Strukturen würden, so die Fischer, gerade angesichts der Verschärfungen immer dominanter. Schlepper wie die Fischer verlieren dabei das Wettrennen um Technik und Geschwindigkeit. Allerdings, so die einhellige Meinung, werde es immer Menschen geben, die fliehen werden - und zugleich auch Menschen, die helfen.
Auch ein Offizier der türkischen Küstenwache vertritt im Gespräch mit uns die Auffassung, dass die Grenze nicht zu kontrollieren sei. Selbst dann, wenn sie mit EU-Geldern technisch ihre Grenzkontrollen aufrüsten könnten, würde dies eher den Wettlauf mit den Schleppern forcieren, als dass es dazu führen würde, die Schleusungen gänzlich zu unterbinden.
Es schien uns so, als ob hinter dem touristischen fröhlichen Treiben in der Ägäis ein zunehmendes Trauma den Küstenstreifen beherrschte. Die negativen bis tödlichen Folgen des illegalisierten Grenzübertritts begleiteten uns auf Schritt und Tritt: in Form von unbekannten Gräbern, angespülten Leichen, vermissten Menschen, liegengebliebenem Strandgut oder konfiszierten morschen Schiffen.
So trafen wir in Bodrum auch zufällig Mike, einen schon viele Jahre in Istanbul lebenden Migranten, der eigentlich nach England wollte. Wir verabredeten, uns in Istanbul wiederzutreffen.
Istanbul: vom Transit zum Wartesaal
Wir hatten einen Treffpunkt in der belebten Fußgängerzone Istiklal ausgemacht, doch Mike kam und kam nicht. Später verstanden wir, dass er nicht in die Position des Wartenden kommen wollte - denn Warten bedeutet Stillstand und Unsicherheit. Nur im Gehen in der Menge schien er sich relativ sicher zu fühlen.
Wie viele andere Migrant(inn)en aus Subsahara-Afrika reiste er zunächst mit einem Freund in den Libanon. Sie wollten weiter nach Europa - irgendwie, mit gefälschten Pässen und 1500 Euro in der Tasche. Über Syrien kamen sie dann in die Türkei, eine beliebte Route aus Afrika. Drei Versuche, nach Europa weiterzureisen, scheiterten. Ihnen sei das Geld ausgegangen, und neues in Istanbul zusammenzusparen sei schwierig. Es reiche gerade für die hohe Miete und das Essen. So komme es, dass er immer noch hier sei.
Seit Mitte der 90er Jahre steigt nicht nur die Anzahl der Menschen aus dem Nahen Osten (vor allem Iran und Irak), die in die Türkei flüchten und die die Türkei trotz ihrer fehlenden staatlichen Asylpolitik zu einem De-facto-Asylland machen. Auch eine zunehmend große Zahl von Migrant(inn)en aus Afrika und Asien nutzen die Türkei als Transitland. Ihre Zahl schätzt der türkische Migrationsforscher Ahmed Icduygu auf etwa 200.000. Die geografische Lage, die laxen Visabestimmungen und Einreisekontrollen hätten die Türkei zu einem zentralen Transitpunkt nach Europa gemacht. Auch in den innerstädtischen Armutsquartieren, die in den vergangenen 20 Jahren mehr und mehr von der Binnenmigration übernommen worden sind, können die Migrant(inn)en problemlos untertauchen. Nicht nur sind mit ihrer Hände Arbeit ganz eigene Ökonomien entstanden, wie jene auf die GUS-Region ausgerichtete Textilbranche, wobei auch die russischen Einkäuferinnen zunächst als sogenannte Koffermigrantinnen kamen. Auch entstehen ganz eigene Hilfsnetzwerke und Ökonomien, die um das Asylsystem herum mit seinem Beweisdruck entstehen: In Kellern werden schon mal Foltervideos nachgestellt oder andere Zeitungsnachrichten inszeniert; andere bieten ihre Hilfe als postmoderne Geschichtenerzähler an und haben sich spezialisiert auf anerkannte Asyl-Biografien. Wieder andere fungieren als Briefeschreiber und -vorleser für die Verwandtenpost. Dabei haben uns zwei Sachverhalte sehr erstaunt: zum einen das ungeheure Wissen über aktuellste Entwicklungen der internationalen Migrationspolitik. Zum anderen jedoch auch, wie absolute Fehleinschätzungen und Gerüchte kolportiert werden und sich halten. Zubringer sind oft Verwandte, die es schon geschafft haben und ihre Brüder und Schwestern im Transit finanziell und ideell unterstützen oder auch ausbeuten.
So leben manche über Jahre im Transit in Istanbul, der angesichts der Verschärfungen der EU für immer mehr Migrant(inn)en zur Endstation wird. Auch wenn diverse politische Versuche bislang scheiterten, die irreguläre Migration in der Türkei zu kriminalisieren, klagen viele afrikanische Migrant(inn)en über einen offenen Rassismus: Sie fänden nur selten Arbeit, zahlten unglaublich hohe Mieten und müssten immer wieder die Wohnung wechseln, da die Gegenden, in denen sie wohnten, speziell von Razzien betroffen seien.
Luis, der ehemals mit einem Studienvisum aus Ghana ganz offiziell eingereist war, doch bald die Studiengebühren nicht mehr zahlen konnte und daher sein Visum nicht verlängert bekam, ist erst vor kurzem wieder aus der Haft entlassen worden. Wie viele andere, die einen gefälschten Pass haben und sich ein Flugticket nicht leisten können, hatte er sich auf den Weg an die ägäische Küste gemacht. Doch Luis hat die Küste gar nicht erreicht. Der Minibus, mit dem er aus Istanbul kam, wurde schon vorher abgefangen. Die Gruppe wurde in einer leerstehenden Schule inhaftiert. Mangels einer staatlichen Migrations- und Asylpolitik und damit einhergehender Infrastruktureinrichtungen in der Türkei nutzen die lokalen Vollzugsorgane auch Hotels oder leerstehende Fabrikgebäude als temporäre Haftanstalten. Für die Verpflegung und Versorgung der Inhaftierten müssen die lokalen Beamten sorgen. Das bedeutet, dass die Eingesperrten meist selbst dafür aufkommen müssen. Diejenigen, die über keine Netzwerke nach draußen verfügen, sind in diesem System die absoluten Verlierer.
Schwangerschaft schützt vor Haft
Luis wurde wieder freigelassen, da er mit der Schwangerschaft seiner Frau die Gemüter erweichen konnte. Andere, die aus benachbarten Ländern kommen, mussten jedoch mit ihrer Abschiebung rechnen. Dabei kann der türkische Menschenrechtsverein darlegen, dass Asylbegehren nicht berücksichtigt und die Frage des Herkunftslands nicht immer genaugenommen wird. So bilden die auf Druck der EU abgeschlossenen Rückübernahmeabkommen der Türkei mit ihren Nachbarländern wie Syrien aus dem Jahr 2001 eine gute Möglichkeit, Migrant(inn)en, egal woher sie kamen, dorthin über die Grenze zu schaffen. Im Gespräch mit uns dementiert Luis sofort, dass er verheiratet sei. In der Situation habe es sich nur für sie beide angeboten, als Ehepaar aufzutreten, da niemand eine schwangere Frau von ihrem Mann trenne. Doch muss Luis sich wieder überlegen, in welche der Schubladen der offiziellen Migrationspolitik er sich stecken lassen soll: ganz in Istanbul bleiben und ein mageres Überleben organisieren, wieder zurück nach Ghana gehen oder erneut einen Visumsantrag diesmal in Deutschland stellen? Oder Asyl beantragen? Oder irregulär versuchen, nach Deutschland zu kommen?
"Europa" findet dort draußen, fernab unserer Zentren, in diesen Grenzräumen statt, und zwar als täglicher lebensbedrohender Konflikt, als ein Ringen um Zivilität. Für uns bedeuten diese Erfahrungen, die Migrationsforschung vom Kopf auf die Füße zu stellen und aus dieser Perspektive neu zu schauen: auf Geschichte und Gegenwart der Ein- und Durchwanderung - und Fragen nach sozialen, ökonomischen, kulturellen und politischen Rechten jenseits des alten, an die Nation gekoppelten Staatsbürgerbegriffs ernster zu nehmen.
Anmerkungen
1. Mit dem Vertrag von Amsterdam wurde das bis dato multinationale Schengener Abkommen in die offizielle EU-Politik übernommen. Das Schengener Abkommen selbst steht für die Aufhebung der Grenzkontrollen innerhalb der EU und ihre Vorverlagerung an die sogenannten Außengrenzen. Ferner sieht das Schengener Abkommen eine weitgehende Harmonisierung der Visa-, Asyl- und Grenzkontrollpolitik vor.
2. Dokumentation: "The truth may be bitter, but it must be told". Pro Asyl, 29. Oktober 2007.
3. Dublin I und Dublin II sind EU-europäische Abkommen, die regeln, dass das erste europäische Land sozusagen für eine(n) Asylantragsteller(in) zuständig ist, auf dessen Boden er/sie seine/ihre Füße gesetzt hat.